Irgendwo ein Zipfel von Damasio Jetzt schau ich gerade seit langem mal wieder TV-Nachrichten. Auf zwei verschiedenen Sendern, einnem Privaten und einem Öffentlich-Rechtlichen … Erstaunlich, wie sich da alles wiederholt. Nicht nur die beiden viertelstündigen Sendungen. Auch ein spezieller Inhalt ist sowas von gar nicht „new“ an diesen News: Da gehen 10.000 auf die Straße, weil sie sich gegen Radikale zur Wehr setzen. Die Radikalen wollen getrennte Busse für Männer und Frauen, wollen Supermärkte, in denen Frauen nicht einkaufen dürfen, wollen Gehwege nur für Männer … in Jerusalem, im israelischen Teil. Die Radikalen nennen sich Orthodoxe. Klar – schon seit vielen Jahrzehnten weiß ich: Jede Weltanschauung hat dieses Radikale, Fundamentalistische in sich. Jede!Die vielen kleinen Frommen wollen es nicht wahr haben. Aber sie sind der Rückhalt der Radikalen, der Humus … Und da ich diese Meldungen mit Bildern von prügelnden Orthodoxen und Polizisten sehe, bleibt mir erst mal die Spucke weg. Dann denke ich, ich muss meie „Helden auf dem Abstellgleis“ wieder aus der Versenkung holen und auf den Spielplan setzen. Zumal ich gerade an Antonio Damasios „Selbst ist der Mensch“ herumkaue, der tatsächlich (mich) Erhellendes über die Besonderheit von Bewusstsein darlegt. Und während ich mal mögliches zusätzliches, aktualisiertes Material sondiere, stoße ich auf diesen Text vom Anfang des Jahres, der überschrieben war:
Weil die Birne brummt „Die Kahlköpfigen (beleibe keinen Glatzen) sitzen an der Theke und fabulieren über den Genuss (Verbrauch) von Fleisch, über die Folgen von Fastfood-Konsum (inklusive Diabetes), sie schwadronierten (Vergangenheitsform! Ich bin ja inzwischen schon wieder am PC) über den FC Bayern und warum er immer ausverkauft ist und weshalb ihn alle lieben, den FC Bayern, wenn er international spielt ... Und sie lenkten mich ab, die Kahlköpfigen, und ich musste mich immer wieder konzentrieren. Ich war nämlich nicht gekommen, weil ich die Kahlköpfigen belauschen wollte. Ich wollte noch was trinken, einen Wein. Und dabei lesen wollte ich. 'Die ganze Wahrheit über Stuttgart 21' von Wolf Reiser (Foto). Der Autor hatte mir das Exemplar geschickt, mit Widmung. In absehbarer Zeit will er mich besuchen. Oh je! Da muss ich das Buch gelesen haben. Ich bin auf Seite 104 von 187 Seiten. Die ersten 67 Seiten machten mich zunächst nicht soooo an. Aber ich wusste: Ich muss weiterlesen. Jetzt, auf Seite 67, hat Reiser mächtig Fahrt aufgenommen. Was ich nun las und was sich irgendwie mit dem Geschwatze (ich vermeide das Wort Geschwätz, weil Norddeutsche das negativ interpretieren) vermischte, trieb mich aus der Bodega. Ich musste das hier tun - eine Notiz schreiben. Weil die Birne brummt (der Satz wird hier eingefügt wg. der Überschrift). Ihr kommt vermutlich gar nicht klar. Na gut. Dann müsstet Ihr in eine Bodega in Bayern gehen, die ein Pole betreibt, in der Kahlköpfige die Theke okkupiert haben, über Diabetes, Fastfood und Bayern München spekulative (keineswegs spektakuläre) Ansichten äußern - und Ihr müsstet gleichzeitig Wolf Reisers "Die ganze Wahrheit über Stuttgart 21" lesen. Vielleicht erahnt Ihr dann. Ich hab jedenfalls begriffen: Mein neuestes Stück 'Helden auf dem Abstellgleis', das am 4. Januar Premiere hatte und im Juni bei den 29. Bayerischen Theatertagen in einer Aufführung bei 'Müller 7' (ein Möbeldesign-Geschäft in Bamberg) das Publikum irritieren wird, dieses Stück ist keine fertige Produktion, sondern ein Projekt. Meine 'Helden auf dem Abstellgleis' müssen noch einen neuen Dreh kriegen. Es ist ja wahr: Wer
1968 Mitte 20, also 25 Jahre alt war, ist heute 68. Damals hat er mit dem Revolutionsbarden Franz-Jupp Degenhardt (im 'Deutschen Sonntag') gesungen: 'Traumverloren sitzen auf den Stadtparkbänken, Greise, die an Sedan denken.' Und heute setzen die neuen Greise, die gern Senioren heißen oder 'Männer 50 plus', an Stelle von Sedan Whyl oder Wackersdorf, preisen Sit-ins und Menschenketten, erzählen Dönekes wie: 'Dieser Parka hat schon dem eisigen Strahl der Wasserwerfer an der Startbahn West getrotzt.' Verdammt, lassen wir uns den Schneid abkaufen von M&M (Merkel und Mappus)? Die PR-Maschinerie hat es geschafft, dass man den, der mal 'Nein' sagt veralbert. Sogar die, welche 'Nuhr' aufmüpfig sein wollen, spotten über die 'Wutbürger', die darauf hin beschämt kuschen. Wahrscheinlich gelingt es dem Reiser, mich, einen 'Helden auf dem Abstellgleis', dazu zu bringen, bei den nächsten Vorstellungen noch heftiger zuzulangen. Wenn, nachdem ich 'Die ganze Wahrheit über Stuttgart 21' gelesen habe (ich hab das Lesen schon immer, von klein auf, als subversiv verstanden, wenn ich vor 60 Jahren den Ausdruck auch noch nicht kannte oder verstanden hätte, hätte ich ihn gekannt), also nach der Lektüre kann ich vermutlich nicht umhin, in die Texte von Mario (Békannt), René (Descartes) und Sigmund (Freud) eine Passage einzubauen, die auf solche Gedanken rekurriert: 'Was also nun treibt Stuttgarts politisch-ökonomische Klasse an, seit einem Vierteljahrhundert unbeirrt an einem Projekt festzuhalten, das selbst wohlgesinnte PlanungsInsider als höchst riskant, unwirtschaftlich und aberwitzig bezeichnen? Egal, wie eloquent und raffiniert die S21-Fürsprecher seither auftreten und wie sie ihre verkehrslogistischen Konstruktionen verkaufen: Man wird das Gefühl nicht los, dass hier ein kleiner Zirkel den Versuch unternimmt, sich selbst unter Nutzung der Landeshauptstadt vom Provinzdasein zu erlösen, das imaginäre Image von Kehrwoche, Spießertum und frigidem Spartrieb loszuwerden und endlich auf glühenden Gleisen Richtung große Welt zu rasen, um eine echte Nummer und eine ernst zu nehmende Adresse im globalen Masterplan zu werden. Und nun merken die normalen Menschen dort, dass diese Handvoll Oligarchen davon ausgeht, mit dieser breiten Sehnsucht nach Größe spielen zu können, und sich dabei auch noch die Taschen füllt. Denn in letzter Konsequenz geht es hier um ein gigantisches Immobiliengeschäft, bei dem wenige maßlos profitieren und der Rest draufzahlt.' (Wolf Reiser: "Die ganze Wahrheit über Stuttgart 21", Seite 47 / 48, Scorpio Verlag, BerlinMünchen, 2011, ISBN 978 - 3 - 942166 - 26 - 3) Ein halbes Jahr später also lese ich den Text nach und ärgere mich, dass ich ihn in der Schublade gelassen oder irgend wohin in Internetversum verfrachtet habe. Gut, die „Helden auf dem Abstellgleis“ haben tatsächlich einen (auch noch dotierten) Jury-Sonderpreis bekommen. Hurra! Sie wären, wie ich beim Lesen festgestellt habe, noch immer aktuell. Aber wahrscheinlich wären sie weiterhin ein MinderheitenProgramm. Macht auch nichts, bespiele ich also kleinere Räume (Theater, Bühnen). Wenn ich so sehe, was gerade lokal und global so läuft, frage ich mich immer, auf welchem Dampfer die Leute so sind. Mein Ozeanpianist Novecento, der Beste von allen, der Größte, der war zeitlebens ausschließlich auf der “Virginian” und fuhr
immer zwischen Amerika und Europa hin und her. Einmal, ein einziges Mal wollte er von Bord gehen, schaffte es aber nicht, blieb jäh auf der Landungstreppe stehen und - kehrte dann um. Er blieb bis zu seinem Lebensende auf dem Schiff und ließ sich mit ihm in die Luft jagen. Kurz vorher gestand er seinem besten Freund, dem Trompeter: “Ich, der ich nicht fähig war, von Bord des Schiffes zu gehen, ging - um frei zu werden - von Bord meines Lebens.” Wie? Alle Sehnsüchte, die er gehabt hatte (nach Frauen, Kindern, Freunden, Glück zum Beispiel), hatte er in harter Arbeit gebannt, hinter sich gelassen, kristallisiert. Er war am Ende ohne Verlangen und – glücklich. Schönes Bild - oder? Viele schütteln über Novecentos Lebenseinstellung den Kopf. Doch mir drängt sich der Gedanke auf: Die meisten sind ihrerseits ein Leben lang auf einem (falschen) Dampfer, glauben aber, sie seien frei. In Wirklichkeit sind sie aus meiner – zugegeben unmaßgeblichen - Sicht besinnungslos und heteronom. Die Dampfer heißen zum Beispiel “Bürokratie”, “Nationalsozialismus”, „Islam”, „Katholizismus“, „Wall Street“, “Schalke 04″ oder eben (siehe oben) „FC Bayern“ - um ein paar zu nennen. Hab ich was vergessen? Gut, meine Bitte: Ergänzen Sie sinngemäß. Ach ja: An dieser Stelle kann ich sogar die alte Überschrift sozusagen als Unterschrift wieder verwenden: Wenn die Birne brummt.