heustrick

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Theatermacherei sollte eine Heustrick sein Durchs Ultental gehen, um auf den Berg zu gelangen Wenn einer nicht in etwas verliebt ist – kommt nichts dabei heraus. Wascht und Luis sind Brüder. Bauern aus dem Ultental, Südtirol. Kennengelernt habe ich Wascht und Luis durch die TVDokumentation "Winter im Ultental" (von Josef Schwellensattl / BR, "Unter unserem Himmel"). Wascht und Luis spielen darin die Hauptrollen, nein, falsch: Wascht und Luis sind die Hauptpersonen in diesem Film. Persönlichkeiten, die mich schwer beeindruckt haben. Die machen bäuerlich-traditionelle Sachen, die völlig aus der heutigen Zeit fallen, so selbstverständlich und hingebungsvoll ... Vergleichbares Schaffen in nicht so urwüchsigen Arbeitsbereichen würde man achselzuckend mit workoholism abtun ... Der Weltklasse-Bassist Hellmut Hattler sagt: "Musik ist der Rauch, der entsteht, wenn ein Musiker sich verbrennt. Je nachdem, aus welchem Holz er geschnitzt ist, bleibt entsprechend viel Asche übrig.“ Und der Weltklasse-Gitarrist John McLaughlin konstatierte dieser Tage in einem Interview: „Gäbe es nicht diese Leidenschaft, würde man nicht bei der Musik bleiben.“ Ohne dieses Bewusstsein wird man nicht Weltklasse, weder an der Gitarre noch am Bass. Der Wascht und der Luis sind nicht „Weltklasse“ – aber nur, weil sie etwas tun, was nicht vervielfältigt werden kann. Sie tun etwas, was Massen nicht interessiert. Der Wascht schneidet auf dem Boden der Stube eine Kuhhaut zuerst in schmale Streifen, dann enthaart er sie säuberlich, macht die glattrasierten Streifen mit Fett geschmeidig und zopft am Ende „die Heustrick", ein Lederseil. Gefühlt war er zwei, drei Wochen damit beschäftigt; dabei hat er mindestens vier Werkzeuge benutzt, die eigens für diese Arbeit erfunden worden sein müssen und zu nichts anderem nütze sind. Wozu die Heustrick, die am Ende mit einem geheimen Knoten geschürzt und um einen dicken Balken in der Scheune gewunden wurde, wozu dieses Ergebnis zeitaufwändiger und kraftraubender Mühe nützt, erschloss sich mir nicht. Auch der Luis. Am Abend vor dem Dreikönigstag geht der Luis über seine schneebedeckten Fluren. Er betet den Rosenkranz und segnet dabei mit dem "Kinigwasser" seine Wiesen und Äcker. Er muss allein gehen. Und jedes Jahr wieder. Und die Brüder gehen auch mit dem Weihrauchfass durchs Haus – so zum Beginn des Jahres. Dann, wieder einen Tag später, „steigt Luis mit seinem Bruder Wascht und vierzehn Nachbarn durch den tief verschneiten Wald zur Hochalm hinauf“, heißt es in einem Begleittext zur Dokumentation. „Dort laden die Männer das Heu mit viel Geschick auf Schlitten, die sich schließlich auf den langen, vereisten Weg hinunter zum Hof machen.“ An dem Tag hatte es 18 Grad minus. Jeder der Männer trug seinen eigenen schweren Schlitten da hoch. Einige bekamen für die schwere Arbeit einen Geldbetrag, andere wollten von den luftgetrockneten Würsten und Schinken. Fröhlich waren alle. Wie viele Jahre Wascht und Luis diese Traditionen aufrechterhalten? Schwer zu sagen. Sie sahen aus wie 50. Oder 60? Ich konnte es nicht erraten. Jedenfalls spielen sie dieses Stück schon viele Jahre. En suite. Ob einer zuguckt oder nicht. Und sie machten im Film den Eindruck, als seien beide heftig verliebt in das, was sie tun. Solche Worte würden sie für das, was sie tun, wohl nicht verwenden - aus dem zu schließen, was sie im Film überhaupt gesprochen haben. Das waren Wörter und Sätze, die nach Heu und Schnee dufteten, nach Kinigwasser und Weihrauch, nach Würsten und Schinken, nach Lederfett und Heustricken. Nach dem Leben an und für sich. Luis‘ Jahr für Jahr wiederholter Gang über die Felder, Wascht’s Heustrick erschienen mir sinnlos. Aber: Ist, ein Theaterstück bis zur Premiere zu bringen, nicht eine Heustrick zopfen; ist der jährliche Gang über die Felder nicht wie: ein Bühnenstück wieder und wieder mit derselben Intensität zu spielen? Spielen ist so sinnlos oder so sinnvoll wie eine Heustrick zu zopfen. Wovor man sich hüten sollte, die Zeit auf der Bühne zu ver-leben; man muss die Zeit auf der Bühne erleben. Ist doch diese Zeit auch ein realer Teil des Zeitstrangs eigenen Lebens.


Wir Schauspieler sollen ja sagen, was wir meinen, und meinen, was wir sagen, wenn wir von Fremden geschriebene Texte sprechen, Rollen spielen. Wascht und Luis haben nichts gemimt, nicht mal gespielt. Wir durften ihnen beim Leben zuschauen. Wenn ich dann sehe, was von Maskenbildnerinnen hergerichtete Akteure auf öffentlichen Bühnen sich erlauben alles vorzuspielen, weil und obwohl Millionen zuschauen, dann bin ich platt. Da mag ich nur noch abschalten, wegschauen und weghören. Dann wird mir der ungeschminkte, aus meiner subjektiven Sicht in der vorgestrigen Zeit lebende Wascht, dem sogar die Schneidezähne fehlen, noch sympathischer. Jetzt weiß ich nicht, ob das ein Schluss ist. Sicher ein offener Schluss. Weil ich den Sommer im Ultental erleben möchte.


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