Tab two

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Joo Kraus und Hellmut Hattler: The Tab Two

„Musik ist mit schönen oder schrecklichen Erlebnissen verknüpft" Jede Zeit hat ihre Musik. „Eindeutig!" Sagt Hellmut Hattler. „Bestimmte Tonfolgen sind nur unter bestimmten Gegebenheiten zu verstehen, akzeptiert. Wenn Du heute das TV anschaltest, hörst Du Blasmusi und Humba Humba. Das macht mich wahnsinnig. Das hat mit der Zeit zu tun. Das ist das Revival der 60er. Die Verspießerung." Das ist tatsächlich anachronistisch! Biedermeier! Reaktion! Reaktion auf den totalen Umbruch, der allmählich spürbar wird? Einen Atemzug vor dem Ende des Jahrtausends haben kleinste Eliten der naturwissenschaftlichen Society die nichtlineare Dynamik entdeckt. Chaos. Eine wissenschaftliche Revolution steht an. Die Paradigmen der letzten vier Jahrhunderte müssten über Bord geworfen werden. Die Vorstellungen von der Absolutheit von Zeit und Raum und von der absoluten Objekthaftigkeit der Welt (des Kosmos) sowie vom absoluten Determinismus müssten als überflüssiger intellektueller Ballast abgeworfen werden. Es müsste sich herumsprechen: Die Wissenschaft ist mit ihrem Bestreben, eine Weltformel zu finden, alles erklären, berechnen, planen zu wollen, an ihre Grenzen gestoßen. Jeder scheinbar noch so kontrollierte Prozess kann an einem bestimmten Punkt in Chaos umschlagen. Das ist die einschneidende (Wieder-) Entdeckung des Computer-Zeitalters. Überall Risiken. Das ist die Botschaft. Kunst war immer Abkehr von der (Ver-) Sicherung war immer RisikoBereitschaft, Gratwanderung. Mit Können kann man sich über die Runden retten. Die Kugel aber auf der Spitze zu balancieren, in einer absolut instabilen Lage also, das ist nur mit wacher Intelligenz zu bewältigen. Hellmut Hatller und Joo Kraus „The Tab Two" wissen nicht bloß darum bei ihren Live-Performances können zu jeder Zeit Bifurkationen auftreten, sind immer auch GrenzÜbertritte zu erwarten, akustische Fraktale. Und manchmal, ganz selten, wie nach dem Workshop in Bad Urach zum Beispiel, lassen sie auch aufblitzen, dass der dazugehörige Überbau vorhanden ist.


Genauso wie der künstlerische Background vorhanden ist. Hellmut Hattler hatte zuerst Geige gespielt, war auf Kontrabass und dann Bassgitarre umgestiegen und fing mit 16 in einer Band ohne Namen an, Beatmusik zu machen. Das war 1968. Nach dieser ersten Phase in Schülerbands mit Beat und Soul hatte er zwar Lust auf Jazz, sagt aber heute rückblickend ironisch: „Das ging nicht, weil, ich hatte ja nicht studiert, war zu jung, um Jazz spielen zu können." Er ist dann viel in den in Jazzkreisen auch heute noch berühmten Ulmer Jazzkeller „Sauschdall" gerannt, um festzustellen: „Die Wichtigtuer, die Pfeifenraucher, haben keine Ahnung, die tun nur so. Das hat mich angekotzt. Wir haben dann selbst angefangen, Free Jazz zu machen, ganz viel und ganz übertrieben. Wir schwebten zwischen Genie und Dilettantismus." Mit dem Saxophonisten Alto Pappert, mit dem Drummer Jan Fride und mit Peter Wolbrandt an der Gitarre fand Hattler, „Leute die nicht nach zwei Takten aufgehört haben und fragten, was denn nun Sache ist. Wir haben gejammt, was das Zeug hielt. Drei Stunden war vielleicht nichts los. Dann auf einmal hattest Du keinen Boden mehr unter den Füßen. Das war plötzlich erregend". Damals, 1971, war auf einmal klar: Musik ist total wichtig. Die Schule wurde geschmissen. „Wir sahen die Chance, wirklich was Neues zu machen: Beat, Soul, Rock, Jazz, Ethno - das sind keine getrennten Lager. Wir wussten auf einmal: Wir haben genügend Energie, um das rüberzubringen. Das hat uns den Schritt machen lassen zum Profi." Joo Kraus wusste mit 16, dass er Berufsmusiker werden wollte. Auch das Instrument war klar. Er spielte schon Trompete, weil die Eltern das von ihm favorisierte Schlagzeug nicht wollten; und für die alte Posaune vom Speicher hatte er noch zu kurze Arme. „Fanfaren und Trompeten haben mir nie gefallen", sagt Kraus. „Vielleicht spiele ich deshalb auch nicht so trompetenmäßig, eher verhalten, lieber mit einem Dämpfer, der unglaublich warm klingt." Wie es dazu kam? Eher zufällig: „Als ich Hellmut kennenlernte, haben wir in seiner Wohnung geprobt. Das war zu laut. Da habe ich den Dämpfer genommen." Bei Klassikern gilt Kraus immer als Jazztrompeter, Jazzer ordnen ihn ais Heavy-Metal-Trompeter ein und Rockmusiker wieder als Jazztrompeter. Hellmut Hattler hat seinen Partner, als er ihn vor sieben Jahren kennengelernt hat, als „überbegabten Musiker" gesehen. Heute urteilt er: „Damals waren seine Gefühle noch auf Sparflamme. Aber er hat einen Riesensprung gemacht." Auch die Begegnung der Musiker-Generationen sei prägend gewesen, die Tatsache dass Joo Kraus ein „Kraan"ich wurde. Da habe er auch die Rollenverteilung unter Alt-Musikern studieren können. „Ohne das hätte er vielleicht gespielt, was gefragt war. Und er war viel gefragt." Was das besondere Talent von Joo Kraus ist? Er sagt: „Andere schalten nicht ab, wenn sie spielen, denken immer nur an ihre Skalen, vergessen ihre Überstrategien nicht. Viele machen Musik, um ihr Instrument zu spielen, spielen nicht, um Musik zu machen. Da hab' ich auch viel rumgemacht, mach' ich heute noch. Trompete ist so'n blödes Instrument, da musst du das jeden Tag machen. Da gibt's vielleicht auch 'ne Hormonausschüttung, wenn du das technisch gut kannst. Aber zuviel ist schädlich, Man darf die emotionale Seite nicht zuschütten." Er spielt, „auf der Suche nach der Gänsehaut, bis es sich gut anfühlt. Als ich 1987 Hellmut Hattler kennengelernt hab, da hat's mich total gepackt, da wusste ich auf einmal, worum's da geht beim Spielen". Das war bei der ersten Probe im Studio mit „Kraan". Da hatte er schon einiges musikalisch gemacht, klassische Musik studiert, alles typische Jazz-Zeugs, schwarze (Funk-) Musik, mit verschiedenen Bands geschwankt zwischen zu kommerziell und nicht kommerziell genug. Beide Musiker tarieren sich nun aus. Aus Hattlers Sicht ergänzen sich beide ideal, zum Beispiel bei der Produktion: „In geschmacklichen Dingen stimmen wir überein. Joo hat klare Vorstellungen vom technischen Ablauf. Er handelt die Technik optimal, kann Vorschläge umsetzen. Aber wie passt alles zusammen? Wo führt was hin? Wie vermeidet man Klischees. Technik verführt. Es klingt alles geil. Aber was ist der Inhalt? Was drückt die Sache aus? Wie vielschichtig ist das? Wieviele Dimensionen hat es? Welche Bilder? Welche Welten? Wieviel Tiefgang?"


Joo Kraus: „Wenn ich was probiere, und es dauert Hellmut zu lange, dann wird er nervig. Dann schicke ich ihn zum Telefon - es gibt ja soviel zu regeln. Wenn er nach zwei Stunden wiederkommt, dann bin ich an einem Detail, habe vielleicht einen Takt fertig. Und wenn er dann fragt: Was soll das? Dann muss ich mich schon am Riemen reißen. Aber es ist nötig, dass er fragt." Manchmal ändert sich dann nichts, manchmal wird alles total geändert. Kraus: „Musik ist mit schönen oder schrecklichen Erlebnissen verknüpft, Hellmut ist bei Ländler, Polka und so, total blockiert. Das ist zwar mein Ding auch nicht, aber nehmen wir mal so einen dummen DiscoGroove, den ich super-flach fand und deshalb verwenden wollte. Hellmut fand's nur flach. Andere würden in so einem Fall aufgeben, das Ding weglassen. Wir haben einfach nicht aufgegeben, haben uns angenähert. Es ist eines der interessantesten Stücke auf der neuen CD geworden, nämlich ,Ta-pe Tout', ein besonderes Beispiel unserer Zusammenarbeit." Charterhalle des Kultur-Terminals München-Riem, letzter Tag der Deutschlandtour von „US 3". Der Master of Ceremony überschlägt sich beinahe vor Begeisterung: „Dass es sowas in Deutschland gibt, in Ulm. Ich weiß gar nicht, wo Ulm liegt." Sein Danke ruft er Hellmut Hattler und Joo Kraus in die Künstlergarderobe nach. „The Tab Two" hatten gerade als Supportact ein halbstündiges Konzert gegeben. „US 3" sind regelrechte „Tab Two"-Fans geworden auf der Tour, haben sozusagen geschlossen T-Shirts und CDs ihrer Vorgruppe gekauft. Auch Tourbegleiterin Maral Khatchadourian war voll des Lobes: „Sehr, sehr vielversprechend. Das Duo passte zu uns wie die Faust aufs Auge." Kein Wunder! Dem Kritiker der Hamburger Morgenpost zum Beispiel gefiel das Ulmer Duo „fast besser" als die hochgehandelten Briten. In München-Riem tanzte die Halle zu der „Tab Two"-Musik vor allem aber zu den Kostproben aus „Hip Jazz", der dritten CD, die Anfang Februar auf den Markt gekommen und am 11. Februar -passender Rahmen - im Ulmer Stadthaus der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist. Heinz Koch, Jazzpodium, 3. März 1994


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