VERMISCHTE GEFÜHLE (Mixed Emotions)
von Richard BAER
Deutsch: Gerhard BRONNER
Bearbeitung: Wolfgang SPIER
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PERSONEN DER HANDLUNG (in der Reihenfolge ihres Auftretens)
KABULSKI, ein älterer Möbelpacker LANGER, ein jüngerer Möbelpacker Christine RIEDER Hermann LÖWY
ORT DER HANDLUNG
Christines Wohnzimmer
1.AKT:
1. Szene: Donnerstag Nachmittag 2. Szene: Donnerstag, am frühen Abend 3. Szene: Donnerstag, am späten Abend
2. AKT:
Freitag, Vormittag
3 1. AKT
1. Szene
Zeit: Februar, Donnerstag Nachmittag.
Ort: Berlin. Das Wohnzimmer Christines. Der hintere Teil der Bühne ist erhöht und stellt die Diele der Wohnung dar. Entlang den Wänden befinden sich Bücherregale, eine Stereoanlage, ein Kamin, sowie eine Hausbar. Unter den eleganten Möbeln befindet sich eine bequeme Wohnlandschaft, daneben ein Lehnstuhl und ein Sofa. Darunter ein großer Teppich.
Kurz nach Aufgehen des Vorhanges betreten Kabulski und Langer, zwei Möbelpacker der Speditionsfirma „Intertrans“, den Raum. Die beiden sind in Overalls gekleidet, die mit dem Firmenlogo versehen sind. Jeder trägt zwei leere Intertrans-Kartons. Kabulski bringt zusätzlich noch einen Stoß Packpapier. Kabulski ist um die Fünfzig, Langer Anfang Zwanzig.
KABULSKI:
(off: Nu’ komm schon!!) Ich nehme das zerbrechliche Zeug, du die Bücher und Schallplatten.
Die beiden gehen zum Bücherregal und stellen die Kartons nieder. Kabulski stellt die seinen behutsam in Position, Langer lässt sie achtlos fallen. Während Kabulski beginnt, diverse gerahmte Photos und einige Nippesfiguren in Papier einzuwickeln, betrachtet Langer die im Regal befindlichen Schallplatten.
LANGER:
Dass die Dingsda überhaupt nichts von Musik versteht, hätte ich nicht gedacht.
KABULSKI:
Sie heißt nicht Dingsda, sondern Frau Rieder. Wie oft hab ich dir schon erklärt, dass du dir die Namen der Kunden merken sollst?
LANGER:
Fünftausend Mal. Aber warum, das hast du mir noch nicht erklärt. Wenn das Zeug erst im LKW ist, sehen wir sie doch nie wieder.
Er wirft einige Schallplatten in den Karton. Der Krach veranlasst Kabulski, sich ruckartig umzudrehen und Langer strafend anzusehen. Dieser nimmt davon keine Notiz und wirft einige weitere Schallplatten in den Karton.
4 KABULSKI:
Vorsicht mit den Schallplatten. Die musst du schichten. Mit Gefühl, liebevoll.
Langer nimmt eine weitere Schallplatte aus dem Regal, küsst sie und legt sie behutsam in den Karton.
KABULSKI:
Das Küssen kannst du dir sparen. Und nicht einzeln einpacken, sonst werden wir nie fertig.
Langer holt drei Schallplatten aus dem Karton und betrachtet sie kopfschüttelnd.
LANGER:
Hör dir das an, Kabulski. (Er liest die Titel verachtungsvoll vor.) „La Bo-he-me“, „Erika“ – ah, nein, da ist noch ein O dabei. „E-roika“ … das ist bestimmt ein Druckfehler. Das soll „Erotika“ heißen, na die hat’s nötig…
Christine Rieder kommt aus der Küche ins Wohnzimmer. Sie ist 61 Jahre alt, gutaussehend, sensibel und unprätentiös. Ihre Kleidung ist einfach und geschmackvoll. Sie betritt den Raum in dem Moment, da Langer den nächsten Plattentitel zu buchstabieren beginnt.
LANGER:
„So-uvenirs in Stereo“.
CHRISTINE:
Na meine Herren, kommen Sie gut voran? Packen Sie die noch nicht ein, Herr Langer. Die Platte möchte ich noch einmal hören.
LANGER:
Bevor wir gehen, oder nachher?
CHRISTINE:
Nachher. In der gewagten Annahme, dass ich irgendwann Zeit haben werde, mich hinzusetzen.
Währen Langer die Platte ins Regal zurücktut, läutet das Telefon. Christine nimmt den Hörer ab und erschrickt.
CHRISTINE:
Was? Jetzt, wo ich schon mit einem Fuß in Florenz bin, willst du mich noch besuchen? - Also wirklich … so wichtig kann das doch nicht sein? Also. - Gut, von mir aus, komm her, aber nur ganz kurz. Wo bist du überhaupt? – Vor der Haustür … (für sich) auch das noch… also bis gleich.
5 CHRISTINE:
(Sie legt seufzend den Hörer auf und wendet sich an die Packer.) Meine Herren, es tut mir leid, aber ich bekomme unerwarteten Besuch. (Mehr für sich) Ausgerechnet jetzt. (Wieder zu den Packern) Tun Sie mir den Gefallen und machen Sie für mich in der Küche weiter. Ich werde mich bemühen, den Herrn möglichst bald loszuwerden, dann können Sie hier wieder rein.
KABULSKI:
Langer. Komm!
Kabulski und Langer gehen ab. Christine entdeckt eine Bonbonniere auf dem Tisch links neben dem Sofa und steckt ein Praline in den Mund. Will ein zweites in den Mund stecken – beherrscht sich und versteckt die Schachtel im Bücherregal rechts neben der Tür. Auf dem Weg zur Tür fallen ihr einige Tapetenmuster auf, die auf dem Sofa liegen. Sie verbirgt sie hastig unter einigen Kissen. Die Türglocke läutet. Sie läuft zur Eingangstür und öffnet.
Hermann tritt ein. Er ist Mitte 60, trägt einen dicken Wintermantel, eine Pelzmütze, einen Schal, Handschuhe und Galoschen. Er wird sich als schlauer, rechthaberischer Selfmademan erweisen, der zugleich enervierend und liebenswert sein kann.
CHRISTINE:
Grüß dich, Hermann, was verschafft mir die unerwartete Ehre?
HERMANN:
Wo warst du?
CHRISTINE:
Wo soll ich wann gewesen sein?
HERMANN:
Heute Nachmittag um drei.
CHRISTINE:
Ich war in meiner Küche und habe Geschirr verpackt.
HERMANN:
Warum warst du nicht auf dem Friedhof am Grab deines Mannes?
CHRISTINE:
Wozu?
HERMANN:
Um seiner zu gedenken.
CHRISTINE:
Das habe ich gestern getan.
HERMANN:
Wieso gestern?
6 CHRISTINE:
Weil er gestern vor einem Jahr gestorben ist.
HERMANN:
Falsch. Das war heute vor einem Jahr.
CHRISTINE:
Nein, gestern.
HERMANN:
Aha. Warum hast du mich dann am Sonntag telefonisch eingeladen, heute mit dir das Grab deines Mannes zu besuchen?
CHRISTINE:
Die Einladung war für Mittwoch, drei Uhr Nachmittag.
HERMANN:
Nein, Donnerstag – also heute. Somit hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, für 25 Euro hin und zurück durch einen arktischen Schneesturm zum Friedhof zu fahren, um dann ganz allein am Grab deines Mannes trauern zu dürfen.
CHRISTINE:
Hermann, ich habe langsam und deutlich gesagt: Mittwoch, vierter Februar.
HERMANN:
Aha! Jetzt bist du in die Falle getappt. Erich ist am fünften Februar gestorben.
CHRISTINE:
Nie im Leben, das war am vierten Februar.
HERMANN:
Christine, willst du etwa behaupten, dass ich nicht weiß, wann mein bester Freund gestorben ist?
CHRISTINE:
Willst du behaupten, dass ich nicht weiß, wann mein Mann gestorben ist?
HERMANN:
Ja! Schau in die Sterbeurkunde. Ich habe Zeit, ich kann warten. (Er geht in den Wohnraum und setzt sich aufs Sofa. Christine schließt die Eingangstür und folgt ihm missmutig.)
CHRISTINE:
Wenn du mir nicht glaubst, frag meine beiden Töchter, die mit meinen Schwiegersöhnen gemeinsam mit mir auf dem Friedhof waren – und zwar gestern, am vierten Februar.
HERMANN:
Was habt ihr für das Taxi bezahlt?
7 CHRISTINE:
Wir sind im Wagen von Susi und Herbert gefahren. Ich habe dir am Sonntag gesagt, dass wir uns alle bei ihnen treffen wollen, damit wir gemeinsam zum Friedhof fahren können. Als du nicht gekommen bist, habe ich in deinem Büro angerufen, und deine Sekretärin hat mir mitgeteilt, dass du auf dem Weg zu deinem Buchhalter bist, um ihn zu erwürgen.
HERMANN:
Hast du versucht, mich bei meinem Buchhalter zu erreichen?
CHRISTINE:
Nein, ich war verletzt, weil dir der Streit mit deinem Buchhalter wichtiger war, als das Grab deines besten Freundes zu besuchen. (Sie geht zum Regal, wo Langer den Karton mit den Schallplatten fallen ließ.) Und jetzt entschuldige mich, Hermann, ich habe noch eine Unmenge von Sachen zu verpacken. Und mit deiner gütigen Erlaubnis, werde ich das jetzt auch tun. (Sie macht sich an den Büchern zu schaffen. Hermann fächelt sich Luft zu.)
HERMANN:
Warum zum Teufel ist es hier so heiß?
CHRISTINE:
Tut mir leid. Ich könnte das Fenster aufmachen, aber einfacher wäre es vielleicht, wenn du deine Winterausrüstung ablegst.
HERMANN:
Ach, das habe ich gar nicht bemerkt. (Er steht auf, legt Handschuhe, Mantel, Hut und Schal ab und legt alles auf das Sofa. Dabei sagt er:) Christine, darf ich mir erlauben, dich darauf hinzuweisen, dass ich mindestens so verletzt bin wie du.
CHRISTINE:
Wieso bist du verletzt?
HERMANN:
Weil du auch nur einen Moment annehmen konntest, dass mich irgendetwas davon abhalten könnte, dich auf den Friedhof zu begleiten. Tatsache ist, ich war am richtigen Ort, wenn auch zur falschen Zeit. (Er setzt sich, um die Galoschen auszuziehen.) Ich bin auch verletzt, dass du nicht einmal versucht hast, herauszufinden, warum ich nicht gekommen bin. Ich hätte ja ebenso gut deinem Gatten ins Jenseits gefolgt sein können.
8 CHRISTINE:
Ich habe es versucht – telefonisch. Aber es war besetzt.
HERMANN:
Das hätten die Leute von der Feuerwehr sein können, die den Leichenbeschauer gerufen haben.
CHRISTINE:
Hätte das die Leitung für zwei Stunden blockiert?
HERMANN:
Nein. Ich habe mich wieder mal mit meinem Buchhalter gestritten.
CHRISTINE:
Wenn dir das so wichtig ist, dass dein Telefon zwei Stunden lang besetzt ist …
HERMANN:
Christine, ich bin nicht gekommen, um mir deine Sticheleien anzuhören.
CHRISTINE:
Warum also bist du hergekommen?
HERMANN:
Um dich zu trösten. Und um dich von Erichs Tod abzulenken.
CHRISTINE:
Ich weiß das zu würdigen.
HERMANN:
Und das bei so einem Schneesturm.
CHRISTINE:
Wie dem auch sei, ich brauche keinen Trost.
HERMANN:
Wieso – fehlt er dir nicht?
CHRISTINE:
Natürlich fehlt er mir. Und gestern war ich auch dementsprechend deprimiert. Aber abends haben mich die Kinder zum Essen ausgeführt, wir haben von Erich gesprochen, wie sehr er uns fehlt, was er uns bedeutet hat … aber das Leben muss schließlich weitergehen … als ich mich von den Kindern verabschiedet habe, war meine Depression vorüber.
HERMANN:
Ganz und gar?
CHRISTINE:
Nein. Kein Mensch kann den Verlust eines Ehepartners ganz und gar verschmerzen. Deine Ilse ist jetzt drei Jahre tot, bist du darüber hinweg?
9 HERMANN:
Ich versuche es. (Kurze Pause – dann:) Wo wart ihr essen?
CHRISTINE:
In irgendeinem kleinen italienischen Restaurant … Alberto oder Umberto … irgendein Berto eben … Herbert hat es ausgesucht.
HERMANN:
Wer hat bezahlt?
CHRISTINE:
Herbert und Paul haben sich die Rechnung geteilt.
HERMANN:
Wäre ich dabei gewesen, dann hätte ich bezahlt – und zwar allein.
CHRISTINE:
Wärst du mit zum Friedhof gekommen, dann wärst du dabei gewesen. (Nach kurzer Denkpause) Weißt du, was schön wäre?
HERMANN:
Wenn ich deinen Schwiegersöhnen die Kosten erstatte?
CHRISTINE:
Wenn deine Ilse und mein Erich gestern da oben auch miteinander gegessen hätten.
HERMANN:
Dazu ist meine Ilse sicher auch „da oben“ viel zu beschäftigt.
CHRISTINE:
Glaubst du?
HERMANN:
Abgesehen davon, bezweifle ich, dass Ilse und Erich sich da oben jemals treffen.
CHRISTINE:
Warum?
HERMANN:
Weil ich nicht glaube, dass „da oben“ überhaupt existiert. Falls du es noch nicht gemerkt haben solltest: ich bin kein gläubiger Katholik. Aber du! Wenn du so durch die Innenstadt bummelst und zufällig am Dom vorbeikommst, flitzt du da nie rein, um eine Kerze anzuzünden?
CHRISTINE:
(reicht ihm die Bonbonniere) Willst du ein Praline?
HERMANN:
Nein danke, alles was ich will, ist eine Antwort auf meine Frage.
10 Christine steckt nachdenklich ein Praline in den Mund, und stellt die Bonbonniere wieder auf den Tisch.
HERMANN:
Flitzt du, oder flitzt du nicht?
CHRISTINE:
Selten.
HERMANN:
Wie selten?
CHRISTINE:
Zwei oder dreimal im Jahr.
HERMANN:
Eher zweimal oder eher dreimal?
CHRISTINE:
Eher dreimal. Aber erst seit Erich gestorben ist.
HERMANN:
Und wie viele Kerzen zündest du jedes Mal an?
CHRISTINE:
Vier. Eine für meinen Vater, eine für meine Mutter, eine für Erich – und eine für Ilse.
HERMANN:
Also vier Kerzen dreimal im Jahr, ergibt eine Summe von zwölf Kerzen insgesamt, beziehungsweise eine Kerze pro Monat. Stell dir einmal vor, wenn das nun jeder Mensch täte. Erstens würde der Preis für Wachs ins Unermessliche steigen, und dann gäbe es ja rund um den Dom gar keinen Sauerstoff mehr.
CHRISTINE:
Hermann, tu mir einen Gefallen und geh nach Hause. Es war nett, mit dir zu plaudern, aber ich habe noch schrecklich viel zu tun – also danke für deinen Besuch, und jetzt geh!
HERMANN:
Bietest du mir nicht einmal ein Glas Wasser an?
CHRISTINE:
Nein. Ich habe dir ein Praline angeboten, und du hast mir einen Korb gegeben.
HERMANN:
(steckt ein Praline in den Mund) Bitte sehr, ich nehme den Korb wieder zurück. Jetzt wäre es schön, wenn ich den süßen Geschmack mit irgendetwas runterspülen könnte.
11 CHRISTINE:
Hermann, darf ich dir ein Glas Wasser anbieten?
HERMANN:
Du darfst.
Christine steht auf und geht zur Hausbar. Er ruft ihr nach:
HERMANN:
Solltest du zufällig „Gerolsteiner“ im Haus haben …
CHRISTINE:
(öffnet die Eisbox in der Hausbar, entnimmt ihr eine Flasche und öffnet sie) Mit Eis?
HERMANN:
War das „Gerolsteiner“ im Kühlschrank?
CHRISTINE:
Ja.
HERMANN:
Wie lange?
CHRISTINE:
Eine Woche, zwei Wochen – ich führe darüber nicht Buch.
HERMANN:
Wenn man Sprudelwasser zulange im Eis lässt, kann es passieren, dass es dann nicht mehr sprudelt.
CHRISTINE:
(schenkt ein) Wenn’s dich beruhigt – es sprudelt wie verrückt.
HERMANN:
Dann wollen wir es nicht mit Eis verdünnen. Danke.
CHRISTINE:
Prost.
Er stellt das Glas auf den Tisch.
CHRISTINE:
Wolltest du nicht den süßen Geschmack hinunterspülen?
HERMANN:
Ich lasse erst die Kohlensäure entweichen. Bist du schon aufgeregt?
CHRISTINE:
Worüber sollte ich mich aufregen?
12 HERMANN:
Na, immerhin ziehst du nach Florenz, um mit einer höchst bemerkenswerten Frau wie Ricarda Siegel eine Wohnung zu teilen.
CHRISTINE:
Wenn es dich beruhigt: ich bin aufgeregt. Und Ricarda auch. Ich bin einsam ohne Erich, und sie ist einsam ohne Arnold. (Sie unterbricht die Packerei.) Hermann, tust du mir einen Gefallen?
HERMANN:
Jeden.
CHRISTINE:
Dann trink endlich. Wenn das Wasser nicht mehr sprudelt, wirst du mir das nie verzeihen. Ich kenne dich.
Hermann trinkt einen Schluck, dann springt er, wie von der Tarantel gestochen, auf.
HERMANN:
Halt !!!!
CHRISTINE:
Was ist jetzt passiert?
HERMANN:
Das ist doch kein „Gerolsteiner“, das ist „Fürstenquelle“.
CHRISTINE:
(ironisch) Oh Gott, ich bin ertappt!
Hermann stürmt zur Hausbar und hält anklagend die Flasche hoch.
HERMANN:
Da steht es schwarz auf weiß: „Fürstenquelle“.
CHRISTINE:
Und ich naives Geschöpf habe gehofft, noch einmal davonzukommen …
HERMANN:
Nicht bei mir. Die meisten Leute merken den Unterschied nicht, aber ich habe sehr sensible Geschmacksnerven.
CHRISTINE:
Dann musst du deine Frau angesichts ihrer Kochkünste sehr geliebt haben.
HERMANN:
Über so was macht man keine Witze.
13 CHRISTINE:
Entschuldige. Kannst du mir vergeben, oder bin ich für ewig verdammt?
HERMANN:
Das hängt davon ab, was du sonst noch für Wasser hast.
Christine geht seufzend wieder zur Eisbox und schaut hinein.
CHRISTINE:
Ich habe noch Soda … und … und … Soda.
HERMANN:
Also dann Soda.
Sie holt die Flasche heraus und nimmt ein sauberes Glas vom Regal.
HERMANN:
Kein Mensch hat mir je nachgesagt, dass ich schwierig bin, aber …
Sie öffnet die Flasche und schenkt ein.
CHRISTINE:
Hurra! Es sprudelt wie ein Schaumbad. Das muss gefeiert werden – ich werde dann die „Fürstenquelle“ trinken. (Sie reicht Hermann das Soda, nimmt sein Glas und stößt an.)^
HERMANN:
Ich trinke im Gedenken an Erich Rieder.
CHRISTINE:
Und ich auf Ilse Löwy.
Beide trinken, dann stellt Christine das Glas ab und geht zum Bücherregal und packt wieder Bücher ein.
HERMANN:
Gestern Abend, als ihr im Restaurant über Erichs gute Eigenschaften gesprochen habt … was hast du da gesagt?
CHRISTINE:
Ich habe gesagt, dass er lieb war, zärtlich und rücksichtsvoll.
HERMANN:
Wäre ich dort gewesen, hätte ich etwas ganz anderes hervorgehoben.
CHRISTINE:
Und zwar?
14 HERMANN:
Seine menschliche Wärme. Er hat mehr Wärme verbreitet, als irgendein Pelzmantel, den er je verkauft hat.
CHRISTINE:
Er hat dich auch sehr gern gehabt. Auch deine Frau. Und das gilt auch für mich. (Sie beginnt wieder zu packen. Er geht zu ihr.)
HERMANN:
Also, es sieht ja nun so aus, als ob du nach Florenz ziehen würdest.
CHRISTINE:
Stimmt. So sieht es aus.
HERMANN:
Wann kommen die Möbelpacker?
CHRISTINE:
Sie sind schon da.
HERMANN:
Wo?
CHRISTINE:
In der Küche. Eigentlich sollten sie meine Bücher einpacken, aber das können sie nicht, weil ich Besuch habe.
HERMANN:
Wann kommen die Leute mit dem Lastwagen?
CHRISTINE:
Morgen Früh um acht. Es sind übrigens dieselben Leute, die jetzt in der Küche sind. Wenn du sie noch kennenlernen willst, hole ich sie herein.
HERMANN:
Nicht nötig. Sie werden als Möbelpacker bezahlt, nicht als Partygäste. (Pause) Mit anderen Worten: Die Speditionsleute fahren morgen, und du fährst am Samstag.
CHRISTINE:
Das stimmt nur zur Hälfte: Die Speditionsleute fahren morgen, und genau das habe ich auch vor. Mein Flug geht um 17 Uhr 15.
HERMANN:
Wieso morgen? Du hast mir gesagt, du fliegst am Samstag, den siebten Februar.
CHRISTINE:
Hermann, bitte diskutiere mit mir nicht über ein Datum. Das Thema liegt dir nicht.
15 HERMANN:
Eines musst du mir erklären: Wenn deine Freundin Ricarda nicht zwei Esszimmer, drei Wohnzimmer und vier Schlafzimmer hat – wie wird dein ganzes Umzugsgut jemals in ihre Wohnung passen?
CHRISTINE:
Überhaupt nicht. Daher werden meine Möbel eingelagert. Nach Florenz schicke ich nur meine Kleider, meine Bücher, meine Schallplatten und einige persönliche Erinnerungsstücke.
HERMANN:
Aha. Werden dir diese Möbel nicht fehlen, in die dein Mann soviel Liebe und Geld investiert hat?
CHRISTINE:
Ich versuche, praktisch zu denken. Ricardas Wohnung ist perfekt und schön möbliert. Sie hat sie sich von einer großartigen Innenarchitektin einrichten lassen.
HERMANN:
Wer war das?
CHRISTINE:
Ich.
HERMANN:
Sind ihre Tapeten auch so schön?
CHRISTINE:
Fast.
HERMANN:
Wenn ich mich recht erinnere, hast du diese hübsche blaue von mir bekommen – zum Selbstkostenpreis.
CHRISTINE:
Plus zwölf Prozent.
HERMANN:
Elf. (Er trinkt einen Schluck.) Ich nehme an, dass Ricarda dir etliche Kunden verschaffen wird?
CHRISTINE:
Sie versucht es.
HERMANN:
Dann wird es ihr auch gelingen. Man kann sie weder überhören, noch übersehen, wenn sie mit ihren hundert Kilo irgendwo auftaucht.
CHRISTINE:
Hundert Kilo? Sie wiegt höchstens siebzig …
16 HERMANN:
Und was ist mit dem Gewicht von Schminke und Schmuck?
CHRISTINE:
Das ist eine unverschämte Übertreibung. – Zugegeben: Sie ist kein Mauerblümchen … aber sie ist unterhaltsamer, als die meisten Menschen, die ich kenne. Anwesende ausgenommen.
HERMANN:
Sie dürfte auch den Weltrekord im Dauerreden halten. Ein Gerücht besagt, dass sie, als Arnold klugerweise das Zeitliche gesegnet hat, dass sie noch drei Tage lang weiter auf ihn eingeredet hat, bis ihr endlich aufgefallen ist, dass er kein Interesse mehr zeigt. (Er setzt sich aufs Sofa und stellt das Glas auf den Tisch. Christine nimmt einen Bildband aus dem Regal und betrachtet ihn.)
CHRISTINE:
„Kostbarkeiten aus dem Louvre“. Weißt du, von wem ich das habe?
HERMANN:
Keine Ahnung.
CHRISTINE:
Das hat mir Ilse geschenkt, als wir vor Jahren zu viert in Paris waren. Erinnerst du dich noch? Das war eine wunderschöne Woche, damals in Paris … was wir damals alles gesehen haben …
HERMANN:
… und wie mir die Füße wehgetan haben … Wie hieß noch mal dieses riesige Museum damals, durch das sie uns zwei Tage lang geschleppt hat?
CHRISTINE:
Dieses Museum hieß damals „Louvre“. Und so heißt es noch immer.
HERMANN:
Das habe ich verdrängt. Alles, was ich noch weiß, ist, dass ich damals neue Schuhe angehabt habe, die fürchterlich gedrückt haben.
CHRISTINE:
Und die Mona Lisa mit ihrem rätselhaften Lächeln …?
HERMANN:
Ich hab schon mehr gelacht, aber kein Mensch hat mich deswegen gemalt.
CHRISTINE:
Hat dir denn gar nichts gefallen in Paris?
17 HERMANN:
Doch. Der „Denker“ von Rodin. Ich weiß noch, wie ich den beneidet habe.
CHRISTINE:
Warum?
HERMANN:
Weil er keine Schuhe angehabt hat.
CHRISTINE:
Du bist unmöglich. (Sie klappt das Buch zu, geht zum Karton und legt es hinein.)
HERMANN:
(steht auf und geht zu ihr) Also, nehmen wir mal an, dass du in Florenz irgendwelche Kunden findest. Deine Lieferanten bleiben doch alle hier.
CHRISTINE:
Ich bin sicher, dass ich in Italien auch welche finden werde.
HERMANN:
Auch für Tapeten?
CHRISTINE:
Nein. Ich verspreche dir, dass ich Tapeten auch weiterhin von dir beziehen werde.
HERMANN:
Gut. Dann bleibt dir nur noch eine Sorge: Wie wirst du hunderte Kilometer entfernt von deinen Kindern und Enkeln leben können?
CHRISTINE:
Die Flugzeit nach Florenz beträgt zwei Stunden. Ich kann jederzeit meine Familie besuchen und umgekehrt.
HERMANN:
Hoffentlich erkennen sie dich wieder, wenn sie dich besuchen.
CHRISTINE:
Warum sollten sie mich nicht wieder erkennen?
HERMANN:
Weil du in Italien ein halber Mensch sein wirst. Hilflos, wie ein Fisch ohne Wasser. Du bist Berlinerin und gehörst nach Berlin.
CHRISTINE:
Ricarda ist auch Berlinerin, und sie ist nicht hilflos wie ein Fisch ohne Wasser.
HERMANN:
Du bist nicht Ricarda. Die ist doch gar kein Fisch, die ist ein gepanzertes Amphibienfahrzeug.
18 CHRISTINE:
Dein Sohn war auch Berliner. Ist er jetzt ein Fisch ohne Wasser?
HERMANN:
Mein Sohn lebt nicht in Florenz, sondern in Düsseldorf …
CHRISTINE:
Und geht es ihm dort gut, oder nicht?
HERMANN:
Es geht ihm gut. Er hat dort alles, was er sich je erträumt hat. Ein Haus mit Swimmingpool und Tennisplatz, einen dicken Mercedes … zwei bezaubernde Kinder … zwei bezaubernde Ex-Gattinnen …
CHRISTINE:
Seine florierende Praxis hast du vergessen.
HERMANN:
Ein Schönheitschirurg in Düsseldorf muss reich werden, ob er will oder nicht. Aber in Italien …
Christine trinkt einen Schluck, dann fasst sie einen Entschluss.
CHRISTINE:
Hermann, ich habe eine Frage an dich.
HERMANN:
Du willst wissen, ob ich zum Abendessen bleibe? Meine Antwort ganz spontan: „Ja!!“
CHRISTINE:
Das geht nicht. Die Speditionsleute bleiben bis acht, und ich werde mindestens bis zehn weitermachen.
HERMANN:
Überanstrenge dich nicht. Mach ab und zu mal ’ne Pause, guck mal aus dem Fenster: so etwas Schönes siehst du in Florenz bestimmt nicht!
CHRISTINE:
Ich versuche es noch einmal. Hermann, ich habe eine Frage an dich!
HERMANN:
Du hast – wie immer – meine ungeteilte Aufmerksamkeit. (Er setzt sich aufs Sofa. Christine stellt ihr Glas ab.)
CHRISTINE:
Angesichts der Tatsache, dass in meinem Leben eine große Veränderung bevorsteht, von der ich erwarte, dass sie eine Verbesserung bringt, und angesichts der Tatsache, dass wir uns
19 (CHRISTINE:)
mehr als dreißig Jahre kennen, und obwohl wir nicht immer der gleichen Meinung sind, glaube ich doch, dass du mir zutrauen solltest, meine wesentlichen Entscheidungen allein zu treffen, und angesichts der Tatsache, dass ich mich entschlossen habe, nach Florenz zu ziehen – und jetzt kommt endlich meine Frage: Glaubst du nicht, dass es dir gut zu Gesicht stehen würde, meine Entscheidung zu respektieren, mir Glück zu wünschen und mir wenigstens versuchsweise weniger auf die Nerven zu gehen?
HERMANN:
Ich bin dir dankbar für diese Frage, denn ich habe eine ungemein treffende Antwort. (Er greift in seine Rocktasche und wirft dabei den Polster um, hinter dem Christine die Tapetenmuster versteckt hat.) Was ist das?
CHRISTINE:
Das sind Papierrollen.
HERMANN:
Mir kommen sie eher wie Tapetenmuster vor. (Er betrachtet die Firmenaufschriften.) Das sind Tapetenmuster – und wenn ich dieser Aufschrift glauben darf – sind sie von der Firma Strohmeier & Co.
CHRISTINE:
Willst du, dass ich mich schuldig fühle?
HERMANN:
Schuldig? Warum? Nur weil auf keinem dieser Tapetenmuster der Name Hermann Löwy auftaucht? (Er bekommt keine Antwort, daher steht er auf und setzt fort::) Christine, wir leben in einem freien Land. Du hast daher das Recht, dir einen Geschäftspartner auszusuchen, der dich nicht seit über dreißig Jahren kennt und der nicht der beste Freund deines verstorbenen Mannes war. Also bitte fühle dich überhaupt nicht schuldig!
CHRISTINE:
Tu ich auch nicht.
Hermann hält die Tapetenrolle drohend in die Höhe.
HERMANN:
Warum hast du dann diese Muster vor mir versteckt?
20 CHRISTINE:
Ich habe sie nicht versteckt. Ich habe sie nur woanders hingelegt, damit du sie nicht siehst.
HERMANN:
Und warum?
CHRISTINE:
Um dein empfindliches Ego nicht zu verletzen.
HERMANN:
Hast du nicht. Du hast es eher amüsiert, denn das sind drei Muster von erlesener Scheußlichkeit. (Er wirft die Rollen verächtlich auf den Tisch.)
CHRISTINE:
Vielleicht amüsiert es dich auch zu erfahren, dass die Hermann Löwy KG diese drei Muster ebenfalls im Sortiment hat.
HERMANN:
Nur zwei davon. Das mit dem Obst haben wir aufgegeben.
CHRISTINE:
Ist es nicht eine wundersame Fügung des Schicksals, dass Ricarda genau das mit dem Obst ausgesucht hat? (Sie merkt, dass sie sich verplappert hat. Die Strafe folgt auf dem Fuße.)
HERMANN:
Ricarda? Ricarda Siegel? Du bestellst Tapeten von Strohmeier & Co für eine Wohnung, in der du selbst zu wohnen gedenkst?
CHRISTINE:
Nur für den Abstellraum. Sie hat darauf bestanden, etwas bei Strohmeier zu kaufen wegen ihres Mannes.
HERMANN:
Der ist doch tot.
CHRISTINE:
Ach so. – Ja, sein Neffe arbeitet dort.
HERMANN:
Als du versprochen hast, Tapeten nur von mir zu beziehen …
CHRISTINE:
Da habe ich gelogen. Ich habe auch gelogen, als ich dir „Fürstenquelle“ statt „Gerolsteiner“ eingeschenkt habe – und um deine empfindlichen Geschmacksnerven zu schädigen, habe ich Zyankali hineingetan. (Sie trinkt das Glas in einem Zug leer.) Lebwohl Hermann, ich verdiene nicht länger zu leben.
21 Sie stellt das Glas ab, lässt sich in den Sessel fallen, streckt alle Viere von sich und spielt tot.
HERMANN:
Christine.
CHRISTINE:
Zu spät. Ich bin schon tot. Hallo, Ilse … Hallo, Erich … (Sie lässt die Arme fallen und bleibt regungslos.)
HERMANN:
Christine.
Sie reagiert nicht.
HERMANN:
(fragt) Willst du mich heiraten?
Christine öffnet die Augen, sonst bewegt sie sich nicht.
CHRISTINE:
Ob ich was will?
HERMANN:
Ob du mich heiraten willst.
CHRISTINE:
(setzt sich ruckartig auf) Gratuliere Hermann. Du verstehst es, Tote zu wecken.
HERMANN:
Ich wollte dir die Frage eigentlich galanter stellen, aber mir ist nichts eingefallen. Also – heiratest du mich?
CHRISTINE:
(ungläubig) Ob ich dich heirate? Ob ich … dich … heirate?
HERMANN:
Nun, das ist ungefähr die Richtung, in die meine Frage zielt.
CHRISTINE:
Das ist doch nicht dein Ernst? Oder ist das dein Ernst?
HERMANN:
Ja. Würde ich sonst in einem arktischen Schneesturm herkommen und riskieren, dass ich beim Weggehen kein Taxi finde?
CHRISTINE:
Oh mein Gott! Er meint es wirklich ernst!
HERMANN:
Ich finde, dass es für uns beide das Vernünftigste wäre …
22 CHRISTINE:
Wieso?
Hermann entnimmt seiner Brusttasche seine Lesebrille, sowie ein gefaltetes Papier. Er setzt umständlich die Brille auf, entfaltet das Papier und liest vor.
HERMANN:
Erstens:
CHRISTINE:
Du hast eine Liste aufgestellt.
HERMANN:
Richtig. Vier Gründe, warum wir heiraten sollten.
CHRISTINE:
Wann hast du diese Liste geschrieben?
HERMANN:
Gestern Abend, nachdem ich mich meinem Buchhalter unterworfen habe. Aber ich habe schon seit drei Monaten mit dem Gedanken gespielt.
CHRISTINE:
Warum hast du mir das nie gesagt? In den letzten Monaten waren wir doch fast unzertrennlich. Einmal im November und einmal im Januar …
HERMANN:
Ich habe mir eine gewisse Zurückhaltung auferlegt. Ich wollte ganz sicher sein, dass meine Überlegungen absolut logisch sind. Jetzt weiß ich, dass sie es sind – und zwar aus folgenden Gründen: Erstens:
CHRISTINE:
Hermann, hör auf! Ich flehe dich an … ich meine … ich bin sehr geschmeichelt … und so … aber wenn wir heiraten, wäre das nicht nur unlogisch, es wäre der nackte Wahnsinn!
HERMANN:
Das Mindeste, was ich von dir erwarte, ist, dass du mir unvoreingenommen zuhörst.
CHRISTINE:
Ich werde trotzdem „Nein“ sagen.
HERMANN:
Dann hör mir wenigstens voreingenommen zu.
Sie seufzt resigniert. Er betrachtet sein Papier und spricht in geschäftlichem Ton.
23 HERMANN:
Erstens: der ökonomische Faktor. Zwei Leute leben zusammen billiger als jeder für sich. Wenn du zu mir in meine Wohnung ziehst, werde ich dir keine Miete berechnen. Es wird nur eine Telefon-, eine Strom- und eine Gasrechnung geben. Wir können zusätzlich Geld sparen, indem wir unsere Lebensmittel und Toilettenartikel in Familienpackungen erwerben.
CHRISTINE:
Habe ich das Recht auf Fragen und Kommentare?
HERMANN:
Selbstverständlich.
CHRISTINE:
Auf solchen Listen steht normalerweise als Punkt eins: „Ich bin wahnsinnig verliebt in dich“.
HERMANN:
Diesen Aspekt behandle ich unter … (Blick auf den Zettel.) … Punkt drei. Auch unter Punkt vier.
CHRISTINE:
Als Erich mir einen Heiratsantrag gemacht hat, war das Punkt eins. War es nicht auch bei dir und Ilse der erste Punkt?
HERMANN:
Ich kann mich nicht mehr erinnern.
CHRISTINE:
Jede Wette …
HERMANN:
Du könntest Recht haben. Aber: Als ich Ilse einen Heiratsantrag unterbreitet habe, war ich völlig pleite, ich habe also den ökonomischen Faktor bewusst vernachlässigt.
CHRISTINE:
(will zu einem Ende kommen) Also was ist Punkt zwei?
HERMANN:
(blickt auf das Papier) Zweitens: unser Alter. Womit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass wir beide nicht mehr die Jüngsten sind … in unserem Alter kann man von der Zukunft nicht mehr allzu viel erwarten. Daher stehe ich auf dem Standpunkt, wir sollten einander packen, solange wir noch packen können.
CHRISTINE:
Was ist Punkt drei?
24 HERMANN:
Der Anpassungsfaktor. Wir kennen uns seit mehr als dreißig Jahren. Wir wären also nicht die handelsüblichen Neuvermählten, die voneinander nur die Oberfläche kennen und Monate bzw. Jahre brauchen, um draufzukommen, woraus der Ehepartner eigentlich … (Er wendet den Zettel und liest den Schluss des Satzes.) … besteht. Viertens:
CHRISTINE:
Nicht so schnell! Du hast gesagt, dass der Punkt drei die Liebe behandelt.
HERMANN:
Das stimmt auch. Hier steht: (Er liest.) Wenn zwei Menschen so viele Jahre einander zugeneigt sind, wie wir, dann kann sich aus dieser Zuneigung durchaus Liebe entwickeln. (Er sieht sie an.) Angesichts deiner negativen Haltung habe ich diesen Passus übersprungen.
Christine steht auf und geht zu ihm.
CHRISTINE:
Das mit der Zuneigung ist richtig. Aber es ist ein Riesensprung von Zuneigung bis … bis …
HERMANN:
Mein Bett zu teilen?
CHRISTINE:
Ja. Wenn ich ehrlich sein soll …
HERMANN:
Dazu komm ich jetzt! Viertens: der physische Faktor. Womit ich andeuten will, dass ich einen ganz normalen biologischen Drang habe, was Sex betrifft.
CHRISTINE:
Hermann, würdest du die Güte haben, angesichts deines Alters das Wort „normal“ zu definieren?
HERMANN:
Ich will mehr, als ich bekommen kann.
CHRISTINE:
Das nenne ich eine klare Definition.
25 HERMANN:
Das war schon vor meiner Ehe ein echtes Problem – und nachher erst recht.
CHRISTINE:
Ich weiß.
HERMANN:
Woher weißt du das?
CHRISTINE:
Ilse hat mir davon erzählt.
HERMANN:
Was hat sie dir erzählt?
CHRISTINE:
Dass du immer sehr … sehr … motiviert warst.
HERMANN:
Stimmt. Und ich darf mit Stolz vermerken, dass ich es immer noch bin. (Pause) Was hat sie dir sonst noch von mir erzählt?
CHRISTINE:
Dass du ein guter Tänzer warst. – Das warst du wirklich. Nicht wie mein Erich. Ich habe ihm oft gesagt: „Erich, wenn du so tanzen könntest wie der Hermann, dann wärst du wirklich vollkommen!“
HERMANN:
Lenk nicht ab. Was hat dir Ilse noch für Bettgeschichten von mir erzählt?
CHRISTINE:
Keine.
HERMANN:
Das glaub ich dir nicht. Du hast Angst, dass sie dich hören könnte … (deutet aufwärts) … da oben … und willst sie nicht in Verlegenheit bringen.
CHRISTINE:
Lächerlich. Wenn ich jemanden nicht in Verlegenheit bringen will, dann bist es du.
HERMANN:
Versuche es. Deine Erfolgschancen sind gleich null. Aber bitte … versuche es nur.
CHRISTINE:
Bitte sehr, wenn du darauf bestehst … die einzige Bettgeschichte, die sie mir erzählt hat, war … immer wenn du in amouröser Laune warst, sollst du gesagt haben: „Liebling, bist du bereit, den großen bösen Wolf zu empfangen?!“
26 HERMANN:
Das hat sie dir erzählt? Das glaube ich nicht.
CHRISTINE:
Na? Bist du jetzt verlegen?
HERMANN:
Ein bisschen.
CHRISTINE:
Wieso nur ein bisschen?
HERMANN:
Weil ich das niemals in diesem Ton gesagt habe, sondern viel romantischer.
CHRISTINE:
Romantisch? Wie hast du denn das gemacht?!
HERMANN:
Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, beim physischen Faktor. Ich nehme an, dass du auch gewisse biologische Bedürfnisse hast, und diese Bedürfnisse – genau wie die meinen – brach liegen wie die Wüste Gobi. Daher … diesen Teil habe ich auswendig gelernt … Christine, ich glaube, dass du eine wunderbare Frau bist, und ich wäre stolz und geehrt, wenn du meine Frau werden wolltest. Und damit beschließe ich die Werbeveranstaltung in eigener Sache.
Er faltet das Papier zusammen, nimmt die Brille ab und steckt beides wieder in die Brusttasche. Christine neigt sich zu ihm und küsst ihn auf die Wange.
HERMANN:
Soll das heißen, dass meine Werbung erfolgreich war?
CHRISTINE:
Damit will ich angedeutet haben, dass ich stolz und geehrt bin, hoffentlich auch weiterhin – mit dir befreundet zu sein.
HERMANN:
Aber heiraten willst du mich nicht?
CHRISTINE:
Ich kann nicht.
Hermann steht auf, zieht Schal, Mantel und Hut an.
HERMANN:
Ich werde in spätestens fünfzehn Sekunden dieses Haus verlassen haben.
27 Christine springt auf und geht auf ihn zu. Beschwörend:
CHRISTINE:
Hermann, wie kann ich dich heiraten? Wie kannst du mich heiraten? Das geht doch nicht. Für mich warst du immer Ilses Mann, und du wirst mich immer nur als Erichs Frau sehen. Stimmt das nicht? Werden wir nicht immer an die vielen Jahre denken, die wir zu viert verbracht haben?
HERMANN:
Leb wohl, Christine. Viel Glück in Florenz und schöne Grüße an Ricarda.
Er geht zur Wohnungstür, Christine überholt ihn und blockiert die Türe.
CHRISTINE:
So kann ich dich nicht davongehen lassen.
HERMANN:
Wie?
CHRISTINE:
Verletzt und verärgert.
HERMANN:
Ich bin weder dies noch jenes. Ich versuche nur mich zu entfernen, solange wenigstens Reste meiner Würde intakt sind. (Er versucht an ihr vorbeizukommen, doch sie hält ihn zurück.)
CHRISTINE:
Hermann, verstehst du mich nicht? Wir sind noch nie über irgendetwas einer Meinung gewesen. Seit wir uns kennen, hat es zwischen uns Sticheleien gegeben. Meistens waren es nur winzige Nadeln, mit denen wir gestichelt haben, aber wenn wir einmal verheiratet sind, werden es scharfe Messer sein.
HERMANN:
Mag sein. Darf ich jetzt deine Wohnung verlassen?
Sie tritt zur Seite. Hermann will das Sicherheitsschloss der Tür öffnen, aber er schließt es. Er versucht, die Tür zu öffnen, kann es aber nicht. Christine öffnet das Schloss für ihn und öffnet die Tür. Er geht wortlos hinaus und schlägt die Tür hinter sich zu. Christine blickt ihm einen Moment nach, dann geht sie nachdenklich in Richtung Küche – da läutet es an der Tür. Sie geht zurück, und herein kommt Hermann.
CHRISTINE:
Lang nicht mehr dagewesen, was?
28 HERMANN:
Ich kann nicht zulassen, dass du dir das antust.
CHRISTINE:
Was?
HERMANN:
Lebenswichtige Entscheidungen trifft man nicht so übereilt. Du bist es dir schuldig, meinen Antrag zu überdenken – und zwar gründlich!
CHRISTINE:
Wie lange?
HERMANN:
(mit Blick auf die Uhr) Drei Stunden. Dann hole ich dich ab, führe dich zum Essen aus, und wie immer dann deine nicht übereilt getroffene Entscheidung aussehen wird – ich erkläre mich bereit, sie zu akzeptieren. Ehrenwort.
CHRISTINE:
Hermann, es ist mein letzter Abend hier. Ich habe noch so viel zu tun …
HERMANN:
Nur einen schnellen Imbiss. Ein kleiner Imbiss im Gedanken an eine dreißigjährige Freundschaft.
Christine nach kurzem Überlegen, grimmig:
CHRISTINE:
Also bitte. Es ist mir ein Vergnügen.
HERMANN:
Gut … ich will deine Gastfreundschaft nicht strapazieren.
Er lüftet den Hut, verneigt sich kurz und geht. Christine ist eben im Begriff, die Tür zu verriegeln, da läutet es wieder. Sie öffnet, und Hermann erscheint.
HERMANN:
Mir ist noch ein Punkt eingefallen: der religiöse Aspekt. (Im Tonfall eines großzügigen Zugeständnisses.) Sollten wir Kinder kriegen, darfst du sie katholisch aufziehen. (Er lüftet wieder den Hut und geht.)
BLACKOUT
29 2. Szene
Donnerstag, früher Abend. Die Gläser und Flaschen sind weggeräumt. Ebenso die Tapetenmuster. Neben dem Eingang zur Küche stehen einige fertig gepackte Kartons. Neben der Tür zum Schlafzimmer zwei volle Kleiderkartons. Beim Bücherregal sind Kabulski und Langer mit Einpacken beschäftigt. Das Regal ist schon fast leergeräumt. Die beiden Herren arbeiten in ihrem gewohnten Tempo: Kabulski schnell und zielstrebig, Langer lässig und desinteressiert.
LANGER:
Kabulski, weißt du, worüber ich gerade nachdenke?
KABULSKI:
Ja, wie du weniger arbeiten und noch mehr reden könntest.
LANGER:
Blödsinn. Ich möchte wissen, wieso diese Frau Sowieso keinen Mann hat. Sind die geschieden oder ist der Herr Sowieso schon über den Jordan?
KABULSKI:
Der Herr Sowieso – bekannt als Herr Rieder – hat gestern vor einem Jahr – wie man so sagt – das Zeitliche gesegnet.
LANGER:
Woher weißt du solche Sachen?
KABULSKI:
Ein guter Möbelpacker muss wissen, für wen er arbeitet. So wissen unsere Kunden, dass wir sie als Menschen betrachten und nicht als „Trinkgeld-Automaten“.
Christine kommt aus dem Schlafzimmer. Sie trägt einen Schlafrock und Hausschuhe.
CHRISTINE:
Meine Herren, es tut mir wirklich leid, aber ich müsste etwas aus dem Kleiderkarton herausholen.
LANGER:
Zu spät. Da sind schon die Klebebänder drum!
KABULSKI:
Es ist nicht zu spät, gnädige Frau. Wenn wir irgendwie behilflich sein können … (Er öffnet die Versiegelung eines Kartons.)
CHRISTINE:
Ich brauche ein Kleid. Der Herr von vorhin besteht darauf, mich zum Essen auszuführen.
30 KABULSKI:
(ganz Kavalier der alten Schule) Ich kann den Herrn gut verstehen.
CHRISTINE:
Danke, Herr Kabulski.
LANGER:
Kabulski, ich könnte eine Pause vertragen. Sollten wir nicht essen gehen?
KABULSKI:
Ich weiß noch nicht.
Christine nimmt ein Kleid aus dem Karton und betrachtet es.
LANGER:
Wann wirst du es wissen?
KABULSKI:
Wenn ich Hunger habe.
CHRISTINE:
Ich glaube, das hier wird gehen. Sie können den Karton wieder zumachen. Ich nehme das Kleid dann im Koffer mit.
KABULSKI:
Langer.
LANGER:
Was ist?
KABULSKI:
Mach den Karton zu.
LANGER:
Jetzt bist du dran. Ich habe ihn schon einmal zugeklebt.
KABULSKI:
Und weil du das so gut gemacht hast, darfst du es gleich noch einmal tun.
LANGER:
(während er den Karton zuklebt) Kabulski, mich würde wirklich interessieren, warum du mich ununterbrochen herumkommandierst.
KABULSKI:
Vielleicht liegt es daran, dass ich schon 26 Jahre bei der Firma bin und du erst drei Wochen.
Christine erscheint mit dem Kleid.
CHRISTINE:
Ich glaube, das Kleid ist zu sommerlich für die Jahreszeit.
31 LANGER:
Sie könnten ja einen dicken Pullover darüber anziehen.
KABULSKI:
Langer, spiel nicht den Modeberater. Mach lieber den anderen Karton auf.
Langer wirft ihm einen Blick zu und öffnet den Karton.
CHRISTINE:
Herr Kabulski, ich möchte, dass Sie und Ihr Kollege eine Essenspause einlegen. Ich würde Ihnen gern was anbieten, aber ich habe überhaupt nichts Essbares mehr im Haus. Also gehen Sie in ein nettes Restaurant, und bringen Sie mir die Rechnung.
KABULSKI:
Das ist sehr freundlich, gnädige Frau, aber wirklich nicht nötig.
LANGER:
Was ??!!
KABULSKI:
Wir holen uns irgendwo ein paar Brötchen. Dann sind wir schnell fertig und brauchen Ihnen keine Überstunden zu berechnen.
Der Karton ist offen. Christine geht die Kleider durch.
LANGER:
Brötchen? Warum nicht wenigstens eine Pizza?
Christine holt ein weiteres Kleid heraus.
CHRISTINE:
Das dürfte gehen. (Sie reicht Langer das erste Kleid.) Und das können Sie wieder einpacken. Tut mir leid, Sie bemüht zu haben, Herr Langer.
LANGER:
Das geht in Ordnung, Frau … (der Name fällt ihm nicht ein) … geht in Ordnung.
Außer einer Schallplatte, der Bonbonniere, sowie einigen Flaschen und Gläsern an der Hausbar ist nun alles eingepackt. Kabulski geht zur Bar.
CHRISTINE:
Herr Kabulski, ich würde Sie bitten, die Sachen von der Hausbar noch nicht einzupacken. Es kann sein, dass ich meinem Kavalier noch einen schnellen Gute-Nacht-Schluck anbieten muss.
32 Sie geht ins Schlafzimmer. Kabulski sieht sich um.
KABULSKI:
So. Jetzt tragen wir alle Kartons auf den Flur, damit es der Gast von Frau Rieder ein bisschen gemütlicher hat. (Die beiden schleppen die Kartons ins Vorzimmer.)
LANGER:
Hör mal, Kabulski, du bist asozial! Was hast du dagegen, dass sie uns die Restaurantrechnung bezahlt? Und warum sollen wir keine Überstunden machen? Wir brauchen das Geld mindestens so sehr wie die Tante.
KABULSKI:
Pass auf, Langer. Ich bin Möbelpacker – und kein Politiker!
LANGER:
Was hat das damit zu tun?
KABULSKI:
Leute, die mir vertrauen, werden von mir nicht betrogen.
LANGER:
Ich hab Hunger. Wann gehen wir endlich essen?
KABULSKI:
Bald.
LANGER:
Wie bald?
KABULSKI:
Du wirst es schon noch erleben. (Pause) Langer, jetzt werde ich dir mal was sagen.
LANGER:
Das tust du die ganze Zeit.
KABULSKI:
Wenn es dir manchmal vorkommt, dass ich ein bisschen streng mit dir bin, dann geschieht das nur, weil ich einen erstklassigen Möbelpacker aus dir machen will.
LANGER:
Ich weiß überhaupt nicht, ob ich das kann. Ich glaube noch nicht, dass ich das will. Es muss doch noch was anderes im Leben geben, als Kartons voll packen und Möbel herumschleppen.
KABULSKI:
Stimmt. Zum Beispiel Stolz auf gute Arbeit.
33 LANGER:
Das interessiert mich auch nicht. Was mich interessiert, das sind tolle Klamotten, tolle Sportwagen und tolle Weiber.
KABULSKI:
Ich werd’ dich mit meinem Neffen Toni zusammenbringen. Der ist toll.
LANGER:
Wieso?
KABULSKI:
Der fährt einen tollen Porsche und hat tolle Klamotten. Aber, die werden dir nicht passen.
LANGER:
Wieso? Ist der so dick wie du?
KABULSKI:
Nee. – Der ist Transvestit.
BLACKOUT
34 3. Szene
Es ist noch immer Donnerstag, spät abends. Nur die Eintrittshalle ist erleuchtet. Dort befinden sich auch mehrere abgestellte Kartons. Die Tür geht auf, und Christine tritt ein, gefolgt von Hermann. Sie trägt einen Nerzmantel, er einen eleganten Anzug, darüber einen ebensolchen Wintermantel mit Homburghut. Während er die Türe schließt und verriegelt, legt sie Tasche und Schlüsselbund auf eine Ablage, dann dreht sie im Wohnzimmer das Licht an. Hermann deponiert seinen Hut auf einem Karton und zieht den Mantel aus. Christine nimmt ihm den Mantel ab und hängt ihn auf. Daneben läuft folgender Dialog.
HERMANN:
Ah, ich sehe, dass du einen Schlüsselring verwendest.
CHRISTINE:
Natürlich.
HERMANN:
Ich nämlich auch.
CHRISTINE:
Endlich etwas, das wir gemeinsam haben. Also, wie du heute aussiehst – ich kann mich gar nicht beruhigen.
HERMANN:
Um eine vollendete Dame auszuführen, muss man sich als vollendeter Gentleman verkleiden.
Sie dreht ihm den Rücken zu, öffnet ihren Pelzmantel und lässt ihn heruntergleiten in der Annahme, dass Hermann ihn ihr abnehmen wird. Doch auch er hat sich umgedreht, um in den Wohnraum hinunterzugehen. Demnach fällt der Pelz auf den Boden. Sie reagiert dementsprechend, hebt den Pelz auf und hängt ihn in die Garderobe. Hermann ist inzwischen zum Fenster gegangen und blickt hinaus.
HERMANN:
Du solltest noch einmal die herrliche Aussicht genießen.
CHRISTINE:
Was willst du trinken? Cognac, Sherry oder „Gerolsteiner“?
HERMANN:
Wo hast du auf einmal das „Gerolsteiner“ her?
CHRISTINE:
Ich habe die Möbelleute gebeten, mir welches zu besorgen, als sie zum Essen gegangen sind. Ich bin froh, dass sie schon Feierabend gemacht haben. Sie haben morgen einen schweren Tag.
35 HERMANN:
Warum?
CHRISTINE:
Weil sie erst einen Lastwagen beladen und dann noch damit nach Florenz fahren müssen.
HERMANN:
Nein, ich wollte wissen, warum du sie gebeten hast, „Gerolsteiner“ zu besorgen.
CHRISTINE:
Quasi als Entschädigung dafür, dass du mich ins „Maisonette“ ausgeführt hast.
HERMANN:
Das Lokal sollte eigentlich „Maisonepp“ heißen.
CHRISTINE:
Ich habe dich gewarnt. Das „Maisonette“ ist eins der teuersten Lokale der Stadt. Aber du hast gesagt – und ich zitiere wörtlich: „Christine, verschone mich mit Lappalien!“
HERMANN:
Ich weiß. Erinnere mich nicht daran.
CHRISTINE:
Wie teuer war es wirklich?
HERMANN:
Du wirst dich besser fühlen, wenn du es nicht weißt.
CHRISTINE:
Du hättest aber auch dem Ober nicht sagen sollen, dass er das Menü für uns zusammenstellen soll. Der hat bestimmt nur die teuersten Sachen ausgesucht.
HERMANN:
Ich wollte, dass es schnell geht. Du hast gesagt, du wolltest sobald wie möglich wieder zu Hause sein. Außerdem hat er nicht das ganze Menü zusammengestellt! Den Nachtisch durften wir selbst aussuchen.
CHRISTINE:
Hermann, es ist spät. Trinkst du jetzt noch was, oder nicht?
HERMANN:
Ich hätte gern ein Glas Sherry. Im „Maisonepp“ hätte der mindestens zehn Euro gekostet.
CHRISTINE:
Darf ich dir für meinen Anteil an der Rechnung einen Scheck anbieten?
36 HERMANN:
Du darfst, aber ich lehne ab. Es war ja nicht deine Schuld. Schuld ist der Kerl, der mir dieses Lokal in den leuchtendsten Farben empfohlen hat.
CHRISTINE:
Wer war das?
HERMANN:
Mein Buchhalter. Der muss mich ja betrügen, wenn er sich so ein Lokal leisten kann.
CHRISTINE:
Willst du einen trockenen Sherry oder einen süßen?
HERMANN:
Irgendeinen. Ich bin da nicht wählerisch.
CHRISTINE:
Dann kriegst du den trockenen. Es ist nur noch ganz wenig in der Flasche, wenn du das austrinkst, kann ich sie wegwerfen. Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen. Ich habe gewusst, dass das Lokal nicht billig ist, aber dass man dort derart ausgeraubt wird, das konnte ich nicht ahnen.
HERMANN:
Das glaub ich dir sogar. Sonst hättest du bestimmt nicht zum Nachtisch frische Walderdbeeren bestellt. – Im Februar.
Christine bringt ihm das Sherryglas.
HERMANN:
Bist du sehr böse, wenn ich lieber süßen Sherry hätte?
CHRISTINE:
Wenn du den süßen willst, warum hast du dann … (Sie stoppt mitten im Satz, um keine Szene zu provozieren.) Naja, kein Problem! Werde ich eben den trockenen trinken. (Sie geht zur Hausbar zurück und füllt ein zweites Glas mit süßem Sherry.)
HERMANN:
Hast du den Wetterbericht für morgen gehört?
CHRISTINE:
Nein, ich war voll mit Einpacken beschäftigt. Und ich bin immer noch nicht fertig.
HERMANN:
Schnee. Den ganzen Tag und die ganze Nacht wird es schneien. Auch am Flughafen.
37 Christine kommt mit den beiden Sherrygläsern und reicht ihm eines davon.
CHRISTINE:
Das beunruhigt mich nicht.
HERMANN:
Seit wann?
CHRISTINE:
Das Fliegen im Schnee macht mir nichts aus. Angst habe ich nur vorm Fliegen im Flugzeug. (Sie setzt sich ans andere Ende des Sofas und erhebt ihr Glas.) Auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in aller Welt.
HERMANN:
Und was noch wichtiger ist: auf uns.
CHRISTINE:
In welchem Zusammenhang?
HERMANN:
Mögen wir einander wieder begegnen. Irgendwann, irgendwo, irgendwie.
CHRISTINE:
Ich bin im Mai wieder hier. Zu Willys Firmung.
HERMANN:
Was für ein Willy?
CHRISTINE:
Willy Stein – mein Enkelsohn. Voriges Jahr haben wir sein Zimmer mit Tapeten der Hermann Löwy KG ausgestattet.
HERMANN:
Ah, Querstreifen, dieser Willy. Glaubst du, dass mich Susi und Hermann einladen werden?
CHRISTINE:
Nein, aber Barbara und Paul. Das sind nämlich die Eltern von Willy.
HERMANN:
Ist die Firmung Anfang oder Ende Mai?
CHRISTINE:
Am sechsten Mai.
HERMANN:
Heute ist der fünfte Februar. Das heißt, drei Monate ohne dich. Ich hoffe, dass ich das überlebe.
CHRISTINE:
Du wirst.
38 HERMANN:
Der Sherry ist wirklich gut. Süß, aber nicht zu süß … genau wie meine Gastgeberin.
CHRISTINE:
Danke. Vorausgesetzt, dass das ein Kompliment war.
HERMANN:
Natürlich. Aus einem Born langjähriger Erfahrung schöpfend, darf ich dir sagen, dass eine zu süße Frau hinter der Zuckerglasur meistens Haifischzähne verbirgt. Daher entwickelten meine Geschmacksnerven eine gewisse Vorliebe für würzige Frauen. Und um dir ein weiteres Kompliment zu zollen: Du bist der Würzigsten eine. (Er setzt sich näher an Christine heran.)
CHRISTINE:
Hermann, hast du die Absicht, mir physisch näherzutreten?
HERMANN:
Sollte dem so sein – wie wäre deine Reaktion?
CHRISTINE:
Vergleichbar einem Schlangenbiss. (Sie rutscht an das entfernte Ende des Sofas. Peinliche Stille, dann:)
HERMANN:
Das Abendessen hat 185 Euro gekostet.
CHRISTINE:
Mach keine Witze …
HERMANN:
Da ist allerdings das viel zu hohe Trinkgeld schon mit drin.
CHRISTINE:
Unglaublich.
HERMANN:
Im Einzelnen sieht das so aus: eine Flasche Wein: 30 Euro – geschätzter Einkaufspreis höchstens 2,50. Salat à la Maison – was immer das sein mag – 15 Euro pro Kopf, ein Boeuf Wellington für zwei – möchte wissen, was der Wellington in einem französischen Lokal zu suchen hat – 65 Euro. Zweimal Kaffee mit irgendeinem süßen Likör: 15 Euro, und als Krönung des Ganzen noch ein Mal frische Walderdbeeren … im Februar! … was die gekostet haben, sage ich dir lieber gar nicht.
CHRISTINE:
Hermann, bitte lass mich die Hälfte bezahlen.
39 HERMANN:
Nein.
CHRISTINE:
Dann lass mich wenigstens die Walderdbeeren bezahlen.
HERMANN:
Nein. Das Trinkgeld setzt sich folgendermaßen zusammen: 10 Euro für den Oberkellner, 5 Euro für den Kellner, zehn für den Geschäftsführer, der wie durch ein Wunder plötzlich aufgetaucht ist, als du deine letzte Walderdbeere in den Mund gesteckt hast, um zu säuseln: (mit übertriebenem französischen Akzent) „Monsieur, war alles ssu ihrer Ssufriedenheit?“ Hätte ich „nein“ gesagt, hätte er sich vermutlich vor unseren Augen die Pulsadern aufgeschnitten.
CHRISTINE:
Und das war ein Grund, ihm zehn Euro zu geben?
HERMANN:
Natürlich, sonst hätte er die Garderobiere beauftragt, ein Loch in Deinen Pelz zu brennen. Da fällt mir ein: Die hat auch noch fünf Euro bekommen. Also: alles in allem 185 Euro! (Trinkt aus.)
CHRISTINE:
Willst du noch einen Sherry?
HERMANN:
Das kommt drauf an, ob du mich schon loswerden willst oder noch dabehalten.
CHRISTINE:
Ein Kompromiss. Du bekommst noch ein halbes Glas Sherry – und dann gehst du nach Hause.
Sie steht auf und streckt die Hand nach seinem Glas aus. Er reicht es ihr nicht.
HERMANN:
Christine, red nicht drum rum! Sollte der heutige Abend nicht so verlaufen sein, wie du dir es vorgestellt hast, dann sag es – und ich gehe.
CHRISTINE:
Bleib, ich bestehe darauf. Der heutige Abend verläuft genau so, wie ich ihn mir vorgestellt habe. (Sie nimmt sein Glas und füllt es zur Hälfte mit Sherry.)
HERMANN:
Schön, dass du das sagst. Ich habe befürchtet, dass ich nicht mit all den Männern konkurrieren kann, denen du ständig das Herz
40 (HERMANN:)
brichst. Und das müssen ja Dutzende sein.
CHRISTINE:
Falsch. Es sind verschwindend wenige, und nur in großen Abständen. Und leider niemals die erste Wahl. Die erste Wahl – das sind die, die ohne ärztliches Attest ihr Haus verlassen dürfen und – die geben sich nur mit Damen ab, die ihre Enkelinnen sein könnten. Und kein Mensch findet das ungehörig, oder auch nur seltsam. Wenn aber eine Frau in den Sechzigern mit einem Mann ausgeht, der dreißig oder vierzig, oder sogar fünfzig ist, sind alle gleich schockiert.
HERMANN:
Wenn du mir erlaubst, zwischen den Zeilen zu lesen, dann könnte ich mir vorstellen, dass der richtige Mann dich hier festhalten könnte.
CHRISTINE:
Mein richtiger Mann ist vor einem Jahr gestorben. Und ich kenne nichts und niemanden, der ihn mir ersetzen könnte.
HERMANN:
Ist diese Haltung nicht ein bisschen negativ?
CHRISTINE:
Wie oft gehst du eigentlich mit Damen aus?
HERMANN:
Aus Gründen, die nichts mit Sex zu tun haben?
CHRISTINE:
Ich ziehe die Frage zurück.
HERMANN:
Warum? Muss man Sex verstecken, wie … wie Tapetenmuster?
CHRISTINE:
Es ist ein Riesenunterschied zwischen verstecken und protzen.
HERMANN:
Protzen? Wann habe ich geprotzt?
CHRISTINE:
Du lässt ständig durchblicken, dass du zwar ein Senior bist, aber trotzdem springlebendig wie ein Fohlen.
HERMANN:
„Fohlen“ bestreite ich entschieden. Wenn schon, dann „Hengst“.
CHRISTINE:
Was für ein Pferd du auch sein magst, solltest du in meine Richtung wiehern, dann betrachte mich als ausgediente Mähre.
41 HERMANN:
Willst du damit andeuten, dass dich Sex nicht mehr interessiert? So sehr kann sich doch kein Mensch verändern.
CHRISTINE:
Wir sollten unseren Sherry austrinken. (Beide nippen am Glas. Schweigen, dann:)
HERMANN:
Tja, es sieht also so aus, als ob du nach Florenz ziehen würdest.
CHRISTINE:
Gratuliere, du hast das im Gedächtnis behalten! Hermann, was immer die Leute auch über dich sagen mögen, deine grauen Zellen sind noch intakt.
HERMANN:
Und ich kann nichts tun, um dich umzustimmen?
CHRISTINE:
Richtig.
Hermann bewegt einen Polster näher zu ihr und schnüffelt.
HERMANN:
Wie heißt eigentlich das Parfüm, das du verwendest?
CHRISTINE:
Was interessiert dich daran?
HERMANN:
Ich möchte wissen, warum es mir das seltsame Gefühl vermittelt, dass ich innerlich brenne?
CHRISTINE:
Das ist wahrscheinlich ein Anfall von Rheuma. (Sie steht auf, setzt sich in einen Sessel und nippt am Sherryglas.) Wie geht es übrigens deinem Sohn?
HERMANN:
Stefan?
CHRISTINE:
Hast du noch einen anderen?
HERMANN:
Nein. Es geht ihm gut.
CHRISTINE:
Wieviel ist noch im Glas?
HERMANN:
Die Hälfte der Hälfte. Angesichts der Tatsache, dass das bis Mai mein letztes Zusammensein mit dir ist, habe ich vor, diese halbe
42 (HERMANN:)
Hälfte bis zum letzten Tropfen voll zu genießen.
CHRISTINE:
Wie oft sprichst du mit ihm?
HERMANN:
Wie oft spreche ich mit wem?
CHRISTINE:
Mit Stefan.
HERMANN:
Oh – ich telefoniere mit ihm – aufgerundet – also hochgerechnet einmal im Monat.
CHRISTINE:
Was, mit deinem einzigen Kind sprichst du nur einmal im Monat?
HERMANN:
Ich lebe hier, er in Düsseldorf … dazwischen liegen ein paar hundert Kilometer und dazu etliche Weltanschauungen.
CHRISTINE:
Wann habt ihr Euch zum letzten Mal gesehen? War das nicht vor drei Jahren, bei Ilses Begräbnis?
HERMANN:
Warum fragst du, wenn du es ohnehin weißt?
CHRISTINE:
Damit du dich einmal aufraffst, dich in ein Flugzeug setzt, um deinen Sohn und deine Enkelkinder wiederzusehen.
HERMANN:
Vielleicht. Im August ist in der Gegend eine Deko-Messe, und ich überlege …
CHRISTINE:
Hermann, überleg nicht, fahr. Nicht nur dir zuliebe … es wird deinen Enkelkindern gut tun zu erfahren, was ihr Großvater für ein großartiger Mensch ist.
HERMANN:
Wenn ich wirklich so ein großartiger Mensch wäre, dann wäre ich jetzt schon zumindest verlobt.
CHRISTINE:
Wieviel ist noch übrig?
HERMANN:
Die halbe Hälfte von der Hälfte. Ich wäre mit jener Frau verlobt, deren Duft mich wahnsinnig macht, auch wenn sie sich noch so weit wegsetzt, und die ich jetzt umarmen möchte und küssen – bis
43 (HERMANN:)
sie aufhört zu protestieren.
Christine stellt ihr Glas auf den Tisch und steht auf.
CHRISTINE:
Also, wie heute schon erwähnt, habe ich die Absicht, nach Florenz zu ziehen – falls ich mit dem Packen fertig werden sollte.
HERMANN:
Mir soll niemand nachsagen, dass ich den Wink mit dem Zaunpfahl nicht verstehe. (Er leert sein Glas, stellt es ab und geht auf sie zu.) Gute Nacht, Christine. Gute Nacht und Lebewohl.
CHRISTINE:
Ich ruf dich in ein paar Tagen an. Es ist mir wichtig, dass wir in Verbindung bleiben. (Sie versucht, ihre Hände freizubekommen.)
HERMANN:
Fahr nicht … bleib hier und heirate mich!
CHRISTINE:
Hermann, gib’s auf – ich flehe dich an.
Hermann sinkt auf ein Knie nieder und breitet die Arme aus.
HERMANN:
Nein, ich flehe dich an: heirate mich. Ein stolzer Mann sinkt auf die Knie vor dir.
CHRISTINE:
Du bist nur auf ein Knie gesunken.
Er sinkt auf beide Knie. Sie lacht.
CHRISTINE:
Das war ein schöner Film.
HERMANN:
Welcher Film?
CHRISTINE:
„Moulin Rouge“ – die Geschichte von Toulouse-Lautrec.
HERMANN:
Frau Rieder, ich darf mich für einen netten Abend bedanken, sowie für Kränkungen im Wert von 185 Euro. (Er schreitet hocherhobenen Hauptes in Richtung Ausgangstür. Sie läuft ihm nach und versucht, ihn zurückzuhalten.)
44 CHRISTINE:
Hermann, es tut mir leid – ich entschuldige mich …!
HERMANN:
Zu spät. Wir sind an jenem Punkt angelangt, wo Worte nichts mehr gutmachen können.
CHRISTINE:
Verzeih mir, ich will es wieder gutmachen.
HERMANN:
Wie?
CHRISTINE:
Ich gebe dir soviel Sherry, wie du trinken kannst. (Sie geleitet ihn zum Sofa, er setzt sich. Sie nimmt sein Glas und füllt es an der Bar.) Es tut mir wirklich leid, aber ich habe mir keinen Rat gewusst. Ich kann nicht so mir nichts dir nichts heiraten. Ich bin vorsichtig. (Sie bringt ihm das gefüllte Glas und setzt sich neben ihn.) Bevor Erich und ich geheiratet haben, sind wir drei Jahre miteinander gegangen.
HERMANN:
Ich bin impulsiv. Ilse und ich haben schon nach zwei qualvollen Monaten geheiratet.
CHRISTINE:
Qualvoll für dich oder für sie?
HERMANN:
Für beide. Sie wird dir sicher erzählt haben, dass sie bis zu unserer Hochzeitsnacht Jungfrau war.
CHRISTINE:
Hat sie.
HERMANN:
Naja, dann kannst du dir ja vorstellen … Wie war das eigentlich mit dir und deiner Hochzeitsnacht?
CHRISTINE:
Was hat dir Erich erzählt?
HERMANN:
Nichts. Er war da sehr ausweichend.
CHRISTINE:
Und Ilse?
HERMANN:
Nicht ein Wort zu diesem Thema.
45 CHRISTINE:
Ja also, ich war auch bis zur Hochzeitsnacht unberührt.
HERMANN:
Obwohl du drei Jahre lang mit Erich „gegangen“ bist?
CHRISTINE:
Wenn du glaubst, dass ich lüge, dann beweise es.
HERMANN:
Ach was, wozu in den alten Geschichten herumkramen? Mein Motto lautet: Heute muss man leben! Heute und jetzt!
Er stellt sein Glas ab, dann stürzt er sich plötzlich auf Christine und küsst sie auf den Mund. Ebenso plötzlich entzieht sie sich ihm und schlägt ihn auf den Arm.
CHRISTINE:
Hermann, bist du verrückt geworden?
HERMANN:
Christine, geh nicht weg. Du wohnst hier!
Christine nimmt vom Abstelltisch in der Diele ihre Handtasche.
CHRISTINE:
Ich bezahle jetzt mein Abendessen.
HERMANN:
Christine, es tut mir wirklich leid … ich habe mich vergessen …
Christine entnimmt ihrer Tasche Scheckbuch und Kugelschreiber, beginnt zu schreiben.
CHRISTINE:
Die Hälfte von 185 ist …
HERMANN:
92,50 … ich bitte dich ehrlich um Verzeihung.
CHRISTINE:
Stimmt nicht … du hast ja kein Dessert gegessen … und was meine Walderdbeeren betrifft … ich stell den Scheck auf hundert Euro aus.
HERMANN:
Ich habe deine Entschuldigung angenommen, warum tust du es nicht?
Christine reißt den Scheck aus dem Buch und reicht ihn Hermann.
CHRISTINE:
Da – nimm das.
46 HERMANN:
Ich weigere mich. Christine, du hast mich schon einmal geschlagen, ein zweites Mal wäre unfair. Würde Ilse Erich so behandeln, wenn die beiden hier unten wären und wir da oben? Würde sie so rabiat werden, wenn er – nachdem er eine halbe Flasche Wein und zwei Gläser Sherry getrunken hat – wenn er dann versucht hätte, sie zu küssen?
CHRISTINE:
Sehr interessant, wenn du meinst, es könnte dir nützen, glaubst du plötzlich ans Jenseits.
HERMANN:
Ich bin kein Atheist – ich bin Agnostiker.
CHRISTINE:
Und offensichtlich einer im sexuellen Notstand!
HERMANN:
Ich weiß. Darunter leide ich seit vielen Jahren. Aber mit deiner Hilfe könnte ich kuriert werden. (Nimmt den Scheck aus ihrer Hand und betrachtet ihn.) Außerdem stimmt die Endsumme nicht, die Walderdbeeren haben mehr als 7,50 gekostet. (Zerreißt den Scheck, geht zum Sofa und setzt sich.) Wann hat dich Erich zum ersten Mal geküsst? Ich frage nicht aus Neugier, sondern weil ich es wissen will.
CHRISTINE:
Der erste Kuss ist bei unserem siebenten Rendezvous passiert.
HERMANN:
Wo war das?
CHRISTINE:
In der Kaktus-Bar. Warum er mich dorthin geführt hat, habe ich mir nie erklären können. Dort war nämlich eine Kapelle, die sich auf Rumba, Samba und Mambo spezialisiert hat – und alles, was Erich notdürftig beherrscht hat, war Slowfox. Aber plötzlich hat er mich gefragt – ich erinnere mich an die Worte, als ob es gestern gewesen wäre – „Schickt es sich eigentlich für ein Christkind, das Tanzbein zu schwingen?“ – Er hat mich manchmal Christkind genannt … also haben wir getanzt. Egal, was die Kapelle gespielt hat, Erich hat mich mit dem einzigen Tanzschritt, den er einigermaßen beherrscht hat, über das Parkett geschoben, wie ein Bauer einen Pflug vor sich herschiebt. Dazu hat er sich ständig beklagt, dass
47 (CHRISTINE:)
die Kapelle unrhythmisch spielt, dass die Tanzfläche zu klein ist … alles Mögliche ist ihm aufgefallen, nur eines nicht: dass er nicht tanzen konnte. Aber er hat es versucht, immer wieder, ohne dass er es je gelernt hätte. Mir war’s egal. Ich habe an diesem Abend in der Kaktus-Bar gewusst, dass ich einen Mann gefunden habe … so lieb … so zärtlich … etwas Besonderes eben … er musste gar nichts sagen, ich habe gewusst, dass ich mein Leben mit diesem Mann teilen möchte.
HERMANN:
Ilse hat sich schon beim zweiten Rendezvous von mir küssen lassen. Das war ihr Dank dafür, dass ich sie in ein Flötenkonzert geführt habe, das – wenn mich die Erinnerung nicht täuscht – neunzehn Stunden lang gedauert hat.
CHRISTINE:
Ich weiß nur von eurem ersten Rendezvous. Ihr wart auf’m Rummelplatz und sie hat sich geweigert, mit dir Geisterbahn zu fahren.
HERMANN:
Das war der Grund, warum ich sie beim zweiten Mal in dieses Flötenkonzert geführt habe. Ich wollte ihr zeigen, dass ich Kultur habe. Sie hat mir das natürlich nicht abgenommen, und hat sich bitter gerächt. Sie stürzte mich in einen Abgrund von kulturellen Verpflichtungen: moderne Opern und Ballette, Museumsbesuche, Vernissagen, Vorträge, chinesische Filme mit französischen Untertiteln, Experimentaltheater ohne Schauspieler, präkolumbianische Tanzfolklore aus Peru … was immer dir an erlesenen Scheußlichkeiten einfallen könnte, meine Frau hat mich auf ihrer unermüdlichen Suche nach ausgefallener Kultur irgendwann hingeschleppt.
CHRISTINE:
Hermann, jetzt denk einmal nach: Hast du nicht auch schöne Erinnerungen an Ilse?
HERMANN:
Natürlich, aber ich möchte nicht traurig werden. (Er trinkt einen Schluck. Sie steht auf. Er zeigt ihr sein Glas.) Hör mal, ich hab noch was im Glas.
CHRISTINE:
Ich weiß, ich will dich auch nicht hinauswerfen. Ich wollte dir noch zeigen, was ich mir angehört habe, während ich auf dich gewartet
48 (CHRISTINE:)
habe. (Sie nimmt die Platte, die die Packer auf dem Regal gelassen hatten und liest den Titel:) „Souvenirs in Stereo. 25 Instrumentalschlager von anno dazumal“. Möchtest du einige davon hören, bevor du gehst?
HERMANN:
Gern. Dann muss ich nicht so sparsam mit meinem Sherry umgehen.
Er trinkt aus und stellt das Glas ab. Sie dreht die Stereoanlage auf. Über die Lautsprecher erklingt: „Ich hab mich so an dich gewöhnt“.
CHRISTINE:
Herr Kandidat, können Sie uns den Titel dieser Melodie nennen?
HERMANN:
Ich hab mich so an dich gewöhnt?
CHRISTINE:
Bingo!
HERMANN:
(singt) „Ich hab mich so an dich gewöhnt – Hab mich so sehr an dich gewöhnt“. (Er setzt sich wieder, dann beginnt er mitzusingen.) „… an die Art, wie du beim Küssen deine Augen schließt. Und mir dennoch oh so tief in meine Seele siehst …“
CHRISTINE:
„Ich hab mich so an dich gewöhnt, hab mich so sehr an dich gewöhnt …“
HERMANN:
„Wenn du älter wirst und die Figur wird langsam rund …“
CHRISTINE:
„… wenn du Brillen trägst und kannst mich kaum mehr seh’n. Was auch immer kommt, für mich gibt’s keinen Scheidungsgrund …“
HERMANN:
„… denn für mich da bleibst du ewig jung und schön …“
BEIDE:
„Ich hab mich so an dich gewöhnt, hab mich so sehr an dich gewöhnt“.
HERMANN:
Weißt du, was diesen Schlager von den heutigen unterscheidet?
49 CHRISTINE:
Ja, er hat eine Melodie.
Das nächste Lied beginnt: „After you have gone“, ein langsamer Rumba.
HERMANN:
Ah, „After you have gone“.
CHRISTINE:
Kannst du den Text?
HERMANN:
Gibt’s denn da einen?
CHRISTINE:
Nein.
Sie wiegt sich im Rhythmus der Musik. Hermann steht auf, geht auf sie zu und verneigt sich.
HERMANN:
Schickt es sich eigentlich für ein Christkind, das Tanzbein zu schwingen?
CHRISTINE:
Können Sie das tanzen?
HERMANN:
Können Fische schwimmen?
Sie beginnen zu tanzen – auf Distanz. Anfangs vorsichtig, mit der Zeit etwas sicherer. Er ist in seinem Element und führt sie nach Belieben – und zwar in Richtung Schlafzimmer. Christine merkt es und stößt ihn in die Gegenrichtung. Nach einer Weile endet die Nummer. Die nächste Nummer beginnt: „I’m in the Mood for Love“, ein verträumter Slowfox.
CHRISTINE:
Ich sollte eigentlich packen.
HERMANN:
Ich sollte eigentlich meinen Buchhalter kündigen.
Sie tanzen. Hermann nimmt sie in seine Arme und küsst sie. Nach einem Moment reißt sie sich los.
CHRISTINE:
Hermann, jetzt gehst du aber nach Hause – und zwar sofort.
HERMANN:
Meine Ohren hören dich – aber nicht meine Lippen. (Er nimmt sie wieder in die Arme.)
50 CHRISTINE:
Hermann, das können wir nicht tun!
HERMANN:
Wir sind zwei erwachsene Menschen. Zusammen sind wir über hundert Jahre alt.
CHRISTINE:
Ich lasse mich nicht beim ersten Rendezvous küssen. Ich bin katholisch.
HERMANN:
Christine, ich sage das jetzt in vollem Ernst: Gehen wir ins Bett!
CHRISTINE:
Ich habe keine Zeit, ich muss noch meinen Koffer packen und das Necessaire und meine Kosmetiksachen und meinen Koffer und … also gut! Du hast gewonnen, gehen wir ins Bett!
Er läuft in Richtung Schlafzimmer. Sie schreit.
CHRISTINE:
Hermann!
HERMANN:
Was ist jetzt schon wieder?
CHRISTINE:
Fang nicht ohne mich an!
Sie ergreift seine Hand und beide laufen Richtung Schlafzimmer.
VORHANG
51 2. AKT
Freitag morgen. Die Eingangstür steht offen. Die Kartons sind verschwunden. Regale und Tische sind leer. Doch die Möbel stehen noch an ihren Plätzen. Auch die Bilder an den Wänden sind noch da. Kabulski und Langer kommen aus dem Schlafzimmer, sie tragen einen Betteinsatz herein, den sie an die Wand lehnen.
LANGER:
Wie fahren wir eigentlich? Fahren wir durch bis Florenz, oder machen wir Pausen zum Essen und Schlafen?
KABULSKI:
Je nachdem – wie wir gerade aufgelegt sind.
LANGER:
Wenn wir durchfahren, können wir vielleicht einen Tag am Meer rumliegen. Das wär doch einmal eine nette Abwechslung.
KABULSKI:
Aber nicht fürs Meer.
Christine kommt aus der Küche. Sie ist schon für die Reise gekleidet.
CHRISTINE:
Meine Herren, ich habe Kaffee für Sie aufgesetzt.
LANGER:
Kabulski, Kaffeepause!
KABULSKI:
Noch nicht. Kaffeepause ist erst, wenn der Kaffee fertig ist. Bis dahin kannst du den Rest vom Bett raustragen.
Langer wirft ihm einen dreckigen Blick zu und geht ins Schlafzimmer.
KABULSKI:
Gnädige Frau, ist mit Ihnen alles in Ordnung?
CHRISTINE:
Natürlich, warum fragen Sie?
KABULSKI:
Weil Sie mir irgendwie anders vorkommen … ich weiß nicht, wie ich es sagen soll … bisschen müde und ein bisschen nervös.
CHRISTINE:
Gut beobachtet! Nervös bin ich wegen des Umzugs und müde bin ich, weil es gestern spät geworden ist.
52 Langer kommt mit dem Kopfteil des Bettes und stellt es ab.
KABULSKI:
Dass Sie nervös sind, ist ganz normal. Alle Kunden werden nervös, wenn’s ans Umziehen geht. Überhaupt, wenn man so lang in einer Wohnung gelebt hat, wie Sie, gnädige Frau. Jedes Stück, das wir hinaustragen, ist doch ein Stück Leben.
Kabulski und Langer gehen wieder ins Schlafzimmer. Es läutet an der Tür.
CHRISTINE:
Herr Kabulski, erwarten Sie irgendwen?
KABULSKI:
Nein, gnädige Frau.
CHRISTINE:
(für sich) Na, ich schon gar nicht.
Sie will zur Tür gehen, doch die Möbelpacker tragen die Matratze heraus und versperren ihr den Weg.
KABULSKI:
Ich habe einmal eine Kundin gehabt, die gesagt hat: „Ein Glück, dass Matratzen nicht reden können.“
Es läutet wieder. Diesmal energischer. Die Möbelpacker stellen die Matratze in der Diele ab und gehen wieder ins Schlafzimmer. Christine kann endlich zur Tür und öffnet. Hermann erscheint. Er ist genauso vermummt wie zu Beginn des Stückes. Er ist bester Laune. Er hält etwas hinter seinem Rücken versteckt. Christine erschrickt, als sie ihn sieht.
CHRISTINE:
Du bist das?
HERMANN:
Wenn du bereit wärst, deine geheimsten Gedanken zu erforschen, würdest du entdecken, dass du mich schon längst erwartet hast.
CHRISTINE:
Klar. Wie sollte ich auch auf die Idee kommen, dass ich an meinem letzten hektischen Tag etwas anderes zu tun habe, als dich zu erwarten.
HERMANN:
Du wirkst überhaupt nicht hektisch. Du wirkst ganz im Gegenteil, wie eine Frau, die darüber nachdenkt, ob dieser Umzug wirklich das ist, was sie will.
53 CHRISTINE:
Ich bin hektisch. Wenn ich nicht hektisch wirke, dann nur, weil ich schon seit fünf Uhr früh hektisch bin.
HERMANN:
Dann lass dich nicht von deiner Hektik ablenken. Betrachte mich einfach als Boten, der dieses hier überbringt. (Er holt die hinter seinem Rücken verborgene Bonbonniere hervor.) Ein Kilo Pralinen.
CHRISTINE:
Danke.
HERMANN:
Die kannst du im Flugzeug essen, während du zitterst, dass du abstürzen und in Flammen aufgehen könntest. (Er reicht ihr die Schachtel, die sie auf den Tisch legt.) Nebenbei bin ich gekommen, um gewisse Dinge mit dir zu besprechen.
CHRISTINE:
Was für Dinge?
HERMANN:
Die Dinge, die sich in der vergangenen Nacht ergeben haben.
CHRISTINE:
Hermann, wir kannst du nur so taktlos sein? Spürst du nicht, wie peinlich es mir ist, dir zu begegnen … so kurz nachdem wir beide einen schrecklichen Fehler begangen haben?
HERMANN:
Selbst wenn es ein Fehler gewesen sein sollte – und ich bin weit davon entfernt, das zuzugeben – sehe ich nicht ein, warum wir darüber nicht reden sollten. Vielleicht können wir aus diesem Fehler lernen?
CHRISTINE:
Ich habe schon daraus gelernt.
HERMANN:
Nämlich?
CHRISTINE:
Nie im Leben werde ich je wieder mit dir tanzen.
Von den beiden unbemerkt, tragen die beiden Packer einen Bettrahmen herein.
HERMANN:
Und daraus ergibt sich vermutlich, dass du nie wieder mit mir ins
54 (HERMANN:)
Bett gehen willst?
KABULSKI:
Gnädige Frau!
CHRISTINE:
Um Gotteswillen!
HERMANN:
Wer sind Sie?
KABULSKI:
Wir sind von der Spedition Intertrans. Und Sie?
HERMANN:
Hermann Löwy KG! Ach was, ich bin Hermann Löwy, Frau Rieders Freund und Vertrauter seit dreißig Jahren.
Christine steht auf und nähert sich den Packern, die den Bettrahmen abstellen.
CHRISTINE:
Meine Herren … falls Sie eben gehört haben sollten, was der Herr dort gesagt hat … es war nur die Pointe von einem Witz.
LANGER:
Sie haben aber gar nicht gelacht.
CHRISTINE:
Der Witz war auch nicht komisch.
KABULSKI:
Pass auf, Langer. Wir tragen jetzt noch das Bett runter und dann machen wir Frühstückspause.
LANGER:
Pause ist immer gut!
Die beiden tragen Bettrahmen und Matratze hinaus.
CHRISTINE:
Na, bist du zufrieden?
HERMANN:
Womit?
CHRISTINE:
Dass du mich vor den beiden Möbelpackern so bloßgestellt hast.
Hermann zieht einen Handschuh aus.
CHRISTINE:
Bitte, zieh dich nicht aus!
55 Die Packer erscheinen wieder, um die Reste des Bettes hinauszutragen.
HERMANN:
Christine, bitte lass mich fünf Minuten mit dir reden. Nur fünf Minuten. (Er nimmt die Bonbonniere vom Tisch.) Eine Minute für je zweihundert Gramm.
CHRISTINE:
Also gut. Es ist neun Uhr fünfundvierzig. Du kannst reden bis neun Uhr fünfzig.
HERMANN:
Zunächst einmal soll ich dir besonders liebe Grüße ausrichten.
CHRISTINE:
Von wem?
HERMANN:
Von meinem Sohn. Ich habe heute früh mit ihm telefoniert. Er hat gesagt: „Besonders liebe Grüße an Tante Christine!“
CHRISTINE:
Hat er dich angerufen, oder du ihn?
HERMANN:
Ich ihn. Ganz früh, bevor er in seinem Swimmingpool abgetaucht ist.
CHRISTINE:
Ich kann nur hoffen, dass du ihm nichts von gestern Abend erzählt hast.
HERMANN:
Das hätte ihm nicht imponiert. Er gibt wahrscheinlich sieben Mal pro Woche 185 Euro aus für ein Abendessen.
CHRISTINE:
Das habe ich nicht gemeint.
HERMANN:
Ich hab es ihm nicht erzählt. Und ich werde es niemandem erzählen. Nicht einmal meinem Buchhalter, und der will immer alles von mir wissen.
CHRISTINE:
Du hast noch vier Minuten.
HERMANN:
Also dann ohne Umschweife: Nachdem du den Fall überschlafen hast … wie denkst du über unsere erste gemeinsame SexEskapade?
56 CHRISTINE:
Hermann, willst du mich wirklich zwingen, das zu diskutieren?
HERMANN:
Jawohl. Und zieh bitte zwanzig Sekunden für eine Frage ab, deren Antwort zu sowieso weißt.
CHRISTINE:
Wie direkt darf ich werden? Beziehungsweise, wie taktvoll soll ich sein?
HERMANN:
Christine, du kennst mich seit mehr als dreißig Jahren. Habe ich mich jemals um Takt geschert?
CHRISTINE:
Nein, das kann man dir wirklich nicht nachsagen.
HERMANN:
Dann zieh noch zehn Sekunden ab für eine weitere sinnlose Frage.
CHRISTINE:
Bitte. – Also, um es direkt zu formulieren. Ich war ein bisschen enttäuscht.
HERMANN:
Warum?
CHRISTINE:
Vermutlich habe ich nach deiner Werbekampagne zu viel erwartet. Der große böse Wolf hat sich eher als Wölfchen entpuppt.
HERMANN:
Noch was?
CHRISTINE:
Im Ernst: Ich wollte wirklich wissen, ob Sex wieder ein Teil meines Lebens werden könnte. Ohne, dass ich meinem Mann gegenüber Schuldgefühle habe. Und dann mich – oder dich dafür hassen muss.
HERMANN:
Du hast vorhin gesagt, du warst ein bisschen enttäuscht. Von Hass war doch keine Rede.
CHRISTINE:
Natürlich nicht. Es war schön, umarmt und geküsst zu werden … Wärme zu spüren … und du warst lieb und rücksichtsvoll.
HERMANN:
Danke.
57 CHRISTINE:
Aber das ist auch schon alles. Es war nett, angenehm … nicht sensationell, großartig, umwerfend. Es war nicht …
HERMANN:
Ich habe begriffen. Also versuche dich nicht zu wiederholen und sage mir lieber klipp und klar, wie du die Sache auf einer Skala von eins bis zehn bewerten würdest.
CHRISTINE:
Vier.
HERMANN:
Vier?
CHRISTINE:
Vielleicht fünf, wenn du dich besser fühlst. Aber was immer es war, es war kein Grund, nicht nach Florenz zu gehen.
HERMANN:
Also, wenn ich diese Skala verwenden würde … meine Wertung wäre neun.
CHRISTINE:
Wirklich? Für dich war das neun?
HERMANN:
Nein, ich habe nur versucht, taktvoll zu sein. Es war eher acht. – Oder sieben. – Nein, sechs. – Fünf.
CHRISTINE:
Gut. Es wäre nämlich gelogen, wenn du behaupten würdest, dass du nicht nervös warst und verkrampft und verlegen, und …
HERMANN:
Du tust es schon wieder!
CHRISTINE:
Was?
HERMANN:
Neunzehn Worte gebrauchen, die alle das Gleiche aussagen.
CHRISTINE:
Pardon, du hast weitere zehn Sekunden gut.
HERMANN:
Nachdem ich den Fall auch überschlafen habe, habe ich mir eine eigene Meinung darüber gebildet …
Von den beiden unbemerkt, kommen die Packer wieder zurück.
HERMANN:
… Das Problem ist nicht, dass wir miteinander im Bett waren,
58 (HERMANN:)
sondern wo wir miteinander im Bett waren.
KABULSKI:
Gnädige Frau!
Christine fährt entsetzt herum, sieht die beiden und beginnt hysterisch zu lachen.
CHRISTINE:
Hermann, also das war wirklich komisch!
Hermann steht auf und wendet sich an die Packer.
HERMANN:
Wenn Sie das nächste Mal hier hereinplatzen, klopfen Sie gefälligst an!
KABULSKI:
Chef, wir platzen nicht, wir arbeiten hier.
HERMANN:
Das ist kein Grund, nicht anzuklopfen.
KABULSKI:
Gnädige Frau, wann können wir anfangen, das Wohnzimmer zu verladen?
CHRISTINE:
Sobald Herr Löwy gegangen ist. Also ungefähr … um 9 Uhr 54. Und jetzt bringe ich Ihren Kaffee. (Ein böser Blick auf Hermann, dann geht sie Richtung Küche.)
HERMANN:
Christine, für einen Kaffee wäre ich auch sehr empfänglich.
Christine ab, Hermann geht auf Langer zu.
HERMANN:
Herr Kabulski.
KABULSKI:
Ich bin Kabulski. Das ist Langer.
HERMANN:
Pardon. Herr Kabulski, darf ich Ihnen und Herrn Langer eine Frage stellen?
KABULSKI:
Fragen Sie.
HERMANN:
Hätten Sie Lust, jeder hundert Euro extra zu verdienen?
59 LANGER:
Was müssten wir dafür tun?
HERMANN:
Nichts. Einfach weggehen. Lassen Sie alles stehen und liegen, steigen Sie in Ihren Möbelwagen und fahren Sie davon.
KABULSKI:
Ich glaube nicht, dass das Frau Rieder recht wäre.
HERMANN:
Ich glaube schon. Eigentlich will sie gar nicht nach Florenz, aber sie glaubt, dass es zu spät ist, die Geschichte abzublasen.
KABULSKI:
So? – Dann muss sie es mir nur sagen. Und zwar sie. Nicht irgendein Besucher.
HERMANN:
Sie hat Hemmungen, es sich einzugestehen. Aber egal, Sie würden jedenfalls einen Bonus bekommen.
KABULSKI:
Und was sollen wir der Firma Intertrans erzählen?
HERMANN:
Gar nichts. Die sollen die Rechnung für die bisher geleistete Arbeit an mich schicken, und ich bezahle sie.
KABULSKI:
Tut mir leid, aber das können wir nicht machen.
HERMANN:
Warum nicht?
KABULSKI:
Erstens ist das unmoralisch, zweitens wollen wir nicht unsere Arbeit verlieren.
LANGER:
Jedenfalls nicht wegen schäbiger zweihundert Euro!
Christine erscheint mit einem Tablett. Darauf befinden sich drei Tassen Kaffee, einige Servietten und zwei Schnecken.
KABULSKI:
Langer, nimm Frau Rieder das ab.
Langer nimmt das Tablett, setzt es auf dem Tisch ab. Christine folgt ihm.
HERMANN:
Wenn ich die Firma Intertrans wäre, dann würde ich Ihnen verbieten, Ihren netten Kollegen so herumzukommandieren.
60 KABULSKI:
Wenn Sie die Firma Intertrans wären, ginge ich zur Firma Schultze!
Langer setzt sich neben Hermann. Christine nimmt zwei Kaffeetassen und reicht sie den Packern.
CHRISTINE:
(ganz die freundliche Gastgeberin) Herr Kabulski, Herr Langer … (Die dritte Tasse reicht sie Hermann mit einem unwirschen) Da. (Sie nimmt zwei Zimtschnecken vom Tablett.) Ich habe noch zwei Schnecken gefunden.
HERMANN:
Sind die stark gezuckert?
CHRISTINE:
Sie sind glasiert, und sie sind für die beiden Herren.
KABULSKI:
Für mich nicht, gnädige Frau, ich habe schon gefrühstückt.
HERMANN:
Ich nicht. Ich habe noch nicht einen Bissen im Magen.
CHRISTINE:
Herr Langer, wollen Sie vielleicht beide essen?
KABULSKI:
Nein, nein, gnädige Frau. Die eine gehört Ihnen.
HERMANN:
Ich hatte keine Zeit zum Frühstücken, weil ich ein Kilo Pralinen besorgen musste. Für 19 Euro 50!
Christine reicht ihm grimmig die restliche Schnecke. Hermann beißt ab.
KABULSKI:
Sie hätten zumindest mit der gnädigen Frau teilen können.
CHRISTINE:
Zu viele Kalorien. Ich esse nur Pralinen.
LANGER:
Sehr witzig, Frau Reiter.
KABULSKI:
Frau Rieder, du Trottel – Frau Rieder! Entschuldigung, gnädige Frau, aber wir werden den Kaffee lieber in der Küche trinken.
Die beiden gehen in die Küche. Christine setzt sich aufs Sofa.
61 HERMANN:
Ich kann nur hoffen, dass du diese diversen Störungen von der mir zugestandenen Zeit abziehst.
CHRISTINE:
Hermann, ich schlage vor, dass wir die Stoppuhr vergessen. Erledigen wir, was immer zu erledigen ist, so schnell wie möglich. Ich bin müde, überbeschäftigt und auf dem Weg nach Florenz.
Hermann nimmt bedächtig einen Schluck Kaffee zu sich.
HERMANN:
Wir sind bei meiner Feststellung stehen geblieben, dass unser Problem das bestimmte Bett war, das wir aufgesucht haben, und nicht die Tatsache, dass wir zusammen im Bett waren. Das Bett zu besteigen, das du mit deinem verstorbenen Mann beziehungsweise meinem besten Freund geteilt hast, das war definitiv ein strategischer Fehlgriff. Ich hatte ständig das Gefühl, dass Erich im Raum ist und mir über die Schulter schaut.
CHRISTINE:
Wenn Erich im Raum gewesen wäre, hätte er sich wahrscheinlich eher mit seiner Witwe befasst.
HERMANN:
Ich habe ja nicht gesagt, dass er wirklich da war, ich habe ihn nur irgendwie gespürt … vielleicht seinen Geist …
CHRISTINE:
Hast du auch den Geist von Ilse gespürt?
HERMANN:
Nein. Ihr Geist konnte nicht kommen, der war grade bei der Premiere eines costaricanischen Films mit tasmanischen Untertiteln. Die Schnecken sind wirklich gut. Wo hast du die her?
CHRISTINE:
Von einer Bäckerei, gleich um die Ecke.
HERMANN:
Wirst du in Florenz nicht finden. Unter den erwähnten Umständen schlage ich vor, dass wir uns nicht entmutigen lassen sollten. Versuchen wir es noch einmal. Auf neutralem Territorium. In einem Hotelzimmer. Auf unserer Hochzeitsreise. (Beide schweigen. Dann zeigt er auf die Bonbonniere.) Du hast die beigelegte Karte nicht gelesen. Sie ist in der Schachtel.
62 Christine öffnet die Bonbonniere, entnimmt die Karte, hat aber Schwierigkeiten, sie zu lesen. Hermann gibt ihr seine Lesebrille. Während die Packer wieder den Raum betreten, liest sie:
CHRISTINE:
„Nimm die Pralinen, doch denk daran mein Schatz: für Sex sind diese leider niemals ein Ersatz.“
KABULSKI:
Gnädige Frau!
Christine erschrickt und versucht, zu überspielen.
CHRISTINE:
Immer muss er Witze machen – dabei sieht er gar nicht so aus!
HERMANN:
Christine, gib dir keine Mühe. Die Herren hätten einfach anklopfen sollen.
KABULSKI:
Ich wollte nur sagen, dass wir jetzt das Wohnzimmer verladen wollen.
CHRISTINE:
Bitte, fangen Sie an.
KABULSKI:
Hast du den Karton für die Bilder heraufgebracht?
LANGER:
Nein, ich habe gedacht, du hast ihn mitgenommen.
HERMANN:
Aha! Das Chaos bricht aus!
KABULSKI:
Dann geh und hol ihn.
HERMANN:
Ich finde, dass für das erste Mal die Note fünf gar nicht so schlecht ist. Wenn wir in Zukunft dieser Sache mehr Aufmerksamkeit widmen und richtig trainieren, können wir uns bestimmt bis zehn hocharbeiten.
CHRISTINE:
Hermann, warum immer von Sex reden? Für Menschen in unserem Alter ist das doch kein Thema mehr.
HERMANN:
Das Alter ist völlig unwichtig. So lange die Ausrüstung intakt ist, bleibt Sex das Hauptnahrungsmittel der Menschen.
63 CHRISTINE:
Ich habe immer geglaubt, dass Brot das Hauptnahrungsmittel ist.
HERMANN:
Nur wenn du verhungerst. Oder wenn du Bäcker bist.
Die Packer kommen mit dem Bilderkarton. Kabulski klopft an.
HERMANN:
Danke, aber diesmal wäre es ausnahmsweise nicht nötig gewesen.
Christine steht auf, nimmt das Tablett vom Boden und wendet sich Hermann zu.
CHRISTINE:
Ich bin gleich wieder da, um mich von dir zu verabschieden.
Ab in die Küche. Die Packer nehmen Bilder von den Wänden und verstauen sie.
HERMANN:
Meine Herren, ich erhöhe mein Angebot auf fünf.
LANGER:
Fünf was?
HERMANN:
Wenn Sie jetzt alles liegen und stehen lassen, bekommen Sie fünfhundert Euro.
LANGER:
Bar?
KABULSKI:
Bar oder Scheck, ist egal. Ihr Angebot interessiert uns nicht.
HERMANN:
Ich glaube, Herr Langer ist schon interessiert.
KABULSKI:
Gnädige Frau, nehmen Sie alle Bilder mit nach Florenz?
CHRISTINE:
Nein, die dort werden eingelagert. – Bis auf dieses da. (Sie zeigt auf ein abstraktes Ölbild über dem Kamin.)
KABULSKI:
Sehr interessant … was stellt es dar?
CHRISTINE:
Ich weiß nicht – das hat meine Tochter Susi gemalt.
KABULSKI:
Wie alt ist sie?
64 CHRISTINE:
Jetzt ist sie achtundzwanzig, aber gemalt hat sie es in der Abiturklasse.
LANGER:
Ach, ich hab gedacht im Kindergarten. Entschuldigung, Frau Riederer.
CHRISTINE:
Schon ganz nah dran … noch ein paar Versuche, und Sie haben den Namen raus!
Die beiden Packer gehen mit dem Bilderkarton hinaus.
CHRISTINE:
Hermann, ich möchte wissen, was dich veranlasst hat, deinen Sohn anzurufen?
HERMANN:
Das warst du. Du hast mir gesagt, ich soll zu dieser Messe nach Düsseldorf fahren, also habe ich ihn davon informiert.
CHRISTINE:
Und?
HERMANN:
Er wird nicht da sein. Er fährt mit seinen Kindern nach Teneriffa und bleibt den ganzen August dort.
CHRISTINE:
Kann er nicht im Juli fahren? Da ist doch auch schulfrei.
HERMANN:
Es ist schon alles reserviert. Das kann man nicht mehr umbuchen.
CHRISTINE:
So weit im voraus? Hast du ihm nicht vorgeschlagen, dass er es zumindest versuchen soll?
HERMANN:
Nein.
CHRISTINE:
Warum nicht.
HERMANN:
Ich wollte, dass er es vorschlägt.
CHRISTINE:
Naja, vielleicht ist August der einzige Monat, in dem er weg kann...
HERMANN:
Dann hätte er sagen können: „Vater, um dich wieder einmal zu sehen, werden wir nur drei Wochen wegbleiben.“ Oder er hätte
65 (HERMANN:)
sagen können: „Vater, besuch uns in Teneriffa vor oder nach der Ausstellung.“
CHRISTINE:
Du hast recht, das hätte er sagen können – nein, sagen müssen.
Hermann steht auf, geht zum Fenster und blickt hinaus.
HERMANN:
Ich glaube, ich sollte mich mit dem Gedanken abfinden, dass ich mit meinem Sohn kein sehr enges Verhältnis habe.
CHRISTINE:
Aber ihr habt doch eines gehabt, als er klein war. – Was ist da passiert?
HERMANN:
Er ist über mich hinausgewachsen. Ich habe ja nie studieren können … mit fünfzehn habe ich schon angefangen zu arbeiten. Er hat Medizin studiert, ist ins Ausland gegangen und hat Dinge gelernt, von denen ich keine Ahnung habe: Was man auf dem Golfplatz anziehen muss, wie man Weine sammelt, wie man mit Filmschauspielern verkehrt … lauter Dinge, die ein schlichter Tapetenverkäufer nie wissen wird.
CHRISTINE:
Soll das heißen, dass er sich für dich schämt?
HERMANN:
Nein. Ich glaube, dass er mich mag. Und ich weiß, dass ich ihn lieb habe und stolz bin auf seinen Erfolg – aber unterm Strich haben wir nichts gemeinsam. Er erzählt mir nichts von seinem Leben, seinen Hoffnungen und Träumen. Oder warum seine beiden Ehen gescheitert sind … Fazit: Ich werde immer sein Vater bleiben, so wie er immer mein Sohn sein wird – aber wir werden niemals gute Freunde sein.
CHRISTINE:
Glaubst du, dass er Ilse näher gestanden ist?
HERMANN:
Sicher, bis … (Er stockt.)
CHRISTINE:
Bis?
HERMANN:
Es hat keinen Sinn, darüber zu reden.
66 CHRISTINE:
Ich wette, ich weiß, was du sagen wolltest.
HERMANN:
Bis sie dem Krebs in die Klauen gefallen ist … zwei Jahre lang ist sie gestorben. Ihr einziges Kind hat sie in der ganzen Zeit dreimal besucht. Jedes Mal ist er einen Tag geblieben, dann ist er wieder weggeflogen. Ilse hat sich niemals darüber beklagt, aber ich weiß, dass sie darunter mehr gelitten hat, als unter ihren Schmerzen. – Hast du deine Wette gewonnen?
CHRISTINE:
Leider ja.
HERMANN:
Als ich ihn gebeten habe, öfter zu kommen oder wenigstens zu bleiben, hat er gesagt, dass er damit nicht fertig werden kann, dass er nicht zusehen will, wie sie stirbt. – Ein Arzt, der mit dem Tod auf du und du steht … er hat in dieser Zeit kein einziges Tennisspiel versäumt.
Christine steht auf, nähert sich ihm, kauert sich vor ihm auf den Boden und streichelt seinen Arm.
CHRISTINE:
Du bist sehr hart mit ihm. Der Beruf ist da doch ganz nebensächlich – einen geliebten Menschen zu verlieren … damit wird nicht jeder fertig.
HERMANN:
Ich bin damit fertig geworden. Auch du … auch deine Töchter.
CHRISTINE:
Wir hatten es leichter. Erich war plötzlich weg. Wir haben nicht endlos lang zusehen müssen, wie er leidet. Hätten wir zusehen müssen, ich glaube, meine Töchter hätten es genauso unerträglich empfunden, wie dein Sohn.
HERMANN:
Christine, falls du nicht schon alles verladen hast, darf ich dich noch um ein Glas „Gerolsteiner“ bemühen?
CHRISTINE:
Habe ich dir je etwas verweigert?
Sie geht zur Eisbox, entnimmt öffnet eine Flasche, reicht sie Hermann, während die Packer wieder erscheinen.
67 CHRISTINE:
Ich hol dir einen Pappbecher, die Gläser sind schon alle verpackt.
Sie geht in Richtung Küche, während Kabulski auf den Tisch in der Diele zeigt.
KABULSKI:
Das Tischchen stellen wir erstmal zum Lift …
CHRISTINE:
Halt! Einen Moment, bitte. Um ein Haar hätten Sie mein Flugticket davongetragen. (Sie öffnet die Tischlade, nimmt das Flugticket heraus und legt es auf das Bücherregal.)
HERMANN:
Das wäre kein Unglück gewesen. Die Wettervorhersage spricht von einem gewaltigen Schneesturm.
KABULSKI:
Davon habe ich nichts gehört.
HERMANN:
Aber ich.
Christine geht in de Küche. Die Packer tragen den Tisch hinaus. Hermann stellt die Flasche auf den Boden, läuft zum Bücherregal und steckt das Flugticket in die Brusttasche. Dann eilt er zurück und setzt sich wieder. Die Packer kommen zurück und treten in den Wohnraum.
KABULSKI:
Bitte stehen Sie auf, wir müssen den Sessel hinaustragen.
HERMANN:
(während er aufsteht) Meine Herren: Vierhundertfünfzig. Für jeden von Ihnen.
LANGER:
Kabulski.
KABULSKI:
Was ist?
LANGER:
Das ist viel Geld.
KABULSKI:
Wieso liegt Ihnen soviel daran, dass Frau Rieder hier bleibt?
HERMANN:
Ich mach mir Sorgen um ihre Gesundheit. Das Klima in Italien ist ganz schlecht für ihre Bronchien. Sie laboriert an einem chronischen Bronchialkatarrh.
68 Christine erscheint mit einem Becher. Hermann verstummt.
CHRISTINE:
Die Pappbecher sind auch schon alle weg. Ich musste einen gebrauchten ausspülen.
KABULSKI:
Gnädige Frau.
CHRISTINE:
Bitte, Herr Kabulski.
KABULSKI:
Wie geht es eigentlich Ihrem Bronchialkatarrh?
CHRISTINE:
Ausgezeichnet. Vor allem, weil ich keinen habe.
Kabulski sieht Hermann eindringlich an, dann wendet er sich an Langer.
KABULSKI:
Nehmen wir den Sessel da.
Sie tragen den Lehnstuhl gemeinsam hinaus. Christine reicht Hermann den Papierbecher, er füllt ihn, stellt die Flasche auf den Boden und trinkt.
CHRISTINE:
Hermann … wenn es dir ein Trost ist, ich erlebe mit meinen Kindern auch gewisse Enttäuschungen.
HERMANN:
Ich habe immer geglaubt, dass sie dich besonders lieb haben.
CHRISTINE:
Das schon. Sie rufen mich fast täglich an, wenn sie im Urlaub verreisen, laden sie mich immer ein mitzukommen, sie lassen mich niemals an Feiertagen allein, und einmal in der Woche laden sie mich zum Essen ein.
HERMANN:
Das wär’ für mich kein Grund zur Enttäuschung.
CHRISTINE:
Es ist nur Pflichtgefühl, es ist nicht echt – sie tun nur so, als ob … wenn sie mich zum Beispiel einladen, mit ihnen Urlaub zu machen, lehne ich höflich ab, sodass sie ungestört bleiben. Sie versuchen nie, mich zu überreden, ich glaube, wenn sie nicht sicher wären, dass ich ablehne, würden sie mich nie einladen.
HERMANN:
Hast du jemals darüber mit ihnen gesprochen … wenn sie dich
69 (HERMANN:)
zum Essen einladen?
CHRISTINE:
Sie laden mich nie gemeinsam ein – sie wechseln sich immer ab. Einmal Susi, nächste Woche Barbara. Ich glaube, sie müssen sich das irgendwann ausgemacht haben: „Einmal du, einmal ich. Sodass wir nicht jede Woche die Alte unterhalten müssen.“
HERMANN:
Du hast gesagt. „Ich glaube.“ Es ist also nur eine Vermutung. Du solltest den Mut haben, mal offen mit den beiden zu reden.
CHRISTINE:
Ich weiß … ich sollte … aber ich fürchte mich davor.
HERMANN:
Wovor?
CHRISTINE:
Dass sie aufhören könnten, so zu tun, als ob.
Hermann leert seinen Becher und stellt ihn auf den Boden.
HERMANN:
Christine, hab keine Angst. Vor nichts und niemanden.
CHRISTINE:
Das ist leicht gesagt, aber …
HERMANN:
Lauf nicht vor deinem Leben davon, nur um mit einer anderen Witwe zu leben, die dir nach wenigen Wochen so auf die Nerven gehen wird, wie mir nach fünf Minuten.
CHRISTINE:
Hermann, du verstehst nichts. (Sie nimmt Flasche und Becher vom Boden auf und stellt beides auf den Kaminsims.) Du bist keine Witwe. Du bist ein Mann, der seine Frau verloren hat. Das ist ein großer Unterschied. Wenn du zu einer Party eingeladen wirst – als einzelner Mann – bist du für jede Gastgeberin eine Attraktion. Aber wenn ich zu einer Party gehe – als einzelne Frau – dann bin ich ein Sozialfall. Du gehst einfach nach Hause, wenn die Party vorbei ist – ohne Probleme. Wenn ich gehen will, muss ich erst die Gastgeber überzeugen, dass sie mich nicht nach Hause bringen müssen. Und wenn ich dann kein Taxi bekomme, und die Straßenbahn nicht mehr fährt, dann gehe ich zu Fuß … allein … schlotternd vor Angst … und dann weiß ich erst, wie allein ich bin.
70 HERMANN:
So oft gehe ich gar nicht zu Partys.
CHRISTINE:
Aber du könntest, wenn es dir wichtig wäre.
HERMANN:
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich bin ja nicht gerade ein angenehmer Gesellschafter. Stimmt’s?
CHRISTINE:
Na ja …
HERMANN:
Ilse hat immer gesagt, dass ich eine raue Schale habe, und dass mein weicher Kern zur Geltung käme, wenn ich mich mehr zurückhalten würde. Das war sicher ein guter Rat, aber ich habe nie auf sie gehört. Zurückblickend muss ich sagen, dass sie manchmal viel klüger war, als ich gedacht habe.
CHRISTINE:
Warum sagst du „manchmal“? Musst du deine verspäteten Komplimente an Ilse immer verwässern?
HERMANN:
Bitte, ich widerrufe: Sie war oft klüger, als ich geglaubt habe.
CHRISTINE:
Warum kannst du nicht sagen „meistens“, oder vielleicht sogar „immer“?
HERMANN:
„Immer“ kommt nicht in Frage. Es gibt ja noch was dazwischen zwischen „verwässern“ und „überfluten“.
CHRISTINE:
Du und ich, wir haben verschiedene Maßstäbe. Ilse war meine liebste Freundin; ich halte ihr Andenken in Ehren.
HERMANN:
Man kann alles übertreiben. Dein Erich war auch mein bester Freund, aber das heißt nicht, dass ich vor seinen Fehlern die Augen verschließe.
CHRISTINE:
Ich auch nicht.
HERMANN:
Er konnte zum Beispiel sehr eigensinnig sein.
CHRISTINE:
Erich? Wann und wo war er jemals eigensinnig?
71 HERMANN:
Immer, wenn es ums Geschäft ging. Wenn er sich da mal etwas in den Kopf gesetzt hat, war ihm das nicht auszureden. Mit dem Menschen konnte man nicht verhandeln.
CHRISTINE:
Was ist so schrecklich an einem Menschen, der weiß, was er will?
HERMANN:
In manchen Kreisen bezeichnet man so einen Menschen als unflexibel.
CHRISTINE:
Ich muss bald gehen. Paul und Barbara geben mir zu Ehren ein Abschiedsessen, bei dem die ganze Familie versammelt sein wird.
HERMANN:
Aber außerhalb des Geschäfts – und das war ein weiterer Fehler von Erich – war er wieder zu flexibel. Er hat einfach alles und jedes akzeptiert, und was er wirklich empfunden hat, das hat er nie gesagt.
CHRISTINE:
Mit anderen Worten: Er hat einen kühlen Kopf bewahrt.
HERMANN:
Stimmt.
CHRISTINE:
Warum hast du dann gestern hier auf diesem Sofa gesagt, dass seine beste Eigenschaft seine Wärme war?
HERMANN:
Das schon. Aber diese Wärme konnte er als Waffe verwenden, um Streitereien aus dem Weg zu gehen.
CHRISTINE:
Hermann, ich glaube, dass du endlich gehen solltest. Illoyalität einem Freund gegenüber ist wirklich unerträglich.
HERMANN:
Genau, wie die Wahrheit nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen.
Christine bricht in einen Wutanfall aus.
CHRISTINE:
Das ist nicht die Wahrheit! Wahr ist, dass ich ihn geliebt habe und dass er mir fehlt. Und du hast kein Recht, sein Andenken zu entehren! Er war mehr wert als du!
HERMANN:
Das habe ich nie geleugnet.
72 CHRISTINE:
Würdest du jetzt bitte gehen? Ich bitte dich, geh endlich!
HERMANN:
Noch nicht. Vorher muss ich dir noch einiges sagen. (Er steht auf, geht auf sie zu. Er redet sich in Rage.) Wie kannst du dich unterstehen, mich illoyal zu nennen? Ich habe Erich auch geliebt, und auf meine Weise vermisse ich ihn mindestens so sehr wie du! Und wie kommst du dazu, meine Liebe zu Ilse in Frage zu stellen? Ich habe sie geliebt, lange bevor du sie gekannt hast. Ich war 38 Jahre lang mit ihr verheiratet, und in all den Jahren hat es keinen Tag gegeben, an dem ich nicht glücklich war, von ihr geliebt zu werden, glücklich, weil sie bereit war, mich zu ertragen und weil sie mehr Vertrauen zu mir hatte als ich selbst!
Schweigen. Der Zorn verflüchtigt sich langsam.
HERMANN:
Entschuldige!
CHRISTINE:
Du auch.
HERMANN:
Ich hätte nicht an einem offenen Nerv rühren sollen.
CHRISTINE:
Oder wenn, dann präziser. Ja, vielleicht war Erich unflexibel, wenn es ums Geschäft ging, aber zu Hause war er das genaue Gegenteil. Er hat mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen – und das war für mich eine große Belastung. Mein Mann wollte seine Bedürfnisse meinen opfern – so als ob mir seine Bedürfnisse egal gewesen wären; dabei wollte ich doch nur für ihn da sein. Auf eine gewisse Weise haben ihm also meine Bedürfnisse weniger bedeutet, als die seinen … er war selbstlos und egoistisch zugleich. – Verstehst du das irgendwie?
HERMANN:
Nicht richtig. Könntest du das noch mal wiederholen?
CHRISTINE:
Nein, ich bin froh, dass ich es einmal zusammengebracht habe.
HERMANN:
(nach einer kurzen Pause) Weißt du, was ich gerne tun würde?
CHRISTINE:
Jetzt?
73 HERMANN:
Nein. Heute Abend, wenn ich allein zu Hause bin.
CHRISTINE:
Was würdest du gern tun?
HERMANN:
Ich würde gern mit meiner Frau sprechen können. Nur für eine halbe Minute.
CHRISTINE:
Was würdest du ihr sagen?
HERMANN:
Ich würde sie fragen: „Habe ich dich glücklich gemacht? Bist du froh, dein Leben mit mir verbracht zu haben? War ich deiner würdig?“
CHRISTINE:
Sie würde „ja“ sagen. Glaub mir, sie würde „ja“ sagen.
HERMANN:
Was würdest du Erich sagen, wenn du mit ihm eine halbe Minute reden könntest?
CHRISTINE:
Ich würde ihm sagen, dass ich ihm verzeihe.
HERMANN:
Was?
CHRISTINE:
Dass er mich verlassen hat, bevor ich mich von ihm verabschieden konnte … ich habe ihm nicht einmal sagen können, wie wichtig er mir war …
Hermann streichelt sie ebenfalls.
HERMANN:
Das hat er gewusst. Glaub mir, er hat es gewusst.
Kabulski kommt zurück. Christine steht auf und geht ab.
HERMANN:
Wo ist Ihr Kollege?
KABULSKI:
Er ist beschäftigt und lässt Sie schön grüßen.
Er geht zur Sitzgruppe, nimmt Hermanns Mantel auf, legt ihn säuberlich zusammen, dann legt er darauf Hermanns Schal, Hut und Handschuhe, um das Bündel in die Luft zu werfen, sodass es unordentlich auf den Boden fällt.
74 HERMANN:
Das, Herr Kabulski, bin ich bereit, zu ignorieren. Dafür biete ich … tausend für Sie und tausend für Ihren Kollegen. Das ist aber nun wirklich mein letztes Angebot. Na, was sagen Sie?
KABULSKI:
Könnten Sie mir helfen, den Teppich einzurollen?
HERMANN:
Ich hoffe, Sie bemerken, dass das ein Teppich von erstklassiger Qualität ist.
KABULSKI:
Für mich sind alle Teppiche gleich. – Vielen Dank für ihre Hilfe.
HERMANN:
Keine Ursache. Diesen Teppich habe ich Frau Rieder besorgt, zum Selbstkostenpreis.
CHRISTINE:
(kommt aus dem Schlafzimmer) Plus zwölf Prozent. Bis auf meine persönlichen Sachen und das Sofa ist jetzt alles weg.
KABULSKI:
Wir haben es gleich überstanden, gnädige Frau. (mit Blick auf Hermann) Oder wünschen Sie, dass wir den Herrn auch einrollen?
Kabulski ab. Christine und Hermann stehen im Wohnraum und sehen sich um.
CHRISTINE:
Das war vor kurzem noch ein Heim … jetzt ist es ein Mietobjekt.
Hermann bückt sich, um aufzuheben, was Kabulski hingeworfen hat.
CHRISTINE:
Warum kommst du nicht mit zu unserem Essen? Paul und Barbara würden sich sicher freuen.
HERMANN:
Ich kann nicht. Für mich ist das heute ein normaler Arbeitstag, und ich habe viel zu tun. Danke für den Kaffee, die Schnecke und das „Gerolsteiner“.
CHRISTINE:
Danke für die Pralinen und das wunderschöne Gedicht.
75 HERMANN:
Am meisten danke ich dir für die vergangenen … achtzehn Stunden.
CHRISTINE:
Es waren schöne Stunden … seltsam, aber schön.
KABULSKI:
Gnädige Frau, wir holen jetzt das Sofa, dann noch den Teppich, und dann müssen Sie uns noch die Arbeitsbestätigung unterschreiben.
CHRISTINE:
Gern. Ich unterschreibe Ihnen auch, dass Sie zwei tolle Burschen sind.
KABULSKI:
Und Sie sind eine besonders liebe Kundin. – Daher sollen Sie auch wissen, dass dieser Herr jedem von uns tausend Euro geboten hat, wenn wir die Arbeit hinschmeißen und Sie im Stich lassen.
LANGER:
Tausend? Er hat wirklich tausend gesagt?
KABULSKI:
Ja. Aber du hast abgelehnt, weil deine Arbeitsmoral nicht käuflich ist.
Er zeigt auf das Sofa. Sie heben es hoch und tragen es hinaus.
LANGER:
Wann soll ich das gesagt haben?
KABULSKI:
Vorhin. Aber du hast es so leise gesagt, dass du es wahrscheinlich gar nicht gehört hast.
CHRISTINE:
Warum hast du das getan? Die Firma Intertrans hätte mir einfach zwei andere Packer geschickt.
HERMANN:
Ja, aber nicht vor Montag. Ich hätte also noch das ganze Wochenende Zeit gehabt, dir das Unvermeidliche auszureden. Lebewohl, Christine. Pass auf dich auf.
CHRISTINE:
Du auch.
Hermann geht dem Ausgang zu und dreht sich noch einmal um.
76 HERMANN:
Vielleicht freut es dich zu erfahren, dass in Wirklichkeit gutes Flugwetter angesagt ist.
Er geht ab. Christine wartet noch einen Moment, in Erwartung, dass er wiederkommen würde. Sie zuckt die Achseln, hebt Becher und Flasche vom Boden auf und geht in die Küche. Hermann erscheint wieder in der offenen Tür, sieht, dass der Raum leer ist und läutet. Christine eilt herbei.
HERMANN:
Ich habe aus Versehen dein Flugticket gestohlen.
Er reicht ihr den Umschlag. Sie legt ihn auf das Bücherregal.
CHRISTINE:
So wolltest du meine Abreise verhindern? Ich hätte beim Flugschalter gesagt, dass ich das Ticket verloren habe, und sie hätten es ersetzt. Wenn nicht, hätte ich ein neues gekauft.
HERMANN:
Christine, werde jetzt nicht logisch. Ich hab mich an Strohhalme geklammert … und nachdem das der letzte Strohhalm war … sieht es so aus, als ob du wirklich nach Florenz ziehen würdest.
Christine setzt sich auf die Stufen zur Diele.
CHRISTINE:
Setz dich zu mir, bis die Möbelpacker wieder kommen. Vielleicht kommst du mich einmal besuchen. Dann führe ich dich aus. Ich bin sicher, dass es in Florenz auch ein „Maisonepp“ geben wird.
HERMANN:
Wirst du auch Ricarda einladen?
CHRISTINE:
Nein, die ist imstande und versucht, dich zu verführen.
HERMANN:
Das hat sie schon versucht. Zu Neujahr hat sie mir eine Glückwunschkarte geschickt. Eine Aufnahme von ihr im Badeanzug. Ich musste Strafporto bezahlen!
CHRISTINE:
Siehst du? Habe ich dir nicht gesagt, dass du eine Attraktion bist?
HERMANN:
Das Problem ist nur, dass ich mein Herz schon anderweitig vergeben habe. Aber es wurde nicht akzeptiert.
77 (HERMANN:)
Dann kann ich dir auch noch das Ticket zurückgeben. Vorhin das, war nur der Umschlag.
CHRISTINE:
Also, was ist? Kommst du mich besuchen, damit ich dich zum Essen ausführen kann?
HERMANN:
Ja.
CHRISTINE:
Gut. Sagen wir: in drei Wochen.
HERMANN:
Klingt gut. Sobald ich im Büro bin, werde ich meinen Terminkalender konsultieren.
CHRISTINE:
Du könntest natürlich auch heute mit mir fliegen. Dann hätte ich jemanden, an dem ich mich beim Start und bei der Landung anklammern könnte.
HERMANN:
Dein Flug geht erst um Viertel nach fünf. Und jetzt ist es … Ach, ich habe um sechs einen Termin beim Friseur.
CHRISTINE:
Hermann, hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du ein unverbesserlicher Romantiker bist?
HERMANN:
Nein, du bist die erste.
CHRISTINE:
Glaubst du wirklich, dass ich vor irgendwas davonlaufe?
HERMANN:
Glaubst du es denn?
CHRISTINE:
Nein … vielleicht … nicht wirklich … aber sollte ich davonlaufen wollen, dann sag mir wovor?
HERMANN:
Das musst du dir schon selbst beantworten.
CHRISTINE:
Ich glaube, ich flüchte vor den immergleichen Wohnungen, die ich für die immergleichen Kunden einrichten muss und vor dem täglichen Einerlei. Ich möchte neue Herausforderungen – neue Abenteuer. – Aber vielleicht betrüge ich mich auch selbst. Vielleicht wird es nur ein Tapetenwechsel.
78 HERMANN:
Ich könnte dir helfen und gleichzeitig auch mir.
CHRISTINE:
Wie?
HERMANN:
Ich könnte dein Leben mit Liebe erfüllen und dich bitten, das Gleiche für mich zu tun.
CHRISTINE:
Könntest du nicht vielleicht schon in zwei Wochen kommen?
HERMANN:
Ich werde sofort meinen Terminkalender konsultieren. Werde glücklich, Christine. Schau in die Zukunft und nie mehr zurück! Erich und Ilse sind gestorben. Sie sind weg. Und wenn wir beide so tun, als wäre mit diesem Verlust unser Leben zu Ende, dann könnten wir genauso gut auch gestorben sein. (Will abgehen)
CHRISTINE:
Warte einen Moment, Hermann. Du könntest noch etwas für mich tun.
HERMANN:
Was denn?
CHRISTINE:
Heirate mich. (Sie fällt auf die Knie, streckt die Arme aus und ruft:) Erfüll mein Leben mit Liebe und lass mich das Gleiche für dich tun.
Hermann bleibt einige Sekunden lang vor Staunen stumm, dann:
HERMANN:
Ich weiß nicht, was ich sagen soll … das kommt so plötzlich. (Er kniet sich zu ihr und ergreift ihre Hände.) Was hat dich endlich zur Vernunft gebracht?
CHRISTINE:
Ich habe zwar keine Liste dabei, aber Punkt eins wäre: Jedesmal, wenn du durch diese Türe gegangen bist, habe ich gehofft, dass du wiederkommst. Punkt zwei: Wenn du verrückt genug bist, ein altes Stück Glas für einen Brillanten zu halten, dann wäre ich ja verrückt, wenn ich dich gehen ließe.
Hermann steht auf und zieht sie hoch. Dann zieht er Schal, Hut und Mantel aus und legt alles auf den Kaminsims.
79 HERMANN:
Wenn es dir wirklich so wichtig ist, in den Süden zu ziehen … warum können wir es nicht gemeinsam tun?
CHRISTINE:
Glaubst du, dass du dich dort eingewöhnen könntest?
HERMANN:
Nie! Mein Geschäft ist hier – und einen neuen Buchhalter suchen, das ist mir zu riskant.
Die Packer kommen wieder. Kabulski bringt eine Mappe mit der Arbeitsbestätigung.
LANGER:
Alles fertig zur großen Fahrt in den Süden!
HERMANN:
Willst du es ihnen sagen, oder soll ich?
CHRISTINE:
Das ist meine Sache. – Herr Kabulski.
Kabulski öffnet Mappe und reicht sie ihr mit Kugelschreiber.
KABULSKI:
Wir sind fertig, gnädige Frau. Unterschreiben Sie bitte dort, wo ich das Kreuz gemacht habe.
HERMANN:
Darf ich das mal sehen. Ich möchte sicher gehen, dass der Firma Intertrans keine zusätzliche Transfusion zuteil wird. (Er nimmt die Mappe, öffnet und kontrolliert die Zahlen.)
KABULSKI:
Das nehmen Sie sofort zurück, oder …
CHRISTINE:
Herr Kabulski, es hat sich eine kleine Änderung ergeben. Ich möchte alles hier einlagern. Ich ziehe nicht nach Florenz.
Hermann reicht Christine die Mappe.
HERMANN:
Du kannst unterschreiben. Wenn die Rechnung kommt, werde ich sie nochmals genau kontrollieren, aber in so einem Moment möchte ich nicht zu pingelig sein.
LANGER:
Was ist das für ein Moment?
CHRISTINE:
Herr Löwy und ich haben beschlossen zu heiraten.
80 LANGER:
Was, Sie und … er??
HERMANN:
Was stört Sie an mir?
KABULSKI:
Also … mir verschlägt es die Sprache. (zu Christine) Warum?
CHRISTINE:
Wir sind jung und verliebt. (Sie unterschreibt und reicht Mappe und Schreiber zurück an Kabulski.)
LANGER:
Das war ja ’ne Glanzleistung, Kabulski. Ich fahre nicht nach Italien – aber die tausend Euro krieg ich ooch nicht!!
KABULSKI:
Nicht jammern! Gratuliere lieber der Frau Braut.
LANGER:
Gratuliere.
KABULSKI:
Gnädige Frau, wenn Sie es darauf angelegt hätten, hätten Sie auch mich kriegen können … aber bitte, Gratulation und alles Gute für die Zukunft. Ihnen auch.
HERMANN:
Danke, Herr Kabulski.
KABULSKI:
Langer!
LANGER:
Wat is?
KABULSKI:
Fass an.
LANGER:
Det ooch noch. Na ja, bis zum nächsten Mal, Frau Rieder.
Die beiden gehen ab.
CHRISTINE:
Oh!
81 HERMANN:
Rufen Sie mich doch mal an, Herr Kabulski. – Vielleicht gehen wir mal zusammen einen trinken!
KABULSKI:
(off) Det hätte mir grade noch gefehlt.
HERMANN:
Willst du eine kleine Hochzeit, oder eine große?
CHRISTINE:
Eine kleine. Und du?
HERMANN:
Ich auch. Es wäre schön, wenn Stefan mit den Kindern zur Hochzeit kommen könnte.
CHRISTINE:
Ach, ich muss Ricarda anrufen. Was werd’ ich ihr sagen … ja, was sage ich ihr? Ich werde ihr ein Fax schicken.
HERMANN:
Ziehen wir in meine Wohnung? Nachdem du sie in vernünftigen Grenzen umgestaltet hast?
CHRISTINE:
Nein. Ich glaube, wir sollten ganz woanders neu anfangen.
HERMANN:
Das hat was für sich.
CHRISTINE:
Ich ziehe erstmal in ein Hotel.
HERMANN:
Ich such dir eins aus. – Eins in das man mich auch reinlässt. Oder wir tun so, als hätte die vergangene Nacht nie stattgefunden und warten bis zur Hochzeitsnacht.
CHRISTINE:
Nein, ich möchte beizeiten mit dem Training beginnen.
Beide wollen sich in den Arm fallen.
ENDE