Neu-Ulm: Eine verzipfelte Welt

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Neu-Ulms „verzipfelte Welt“ Es war eine verdammt „verzipfelte Welt“, fanden jedenfalls die Menschen rechts und links der Donau bei Ulm, damals, im Jahre 1810, nach dem Machtwort des Mächtigsten in Europa: Napoleon. Der hatte nach dem Sieg über Österreich seine Vasallen, darunter auch die neugebackenen Könige in Württemberg und Bayern belohnen wollen, hatte Bayern Salzburg geschenkt und dafür das Bayerische Oberamt Ulm weggenommen, um es Württemberg zuzuschlagen. Der von Napoleon selbstherrlich bestimmte Grenzvertrag beschied: dass „ sich die [Bayerisch-Württembergische] Grenze von der Illermündung nach dem Talweg der Donau hin fortsetzte, und zwar so, dass die Stadt Ulm und was auf der linken Seite des Flusses gelegen ist, an Württemberg fällt, alles aber, was rechts des Talweges sich befindet, bei Bayern bleibt“. Da gab es aber viele Ungereimheiten, „Verzipfelungen“ eben. Beide Seiten waren unzufrieden. Beinahe wäre es sogar zu einem bayerisch-württembergischen Krieg gekommen. Die jeweils andere Seite der Donau war zum Ausland geworden. Die Bürokratien rechts und links des Grenz-Flusses legten sich mächtig ins Zeug. Über ein Jahrzehnt gab es diverse Streitigkeiten um Besitzverhältnisse und Rechte. Erst 1821, am 5. August, fand das ständige Hin und Her ein Ende durch einen Staatsvertrag, dessen Ziel es war (Präambel:), „gegenseitig bestehende Ansprüche und Irrungen auszugleichen und dadurch das gegenseitige gute Einverständniß dauerhaft zu befestigen“. Wie es in der zum 125jährigen Jubiläum der Stadterhebung von Barbara Treu im Auftrag der Stadt herausgegebenen Chronik heißt: „In sechzehn Artikeln wurden mit äußerster Akribie


Fragen der Grenzziehung, des Eigentums und der Nutzung geklärt, Ansprüche gegeneinander aufgewogen und angeglichen, wobei es unter anderem um die Besitzrechte an den Schopperplätzen auf der Insel, der Kleemeisterei am Herbelhölzle, endlich sogar an dem ‚großen Düngeplatz an der Promenade zu den Schützen‘ – also der heutigen Schützenstraße ging.“ Das war vor knapp 200 Jahren. Einerseits lange her. Andererseits: Die Querelen haben sich ins kollektive Gedächtnis der Menschen rechts und links der Donau eingegraben. Es ist überall in der Welt und in der Geschichte vieler Völker zu beobachten, wie einschneidende Geschehnisse immer wieder mindestens diffus erinnert werden und im aktuellen Leben doch eine Rolle spielen. Irgendwie weigern sich die Ulmer, nach Neu-Ulm zu gehen. Ihre jüngeren Vorfahren fanden das nicht so prickelnd. Plötzlich war da eine Grenze, welche die Ulmer von vielem, was sie gewohnt waren und ihnen lieb war, abschnitt. Als Napoleon sein Machtwort sprach und die Mitte der Herdbrücke zur Grenze zwischen Württemberg und Bayern machte, war das unmittelbar am bayerischen Kopf der Herdbrücke gelegene Siedlungsgebiet die frühere Schwaige Ulms, der Viehhof. 1810, gab es rechts der Donau auf dem Gebiet, aus dem Neu-Ulm erstehen sollte, gerade „drei behauste Familien“. Dieses alte Schwaighofen („Schweickhofen“, „Swaykhofen“) direkt an der Donau, welches mit dem modernen Schwaighofen beiderseits der Reuttier Straße nur den Namen gemein hat (als Reminiszenz und Wiedergutmachung gegenüber der ursprünglichen Siedlung), dieses alte Schwaighofen hat bis zu seinem endgültigen Aus im 17. Jahrhundert viel gelitten. Immer wieder loderte die Brandfackel, folgte den mutigen und risikoreichen Siedlungsversuchen Rückschlag auf Rückschlag. Ulm wollte nie, dass dort gesiedelt wurde. Fast so oft wie fremde Truppen Schwaighofen geschleift haben, hat Ulm die dortigen Häuser niederlegen lassen. Als dann auf Napoleons Geheiß die Grenze zwischen Bayern und Württemberg in der Flussmitte der Donau gezogen wurde, 1810, war das Gebiet rechts der Donau, auf dem Neu-Ulm erstehen sollte, so gut wie unbesiedelt. Das 1255 erstmals urkundlich erwähnte Schwaighofen hatte wohl schon ein Kirchlein aus dem Jahre 600, aber 1395 wurde eine Kirche oder Kapelle gebaut, die etwa da stand, wo sich heute die NeuUlmer Post findet, im Raum zwischen Hermann-Köhl-Straße, Gartenstraße und den Bahngeleisen. Es ist also kaum verwunderlich, dass es „DEN“ Neu-Ulmer gar nicht gibt. Als 1818 ein Regierungsbescheid erlassen wurde, sollte demzufolge eine Gemeinde gebildet werden unter Hinzuziehung von Offenhausen und Einbeziehung von sechs Einödhöfen, dem Striebelhof, dem Steinheinchen, der Illerüberfähre, dem Gurrenhof, dem Freudeneggerhof und dem Harzer- oder Wacholderhof. An Bewohnern zählte Offenhausen 22 Familien, die Illerüberfähre zwei, die übrigen Höfe 46, im Mittelpunkt des Ganzen waren es 17 Familien. Und das sollte Neu-Ulm sein? (Dieser Name schlich sich quasi ein; zwei Pfarrer, ein evangelischer aus Pfuhl und ein katholischer aus Burlafingen, hatten 1814 unabhängig voneinander bei Taufen ins Taufbuch die Geburtsorts-Angabe „Neu-Ulm“ eingetragen. Das setzte sich dann auch bei den Behörden durch.


Die bayerischen Behörden registrierten gleich zu Beginn der neuen Grenzsituation: Es strömen täglich Hunderte und manchmal Tausende von Württembergern über die Herdbrücke nach Bayern, weil sie da wie früher arbeiten, spazieren gehen oder feiern wollten. Da muss kontrolliert werden, müssen Pässe vorgezeigt und Gepäckkontrollen durchgeführt werden. Schnell wurden 32 Mann bayerisches Grenzmilitär stationiert, für die 1812 eine „kleine Casserne“ entworfen wurde. Neben dem Militär taten Polizei-, Zoll- und Verwaltungsbeamte ihren Dienst; und sie alle mussten sich mehr schlecht als recht die Quartiere auf der Insel teilen. So fing das an mit „Neu-Ulm“, welches also vom Getriebe her alles andere als ein Bauerndorf war und auf eine Stadt an der Grenze hinauslief. Übrigens: Wer aus Bayern kam und über die Brücke nach Ulm hinein wollte, hatte vor den königlich-württembergischen Schildwachen den Hut abzunehmen. Nebenbei bemerkt: Auch die Uhren gingen hüben wie drüben (in Stuttgart und München) anders. Wenn man sich dieses „verzipfelte“ Kern-Neu-Ulm anschaut und auch genauer unter die Lupe nimmt, welchen Einflüssen und Besitzverhältnissen die heutigen Neu-Ulmer Stadtteile unterworfen waren, muss deutlich werden: Das Verhältnis Ulm zu Neu-Ulm und das der Neu-Ulmer Stadtteile zur Kernstadt kann nicht einfach und unzweideutig sein. Da war so vieles verzipfelt, dass das bis heute noch unbedingt nachwirken muss.


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