auszug #12
widerstand und wandel 70er über die 19
Milena Meller hörbarer raum – nicht hörbare musik konzepte zu raum und zeit und klang
jahre in tirol
impressum Herausgeber: aut. architektur und tirol (www.aut.cc) Konzept: Arno Ritter Redaktion: Arno Ritter, Claudia Wedekind Lektorat: Esther Pirchner Gestaltung und Satz: Claudia Wedekind Grafisches Konzept und Covergestaltung: Walter Bohatsch, Wien Gedruckt auf Magno Volume 115 g Gesetzt in Frutiger Lithografie und Druck: Alpina Druck, Innsbruck Buchbindung: Koller & Kunesch, Lamprechtshausen © 2020 aut. architektur und tirol, Innsbruck © der Textbeiträge bei den Autorinnen und Autoren © der Abbildungen bei den jeweiligen Rechteinhabern Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. ISBN 978-3-9502621-7-9
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Milena Meller hörbarer raum – nicht hörbare musik ... konzepte zu raum und zeit und klang1
„Denn was immer der Mensch tut, er tut es, um die Zeit zu vernichten, um sie aufzuheben, und diese Aufhebung heißt Raum. Selbst die Musik, die bloß in der Zeit ist und die Zeit erfüllt, wandelt die Zeit zum Raume, und daß alles Denken im Räumlichen vor sich geht, daß der Denkprozeß eine Verquickung unsagbar verwickelter vieldimensionaler logischer Räume darstellt, diese Theorie besitzt allergrößte Wahrscheinlichkeit. Ist dem aber so, dann mag es auch klar sein, daß allen jenen Manifestationen, die sich unmittelbar auf den Raum beziehen, eine Bedeutung und eine Sinnfälligkeit zukommt, wie sie keiner andern menschlichen Tätigkeit je zukommen kann.“ Hermann Broch2
raum und zeit Musik er- und verklingt in der Zeit, ist die Kunst der Vergänglichkeit schlechthin. Jede Art Klang braucht Raum. Schallwellen brauchen die Luft, die sie zum Schwingen bringen, um an unser Ohr zu dringen. Raum und Zeit werden im Klang ein untrennbares Paar. Auch unser Körper ist Raum, Klangraum. Über Raum im Verhältnis zur Zeit-Kunst Musik gibt es Regalmeter voll von Schriften. Der vorliegende Beitrag soll und kann weder wissenschaft liche Abhandlung darüber sein noch über musikalische Entwicklungen der hier im Fokus stehenden 1970er-Jahre. Vielmehr sollen Schlaglichter auf einzelne Positionen geworfen werden, sind diese doch als exemplarisch für den Geist der 1970er-Jahre anzusehen. Zugleich sind es ganz singuläre künstlerische Positionen, die hier vorgestellt werden in Form einer Collage aus Bildern, Zitaten, Hör-Protokollen und Werkbeschreibungen – ohne allerdings dem Gesamtschaffen der Porträtierten gerecht werden zu können. Während Bernhard Leitner Ende der 1960er-Jahre Klang als Bauma terial entdeckt, mit dem er Tonräume und -skulpturen baut, richtet Albert Mayr, nachdem er, als junger Komponist in der Avantgarde verortet, ab den 1960er-Jahren nicht nur „Soundscapes“ (Klanglandschaften) erkundet, sondern auch elektronische Musik komponiert, seinen Fokus auf die Be obachtung von Zeit in größeren Zusammenhängen. Thomas Eisl erforscht immer wieder das klangliche Zusammenwirken von aufgefundenen Gegebenheiten mit von ihm hergestellten Gerätschaften im öffentlichen Raum. Wenn sie auch erst später in Erscheinung treten, so tauchen in
iesem Kontext weitere Personen auf, da sie fortsetzen und realisieren, d was bis in die 1970er-Jahre an Ideen rund um Musik und Raum neu formuliert wurde: Wolfgang Mitterer ist virtuos im Bespielen nicht nur diverser Innen-, sondern auch Außenräume, wofür er gern die Konzertsaal- Aufführungssituation verlässt. Auch Elisabeth Schimana arbeitet am Auf brechen konventioneller Konstellationen und beschäftigt sich unter anderem mit Architekt Heinz Tesar, für dessen Räume sie Musik komponiert, inspiriert auch von seinen Konzepten und Schriften.
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hören und sehen Häufig geht es im Folgenden um sinnlich erfahrbare, aber unsichtbare Räume. Alle hier vorgestellten Projekte lassen auf je verschiedene Weise mithilfe von Klang temporäre, virtuelle Räume entstehen: Leitner macht das ganz explizit, Mayr generiert diese Räume mithilfe seiner klanggeografischen Bestandsaufnahmen, performativen Vermessungen und unterminierenden Interventionen wie in den elektronischen Kompositio nen. Das Gleiche gilt auch für Mitterer und Schimana, die in ihren elektronischen Stücken imaginative Räume generieren. Eisl erzeugt temporäre Räume, die häufig nur für die Dauer einer Installation und nur vermittelt bestehen. Man kann zwischen diesen Buchseiten die sinnliche Erfahrung des Hörens nicht erleben, auch den jeweiligen Raum, der beschrieben wird, können wir uns nur vorstellen. (Sprach-)Bilder sollen daher die Imagination anregen. vision und verweigerung Alle vorgestellten Personen haben mehr oder weniger mit Wider stand sowie damit zu kämpfen, dass die Realisierung der Ideen oder Ideale, denen sie nachgehen, als utopisch angesehen wird. Pathetisch gesagt: Sie glauben an ihre beargwöhnten Visionen und / oder an den Wert von Konzepten, die bis heute nichts an Brisanz eingebüßt haben: Wenn es um die Infragestellung des Werkbegriffs geht, damit einhergehend um das Relativieren der Autorschaft, um das Prinzip der Improvisation im musikalischen Sinn, d. h. um das Brechen der Dominanz von Schriftlichkeit, so sind das durchwegs Ansätze, die konservative Strukturen demontieren, also (letztendlich auch politisch gedacht) wesentlich weiter greifen, als es vorerst den Anschein haben mag. Der hier fokussierte Zeitabschnitt ist zweifellos einer, in dem man etwas wirklich Neues machen, schockieren, provozieren, überraschen konnte, überzeugt davon, Grenzen aufbrechen, mithilfe der Kunst die Welt verändern zu können.
„Wir haben naiverweise damals ja noch geglaubt, Kunst könnte die Welt verbessern.“ Albert Mayr3
Nicht von ungefähr eint die hier Dargestellten auch, dass sie auf je igene Art ihre Visionen mit Radikalität verfolgen. Das betrifft gerade e auch die Leisen, denn Radikalität muss sich nicht zwingend laut gebärden. idee und inspiration Als Bernhard Leitner (geb. 1938 in Feldkirch, aufgewachsen in Innsbruck) nach seinem Architekturstudium in Wien 1969 im Begriff ist, nach New York zu fliegen, wo er für einige Jahre eine Stelle im Amt für Stadtplanung antreten und später auch an der Universität unterrichten wird, steigt in ihm erstmals die Idee auf, Klang als Baumaterial zu ver stehen: Er macht am Flughafen erste Skizzen. „Was ist eine Idee?“, fragt er gerne im Gespräch. Dass die Idee sich in seinem Fall ausgerechnet in dem Moment erstmals zeigt, da er, gleichsam befreit, Europa mit seinen Traditionen hinter sich lässt, sei wohl kein Zufall, meint er und nennt prägende Eindrücke seiner frühen Jahre:4 Schon als Jugendlicher in Innsbruck erlebt er eine durch die fran zösische Besatzung beförderte Atmosphäre der kulturellen Aufgeschlos senheit: Ausstellungen im Institut Français zeigen erstmals Originale der Moderne. Die „Österreichischen Jugendkulturwochen“ werden gegründet, eine von 1950 bis 1969 jährlich stattfindende Veranstaltungsreihe, die zusehends zu einem Podium für die junge Avantgarde aus ganz Österreich und darüber hinaus avanciert und KünstlerInnen aus allen Kunstsparten versammelt.5 Für 1970 ist übrigens deren 20. Ausgabe mit dem thema tischen Schwerpunkt Architektur geplant, diese findet aber nicht mehr statt.6 Um diese Zeit erleben Tirol und Innsbruck eine Serie von Neu gründungen, die nachhaltig und bis heute wirksam sind.7 In Wien beeindruckt Leitner die zögerlich wiederentdeckte, durch den Nationalso zialismus vertriebene musikalische und architektonische Avantgarde der Vorkriegszeit. Er beschäftigt sich intensiv nicht nur mit zeitgenössischer Musik, sondern entdeckt auch den Tanz als „räumliche Gestik“. In Paris faszinieren ihn die Bewegung „Lumière et Mouvement“ und Walter O’Conells Darstellungen und Ausführungen zu Akkorddrehungen in der Zeitschrift „Die Reihe“.8 Dass in dieser Zeit die raumbezogene musikalische Arbeit von Iannis Xenakis oder auch Karlheinz Stockhausen eindringliche Wirkung auf alle hat, ist wohl müßig zu erwähnen. So sehr das Thema Raum in vielen musikalischen Konzepten also eine Rolle spielt, so sehr unterscheidet sich Bernhard Leitners einzigartiger Ansatz aber von ihnen allen.
hörbare räume anfänge der ton-architektur von bernhard leitner „In meiner Arbeit ist die Zeit der Raum und der Raum ist die Zeit! Der Raum ist eine Geburt, ein Kind der Zeit, die Zeit gebiert den Raum.“ Bernhard Leitner9
Leitner beginnt um 1969 in New York mit theoretischen Unter suchungen, bevor er erste „Ton-Räume“ mit Holzlatten realisiert, an denen Lautsprecher montiert sind, die mittels eines eigens erfundenen Steuer geräts einzeln, mit je veränderlicher Dynamik, (de-)aktiviert werden können. Dadurch kann er Klang von einem Punkt zum nächsten vorund zurückwandern lassen, woraus sich im zeitlichen Ablauf „Tonlinien“ ergeben, aus denen sich in der Folge räumlich ausgedehnte Gebilde formen lassen: Skulpturen, die in der Zeit ständig neu entstehen, die immateriell, aber hörend wahrnehmbar sind. Als ein Grundgerüst wählt Leitner bereits 1969 den Würfel, der mit seiner neutralen Form eine ideale Hülle für unzählige Varianten von temporären Raumgebilden bietet. Der Würfel wird Leitner durch die Jahre in mehreren Ausführungen begleiten und sich in Installationen mani festieren wie zuletzt 2018 in Innsbruck.10 76 77
Bernhard Leitner, Skizze auf Foto von Lattenelementen und Klangdiagramm, 1971
Bernhard Leitner, Sounds circling, Soundcube, 1969
In einem „Manifest“ gibt Leitner 1977 ein Statement zu seiner Arbeit ab: „[…] 2 Es ist notwendig, den Begriff ,Raum‘ umzudenken und zu erweitern. […] 5 […] Sämtliche Untersuchungen mußten in vollem Maßstab gebaut und getestet werden, da keines der bestehenden Messungs- und Interpretationssysteme für Raum und für Ton direkt auf meine Arbeiten angewandt werden konnte. Die körperliche Reaktion auf einen horizontal schiebenden oder diagonal wegfedernden Ton kann am Entwurfspapier ebensowenig gemessen werden wie die aufwärtsziehende, abhebende Qualität eines aufsteigenden Decrescendo-Tones. […]
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Bernhard Leitner, Projekt Broadway, Stadtrasterplan New York, 1970
8 […] Raum-Eigenschaften: Federn, Drücken, Schwingen, Heben, Senken, Leiten, Öffnen, Schließen, Schieben, Strecken, Durchdringen, Drehen, Verengen, Ziehen; beruhigend, beschwingend, aufregend, einwiegend, anregend, lastend, erweiternd, aufsteigend, verengend, bedrückend, befreiend, einfassend, entspannend.“11 Sich bewusst von musikalischer Konnotation abgrenzend (er arbeitet mit möglichst neutralem Klangmaterial), erforscht Leitner das dem Material innewohnende Potenzial durch Erweiterung der Verfahren im Laufe der Jahre (Projektionen, Spiegelungen u. a.), begünstigt durch die Neuerungen auf technischem Gebiet.
stadt raum Als Utopien werden mehrere Ideen abgetan, die von Leitner in den 1970er-Jahren entwickelt und bis heute nicht realisiert wurden, trifft er doch über die Jahre immer wieder auf „Indolenz und Ignoranz“12, weil er sich mit seiner Kunst nicht in ein klar abgestecktes Gebiet verweisen lässt. Unter besagte utopische Pläne fallen faszinierende klangliche Eingriffe im Stadtraum: fixe Installationen, die die räumliche Wahrnehmung im öffentlichen Raum auf äußerst subtile und reizvolle Weise manipulieren und Ausrichtungen verändern würden. körper raum Dass Schallwellen nicht nur über das Hören, sondern mit dem ganzen Körper aufgenommen werden, ist eine Erkenntnis, die Leitner in den 1970er-Jahren bald dazu führt, dementsprechende Objekte zu entwerfen: Die „Ton-Liege“ (1974), der „Ton-Anzug“ (1975), die „Ton-Schuhe“ (1976), der „Ton-Tragraum“ (1976) – sie alle arbeiten mit der direkten sinnlichen Invasion von Klang in den Körper und der Beeinflussung desselben dadurch.
Bernhard Leitner, Engräume mit Erweiterungen für Ton-Bewegungen, Skizze, 1978
Bernhard Leitner, Ton-Anzug, 1977
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Bernhard Leitner, Ton-Schuhe, Skizze, 1976
Bernhard Leitner, Kopfräume, Skizze / Collage, 2003
In vielen Varianten entstehen Objekte und Installationen, die mit dem Körper als Ton-Raum arbeiten. Eine davon ist „Kopfräume“, die Leitner mithilfe der digitalen Techniken schließlich 2003 präsentieren kann: kopfräume / headscapes, Hg. ZKM, Karlsruhe 2003 CD mit Booklet „KOPFRÄUME sind nur über Kopfhörer erfahrbar. Sie sind keine Abbilder von Außen-Raum. Sie sind konzipiert und entworfen für den Innen-Raum des Kopfes. Akustisch-geometrische Zeit-Räume im Kopf.“ Hörprotokoll „Kopfräume“ [Auszüge]13 „Mein Kopf fühlt sich hohl an, ist ein Raum, der seine Größe verändert: Der von einer riesigen dunklen Halle zu einem engen stickigen Zimmer oder zum endlos weiten Sternenraum wird. Da schlängeln sich Klangketten um Säulen einer Tiefgarage in meinem Kopf. // Eine aus Drahtgeflecht gefertigte flexible Röhre wirft sich in mir herum. // Ein Brummen fährt in einer riesigen Wanne in mir, deren Wände hochgezogen sind über dunklem Grund. // Ein ausgedehntes Tunnelsystem in meinem Schädel, in dem ein Knattern rastlos Schleifen zieht, den zentralen Platz quert, der die Stollen verbindet und wieder in einem davon verschwindet. // Weich wölbt sich eine niedrige Decke, vor mir ein Gang, hinter mir Breite.“
nicht hörbare musik anfänge der zeit-kunst von albert mayr
Albert Mayr (geb. 1943 in Bozen) wird als jüngster Teilnehmer 18-jährig vom Bozner Konservatorium zu den Darmstädter Ferienkursen geschickt, die ihn auch in den folgenden Jahren prägen. Ab den späten 1960er-Jahren arbeitet er am Studio di Fonologia Musicale in Florenz, wo Pietro Grossi ihn vertraut macht mit aktuellen Fragestellungen, die zentral für ihn bleiben werden: kollektive Improvisation, Work in Progress, Infragestellung des Werks, Aufheben der individuellen Autorschaft etc. Als er für zwei Jahre in Montreal an der Universität unterrichtet, lernt er den Komponisten R. Murray Schafer kennen, 1975 arbeitet er an dessen „World Soundscape Project“ mit, indem er die „klanggeografische Erfas sung“ des Ortes Cembra im Trentino übernimmt. Mayr musiziert in diesen Jahren nicht nur in einigen Improvisations kollektiven, sondern nimmt auch eine Stelle als Lehrer an Schulen in toskanischen Dörfern an, was er als wichtige Erfahrung empfindet. Von Anbeginn geht er nicht den naheliegenden Weg des Avantgarde-Kom ponisten, der ihm als jungem, hoffnungsvollem Darmstadt-Teilnehmer ge ebnet wäre, sondern schlägt einen Pfad in unwegsames Terrain ein, stets mit Blick auf den sozialen und den politischen Kontext. Er bleibt seiner Haltung treu, keine Kunst machen zu wollen, die „im luftleeren Raum“14 82 83
Albert Mayr, Volterra, 1973 – 74
stattfindet. Die Idee, sich mit Zeit künstlerisch zu beschäftigen, entsteht in den späten 1960er-Jahren: „Da war die Arbeit im Elektronischen Studio in Montreal: Erstmals konnte ich Dinge machen, die mit Instrumenten so nicht machbar sind. Elektronische Musik war ein neuer Zugriff auf die Welt, eine neue Form, die Welt zu hören, man konnte unerhörte Klänge bauen, der Weg über die Elektronik war wichtig für mich.“15 Mayr stößt durch ein Buch16 auf Fakten, die seine eigenen Erkennt nisse im Zuge der Arbeit im elektronischen Studio bestätigen: „Man kann bei den Musiktheoretikern des Mittelalters nachlesen, daß für die Musik anschauung dieser Jahrhunderte die regelmäßigen Bewegungen der Planeten, der Wechsel der Jahreszeiten u. ä. (musica mundana) wie das harmonische Zusammenspiel der geistigen und körperlichen Kräfte im Menschen (musica humana) als Musik im wahrsten Sinne des Wortes galten, dergegenüber das Zusammenspiel hörbarer Schwingungen, das wir gemeiniglich als Musik bezeichnen, nur ein schwaches, unvoll kommenes Abbild war.“17 Er entwickelt Versuchsanordnungen verschiedenster Art, präzisiert seine Ideen und arbeitet an einem sehr erweiterten Verständnis von musikalischer Zeitgestaltung. „Schauen wir uns im räumlichen Bereich um. Dort gibt es seit Jahr hunderten Ordnungsprinzipien (z. B. den Goldenen Schnitt), die in den verschiedensten Gebieten der räumlichen Gestaltung eingesetzt werden. [...] Schließlich gibt es im räumlichen Bereich seit langem das Design in allen seinen Spielarten, also die Verbindung von Ästhetischem und Funk tionalem. Zeit-Design hingegen ist eine Disziplin, die es erst zu entwickeln gilt. Musik, als die Zeitkunst par excellence, bietet sich als Bezugsdisziplin dafür an, Zeitorganisationsmodelle zu erfinden, die auch außerhalb des engeren künstlerischen Bereiches eingesetzt werden können.“18 Die hier skizzierten Arbeiten der 1970er-Jahre demonstrieren Mayrs einzigartigen Ansatz in mehreren Facetten und haben nichts an ihrer subversiven Kraft eingebüßt, gerade in ihrer scheinbaren Simplizität und ihrem unspektakulären, leisen Auftreten. volterra: 1973 – 74 „Es gab eine Anfrage der Psychiatrischen Anstalt in Volterra, einer damals sehr bekannten Einrichtung: Man wolle etwas mit Klang machen. Derzeit hätte man nur einen Pianisten, der auf der Hammondorgel Schlager spielt. Wir vereinbarten, einmal die Woche einen Nachmittag mit den Patienten zu arbeiten, was wir mehr als ein Jahr lang machten. Wir wollten nicht in einem Spezial-Raum mit den Leuten einzeln ein bisschen Musiktherapie machen, sondern die ganze Abteilung verändern, vitali sieren. Den Raum durch Klang beleben. Das hat – nach einiger Zeit und durch die Periodizität – funktioniert: Es gab einen Gang in der Mitte, links und rechts jeweils große Säle: auf der einen Seite die ‚schweren Fälle‘,
auf der anderen die ‚leichteren‘. Wir zogen mit den Leuten und Instru menten hin und her, animierten sie dazu, mitzumachen. Durch die Instrumente entstand dort wieder Interaktion zwischen den sonst iso lierten Menschen.“19 performances from time aspects 1975 –; Verbalpartitur. Teile: Measurements. Available Amplification. Parallel Durations. mehrteilige Performance, die Mayr an diversen Orten aufführt, erstmals in Montreal
Im Dezember 1976 führt Albert Mayr im Rahmen der Ausstellung „Junge Österreicher VII“ in der Galerie im Taxispalais auf Einladung von Kurator Peter Weiermair (Forum für aktuelle Kunst) die „Time Aspects“ auf.20 Im Teil „Measurements“ geht es darum, „ein Gebiet, das in unserem Hirn nur räumlich existiert, in der zeitlichen Dimension zu erleben“. Dem ging die Überlegung voraus, dass „Städte oder andere administrative Einheiten nach irgendwelchen Gesichtspunkten abgegrenzt werden, was eine geschichtliche oder ökonomische Berechtigung hat: dass Innsbruck bis dahin und nicht ein bisschen weiter geht. Ich stellte mir die Frage: Wie groß ist dieses Gebiet für mich zeitlich?“21 Der Körper in Verhältnis zu Raum und Zeit. Die menschliche Bewegung als Maß.
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Albert Mayr, Available Amplification, Olympisches Dorf, Innsbruck, 1975
Albert Mayr, Parcours rhytmé, Bologna, 1978
In „Available Amplification“ geht es Mayr um das „Sich-HörbarMachen. Im urbanen Raum ist die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, verloren gegangen. Der soziale Kontext existiert nicht mehr, der das ermöglicht.“22 Die Leute werden in dieser partizipativen Performance dazu eingeladen, was immer sie wollen via Megaphon an Ort und Stelle kundzutun. Dass Mayr hier das auf sein Auto montierte Doppel-Megaphon benützt, das er in dieser Zeit sonst bei Demonstrationen einsetzt, stellt diese künstlerische Aktion auch in einen politischen Kontext, der von Mayr immer mitbedacht wird. parcours rythmé: Performance, grafische und Verbalpartitur, Uraufführung in Kassel, 1977 „Die Idee kam mir bereits in Montréal auf dem Weg zur Uni, der mich durch einen Park führte, in dem es Absperr-Elemente aus Metall gab, die ich jeden Tag beim Durchgehen anschlug – sie waren besonders klangvoll – so signalisierte ich gleichsam mein Durchgehen. So entstand die Idee für ein Stück, das in der Bewegung im Raum umgesetzt wird, jeweils abhängig, wo und von wem.“23 Das Stück wird an den verschiedensten Orten realisiert, in Innenund Außenräumen, die vermessen werden, um den räumlichen Ge gebenheiten zu entsprechen, so auch 1978 im Rahmen der Ausstellung
„Metafisica del Quotidiano“ in der (damaligen) Galleria d’arte moderna in Bologna, wo der Rhythmus durch den Wechsel von Wand und Durch gang bestimmt wurde: Der Körper als Angelpunkt zwischen Raum, Zeit und Klang, die sich in der Bewegung treffen. „Hier ergibt: Raum / Geschwindigkeit der Abschreitung = Zeit, bzw. entsteht die rhythmische Gliederung des klanglichen Ablaufs durch die, zeitlich jeweils verschieden durchlaufene, räumliche Struktur.“24 brdo 1978 Künstlerische Arbeit in Form einer „Text-Band-Installation“25 als Er gebnis eines dreiwöchigen Aufenthalts auf Einladung der Galeristin Ursula Krinzinger (damals Innsbruck) im Februar 1978 im Ort Brdo in Istrien mit seinen zwanzig verbliebenen Einwohnern.26 Es gibt nach Mayrs Angaben in Brdo zu diesem Zeitpunkt „kein fließendes Wasser, kein Telefon, kein Gasthaus, keinen Laden, kein Postamt und kein Auto“27. Die hörbare Stille, die wenigen (akustischen) Ereignisse, die Stimmen. 86 87
„Inhalt meines Projekts ist es, einige für Brdo charakteristische Zeitqualitäten (bedingt durch räumliche, geografische, klimatische Konfiguration) zu vermitteln.“28
schweigen und schwerelosigkeit: heinz tesar und musik für seinen „überflüssigen raum“ von elisabeth schimana „Ich weiß, dass jeder Laut, den man von sich gibt, die wichtigste Äußerung ist, die man machen kann. Mit jedem Ton bezeugt man sein Leben. Und nachdem die Architektur mit dem Leben unmittelbar verbunden ist – übrigens genauso wie die Musik – in der Äußerung, der Entäußerung, im ersten Laut, der aus einem herauskommt, ist sie eine existentielle Erfahrung. Unvor stellbar ist für mich eine Welt, in der es keinen Ton gibt, oder auch eine Welt ohne Licht.“ Heinz Tesar29
Die gesellschaftspolitischen Verwerfungen der späten 1960er-Jahre gehen an Heinz Tesar (geb. 1939 in Innsbruck) nicht unbemerkt vorüber, im Gegenteil: Er nimmt aktiv daran teil, insbesondere an Demonstrationen, vor allem gegen Vietnam. In dieser Zeit ist er mehr in der bildenden Kunst verortet und stellt seine Werke auch aus („[…] ich hab eine gewisse Zeit gebraucht, bis ich überhaupt zur Architektur hingefunden habe – war ja erst bei der Malerei …“).30 Es entstehen eine Serie von „Embryobildern“ und die „Homotypen“, die sich mit dem Körper als Raum beschäftigen.
Heinz Tesar, Homotypen, Fotoserie, 1970
„Ohne Architektur ist die Welt anders. Architekt und Komponist sind sich der Leere bzw. des Schweigens bewußt. Die Architektur beginnt vor der Architektur – das ist sicher. […] Raum und Musik sind schwerelos. […] Das Schweigen ist im Raum besser hörbar als in der Landschaft […] Der Raum für Musik sind letztlich wir selbst. […] Meine Architektur ist eine Übung im Schweigen, daher ist in ihr latent der Wunsch nach Musik aufbewahrt.“ Heinz Tesar31
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elisabeth schimana: „on tesar“ 2006 Ein eindrücklicher Aspekt des architektonischen Denkens von Heinz Tesar ist seine Idee vom „überflüssigen Raum“: „Ein Gebäude empfinde ich dann erst als gelungen, wenn es dem Architekten gelingt, überflüssigen Raum zu erzeugen.“32 Nach diesem befragt, meint er: „Ja, … das ist das Kunststück, dass man das irgendwie reinbringt … Das ging bei der BTV, weil dort das Anliegen bestand, auch ein ‚Stadtforum‘ zu sein, und die Bauherren sehr offen waren …“, und präzisiert: „Der überflüssige Raum, das ist ein Raum, der nicht direkt im Raumprogramm gefordert ist, den man braucht, um die Idee des Hauses zu komponieren.“33 Genau diesen Raum wählt Elisabeth Schimana für das Setting ihrer Komposition, die im Auftrag des Festivals Klangspuren Schwaz 2006 im Foyer (dem „überflüssigen Raum“) der von Heinz Tesar geplanten Zentrale der Bank für Tirol und Vorarlberg „BTV Stadtforum“ in Innsbruck urauf geführt wird: Die Komposition „on tesar“ für Live-Elektronik und Flöten „orientiert sich an einer imaginären Partitur aus Textfragmenten von und einem Gespräch mit Heinz Tesar“34, schreibt Schimana zu dem Stück, dessen einzelne Teile mit Zitaten von Tesar betitelt sind (siehe Hörprotokoll). Die Musikerin und Komponistin Elisabeth Schimana (geb. 1958 in Innsbruck) ist seit den 1980er-Jahren als eine der österreichischen PionierIn nen der elektronischen Musik mit Projekten präsent, die sich durch einen radikalen Ansatz und eine ebensolche Ästhetik auszeichnen, mit mehrfa chen Bezügen zu Konzepten der vorangegangenen Jahrzehnte. Ihr künst lerisch-forschender Zugang zeigt sich u. a. darin, dass sie sich während längerer Aufenthalte in Moskau intensiv mit dem Theremin, einem frühen elektronischen Instrument, und in Wien mit dem Max Brand Synthesizer befasst. Sie untersucht in unterschiedlichen experimentellen Formaten insbesondere Fragen des Raums, der Kommunikation oder des Körpers, lotet das Hören aus mit Musik von hoher Intensität und sperrt sich leichter Rezipierbarkeit. Ihre kompromisslosen Stücke katapultieren die Hörenden in Räume abenteuerlicher Gestalt, zumal Schimana oft außermusikalische Konstruktionsprinzipien zur Grundlage ihrer Kompositionen macht.
Elisabeth Schimana, on tesar, Partitur, 2006
Hörprotokoll „on tesar“35 1 „Den Zwischenraum bauen und eine Kruste bilden vom Fließenden“: Feinst ziselierte Töne, die hinauffliegen und die Höhe des Raumes ausloten. Vielfarbiger Spaltklang, die ganze Senkrechte tönt schimmernd, am Fuß umwölkt. // 2 „Denken in Schichten bauen, legen, ordnen, stapeln“: Helles und Dunkles füllt den Raum. Klangtürme. Es wabert, strahlt, beginnt zu lodern. // 3 „Engstellen, o in die Welt, Puls“: Es flattert, fliegt, rotiert. Darunter rumort ein Wehen. // 4 „es kriecht“: Atem. An den Tönen behutsam entlangtasten. // 5 „All(es) oszilliert zwischen dem Raum und meinem Körper“: Sirren, Flimmern, Vibrieren. Pulsieren. Dichtes Flirren elektrisiert die Luft wie Schwärme von Insekten.
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tonstudio peer 1974 – 77 „Jeden Tag, wenn ich da herein gehe, blühe ich auf!“ (Theo Peer)36 „Auf Empfehlung von Friedrich Achleitner hab ich den Auftrag bekommen, für den Pianisten Theo Peer in Steinach ein Studio zu planen. […] Das Wesentliche an dem neuen Raum war, daß er vielgestaltig wurde, dennoch ein Einraum – mit rechten, stumpfen und spitzen Winkeln […] Die Hangkanten-Topographie habe ich noch dadurch betont, daß ich einen kleinen Balkon gebaut habe, der hakenförmig über den Hang hinausgreift.“37 „Es sieht aus, als ob es keine Grenze gäbe. Normalerweise wäre hier ein Abschluss, ein Ende. Durch den Bogen gibt es keinen Abschluss, man sieht das Ende nicht!“ (Theo Peer über seinen Balkon)38 Die fast archetypisch anmutende Form des Hakens taucht in Tesars Werk immer wieder auf, hat in ihrer vollendeten Form große Kraft.
„Es ist der Theo-Raum. Das bin ich!“ (Theo Peer)39 „Wichtig für die Akustik ist die Zweischaligkeit der Wand, das schräge Hochziehen der Decke, die nicht rustikal und aus ‚Naturholz‘, sondern als weiß lackierte Holzbalkendecke mit Balkenabständen von 20 cm wie in Venedig angefertigt wurde.“40
Heinz Tesar, Tonstudio Theo Peer, Steinach am Brenner, 1974 – 77
Heinz Tesar, Tonstudio Theo Peer, Steinach am Brenner, 1974 – 77, Grundriss
Heinz Tesar, Tonstudio Theo Peer, Modell, 1976
spiel und ernst thomas eisl
„Geboren in Tirol (vor langer Zeit), lebt in London; Kindheitstalent für Spielzeugdekonstruktion verwandelt sich trotz Störung durch Bil dungsinstitutionen in Verlangen, Dinge und Gedanken und Geräusche zu machen …“41 „Meine Arbeiten sind nie rein mechanisch. Interessant ist für mich das Eigenleben, das Dinge entwickeln. Ich konstruiere etwas, was äußere Einflüsse in Musik umwandeln kann. Etwa eine Harmonika, die dann vom Wind gespielt wird.“42 Hör- / Sehprotokoll Video „C0016“: Drei dicke rostige Metallbänder, die über etwas balancierend gelegt sind, schaukeln und schwanken, sich immer wieder aneinanderschmiegend, inmitten von Brombeergesträuch. Dunkle warm-metallische Klänge.43
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„Die Sache mit den Stahlstreifen ist sehr robust – heavy metal – die Dinger sind 6 m lang und 30 kg schwer. […] Das Gebiet wurde in den frühen 1970er-Jahren als große Raffinerie erschlossen, aber nicht vollendet und nie in Betrieb genommen. Alle aufrechten Strukturen wurden demoliert (unter anderem Europas höchster Schornstein), Beton, Asphalt, Schotter, Sand blieben zurück. Das Gelände wurde dann sich selbst über lassen und so über die Zeit (von Schafen, Kühen, Pferden verschont) außergewöhnlich biodivers – und einer meiner Spielplätze.“44 Assemblage, Montage, Kinetik, Klanginstallation, Performance, Film, Fotografie, das alles und viel mehr vereint sich in der Arbeit von Thomas Eisl zu hoch poetischen, miniaturhaften (Klang-)Ereignissen und -aktionen, die, häufig in der (urbanen) Wildnis, am Rand stattfindend, in der Folge (und manchmal ausschließlich) als Film- oder Foto- sowie Tonaufzeichnung erlebbar sind. Auch die in seiner Werkstatt von ihm dokumentierten oder zuweilen bei Veranstaltungen und häufig von Spielern nach seinen Anweisungen performten Stücke sind veränderlich. Fragil sind seine Konstruktionen aus Fundstücken und Spielzeug in Verbindung mit Musik instrumenten oder deren Teilen. Unermüdlich produziert er eine leise aleatorische Musik aus Tönen und zartesten Geräuschen aller Art, unerschöpflich scheint sein Fundus sowie sein Erfindungsreichtum. Nicht zufällig heißt eines seiner performativen Projekte „Der Spiel zeuge“45 – sei doch „Spielen der wohl konstanteste Aspekt“ seines Lebens.46 rechte Seite: Thomas Eisl, Collage aus Fotografien verschiedener Arbeiten, 2018
Hingebungsvolles, lustvolles Experimentieren, virtuoses Erstellen komplexer Apparaturen. Arbeiten mit dem Resonanzkörper eines Musik instrumentes, mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten diverser Gerät schaften gleichwie dem Zufall und den Gegebenheiten der Natur. Das Unberechenbare einkalkulieren und die Erscheinungsform fein aus tarieren. Subtiler Witz und dokumentarischer Ernst. Wachsamkeit für die Poesie der Dinge, der Welt. All dies zeigt sich in der außerordentlichen künstlerischen Arbeit von Eisl, die eine eigene Welt erschafft und die hier nur andeutungsweise vorgestellt werden kann. Ab 1968 in London lebend, ist Thomas Eisl viel zusammen mit Mit gliedern der in den 1960er-Jahren gegründeten Künstlergruppe APG (Artist Placement Group), die unter anderem die Trennung von Kunst und Leben überwinden will.47 Eisl betont, dass er sich selbst da nicht zugehörig fühlen konnte – er wollte nicht „Künstler“, „nichts Besonderes“ sein. So ist seine Position eine besonders radikale, konsequente, indem er sich dem Kunstbetrieb, sogar in Gestalt „immer noch radikaler“48 Strömungen, ver weigert.
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Hör- / Sehprotokoll Video „Wimbowldon“: Filmaufnahmen von einem Autorennen mit kleinen, altmo dischen Rallye-Autos und vergnüglicher Beschallung mit Musik aus den Sechzigern. Schnitt. Eine große Metallschale streicht, sich drehend, die Saiten eines anbei montierten Streich instrumentes. Die in der Schale im Kreis fahrenden Spielzeug autos wiederholen das Pulsieren des Autorennens.49 Hör- / Sehprotokoll Video „2xSOm“: „Two blackthorn pickups play both sides of LP simultaneously – B-side backwards …“50 Zwei Dornenzweige, deren lange Dornen eine Schallplatte abtasten, zwei sehr unterschiedliche Gesänge, verzerrt wie aus fernen Zeiten.51
im wald wolfgang mitterer
Auch die Arbeit von Wolfgang Mitterer (geb. 1958 in Lienz) basiert auf künstlerischen Visionen der vorangegangenen Jahrzehnte, zumal er als einer der Pioniere der elektroakustischen Musik in Österreich deren Themen auf seine radikale Weise vorantreibt. Zunächst mehr in der Impro visationsszene verortet, wo er sich im Kollektiv dem freien Fall hingibt, improvisiert er an (präparierten) Tasteninstrumenten, stets in Kombination mit elektronischem Equipment. Er komponiert Collagen aus elektronischen Fragmenten, die innere Welten entstehen lassen.52 Nach wie vor lässt er solche imaginären Räume und Landstriche entstehen, auch im großen Maßstab. Auch das Arbeiten mit Brüchen und Kürzeln bleibt eines der Wesensmerkmale seiner sehr eindringlichen Musik, in der er virtuos nicht nur Räume generiert, sondern diese auch bespielt: So realisiert er in den 1990er-Jahren Projekte, in denen der reale Raum, insbesondere der Außenraum Mit-Akteur wird – sei es ein Fußballstadion53, ein Steinbruch54 oder ein Stück Wald55. Stets grenzüberschreitend, kommt ihm das Bespielen solcher Orte sehr entgegen, an denen er Menschen unter schiedlichster musikalischer Herkunft zu experimentellen Settings zu sammenspannt. Als Organist ist Mitterer aber auch vertraut mit jenem Instrument, das an einen Raum gebunden ist und ihn zu füllen vermag wie kein anderes. Virtuos im manipulativen Verformen einer wie immer gearteten Architektur mittels Klang, bestückt er auch eine Kirche mit zahlreichen Lautsprechern und beschallt sie dergestalt raffiniert mit Live-Spiel und Live-Elektronik, dass niemand mehr zu sagen weiß, wie die Klänge ent stehen, die das Kirchenschiff fluten oder aufs offene Meer hinaustreiben lassen. waldmusik für ein ‚venezianisches sägewerk‘, 3 holzarbeiter, „ singstimme, dialektsprecher, 13 hackbrettspieler und lautsprecher“, 199456: „[…] ab 18 uhr dämmerschoppen. mit einbruch der dunkelheit setzen 3 holzarbeiter die säge in betrieb, ein sprecher redet ihnen zu, hackbrettspielerinnen und eine sängerin musizieren, aus dem wald tönen geräusche, es regnet. […]“57 Hörprotokoll „Waldmusik“ (Auszug):58 Die abendliche Waldlichtung mit den Menschen taucht auf. Unvermittelt beginnen irisierende Klangkaskaden der Hack bretter sich wie rauschendes Wasser zu verbreiten, in die sich das Kreischen der Motorsäge und das rhythmische Hin und
Her der Wassersäge mischen. Ein Donnerschlag bricht regel mäßig herein, Cantus firmus. Litaneienbetende Männerstimmen, Stimmengewirr. Sirenenhafte Rufe und Jodler der Sängerin, sich mehrstimmig vervielfachend. Klingeln, Hackbrettrauschen und Froschquaken, einsam die Sängerin im Walde. Zikaden zirpen, Rehbock und Hund bellen, Ziegen meckern, Glocken tönen. HipHop-Soundfetzen fliegen zerhackt durch die Dunkelheit …
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… von aus Tirol stammenden Menschen in den 1960er- und 1970er-Jahren ent wickelt, beziehungsweise ausgehend von Ideen dieser Jahre ab den 1980er-Jahren verfolgt und in den Folgejahren realisiert … 2 Hermann Broch, Huguenau oder die Sachlichkeit (= Die Schlafwandler, 3. Teil), 1928 – 1932, Frankfurt am Main 2017, S. 445. 3 Albert Mayr im Gespräch mit der Autorin, 2018. 4 Bernhard Leitner im Gespräch mit der Autorin, Frühjahr 2018. 5 Vgl. Riccabona, Christine, Erika Wimmer, Milena Meller, Ton Zeichen Zeilen Sprünge. Die Österreichischen Jugendkulturwochen 1950 – 1969 in Innsbruck, Innsbruck 2006. 6 Siehe auch Katalog zur Ausstellung „Ex.Position“ im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, 2004, und die Beiträge von Otto Kapfinger und Christian Kühn sowie Günther Moschig in diesem Band. 7 Forum für aktuelle Kunst, Galerie Krinzinger, Galerie St. Barbara u. a. m. 8 Walter O’Conell, „Der Ton-Raum“, in: die Reihe 8 / 1962, „Rückblicke“. 9 Bernhard Leitner im Gespräch mit der Autorin, 2004. 10 „Tonwürfel 18“, Installation im Pavillon des Hofgartens, im Auftrag von Festival Klangspuren Schwaz und Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum. 11 Aus: Bernhard Leitner, Manifest, New York 1977. 12 Bernhard Leitner im Gespräch (wie Fußnote 4). 13 Hörprotokoll der Autorin beim Hören der CD „Kopfräume / Headscapes“, ZKM, Karlsruhe 2003. 14 Albert Mayr im Gespräch mit der Autorin, 2003. 15 Albert Mayr im Gespräch (wie Fußnote 3). 16 Gerhard Pietsch, Die Klassifikation der Musik von Boetius bis Ugolino da Orvieto (= Studien zur Geschichte der Musiktheorie im Mittelalter 1; Nachdr. der Ausgabe Halle 1929), Darmstadt 1968. 17 Albert Mayr, „Zu meiner Arbeit“, in: Arunda 1982: Musik in Südtirol, hg. von Roland Kristanell, S. 45. 18 Albert Mayr, „Musik und Zeit-Design – harmonische Zeiten“, Vortrag im Rahmen von Klangzeit Wuppertal ’92, Typoscript, S. 1. 19 Albert Mayr im Gespräch (wie Fußnote 3). 20 Siehe: Magdalena Hörmann, Galerie im Taxispalais Innsbruck 1964 – 1997. Eine Dokumentation von Magdalena Hörmann unter Mitarbeit von Roswitha Mair, mit Beiträgen von Paul Flora, Wilfried Kirschl, Oswald Oberhuber, Peter Weiermair, hg. vom Kulturreferat der Tiroler Landesregierung, Innsbruck 1997. 21 Mayr begeht die Stadt von Westen nach Osten und erstellt einen Stadtplan mit eingezeichneten Linien: Eine rote steht für die grundsätzliche Ausrichtung der Vermessung, eine blaue für die Route zu Fuß, eine grüne für die Route via öffent lichen Verkehrsmitteln …). Es geht hier auch darum, dass „Räume unsere Zeiten und Zeiten indirekt unsere Räume bestimmen.“ Albert Mayr im Gespräch (wie Fußnote 3). 22 Albert Mayr im Gespräch (wie Fußnote 3). 23 Ebenda. 24 Albert Mayr (wie Fußnote 17). 25 2016 als gleichnamige CD bei ants records, Rom, veröffentlicht. 26 Brdo, wo die eingeladenen Künstler in der dortigen Schule untergebracht wurden, um deren Instandhaltung sie sich u. a. auch kümmern mussten, wäre laut Albert Mayr von Marina Abramovic empfohlen worden, die damals schon mit Krinzinger befreundet gewesen sei. Albert Mayr im Gespräch (wie Fußnote 3).
Wolfgang Mitterer, waldmusik, Partitur-Detail, 1994
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Albert Mayr, „Brdo 4. – 24. 2. 1978“, in: zweitschrift 4 / 5 / 1979: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde, hg. von Uta Erlhoff-Brandes und Michael Brandes, S. 37. 28 Ebenda. 29 Heinz Tesar, in: Bettina Schlorhaufer, „Architektur ist erstarrte Geste. Heinz Tesar im Gespräch“, in: Bettina Schlorhaufer, Heinz Tesar Notat Objekt Text, Sonderedition der Heimatblätter – Schwazer Kulturzeitschrift, anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in der Galerie im Rabalderhaus, Schwaz 2006, S. 10. 30 Heinz Tesar im Gespräch mit der Autorin, Frühjahr 2018. 31 Heinz Tesar, in: Programmbuch des Festivals Klangspuren Schwaz 2006, Saarbrücken 2006, S. 30. 32 Ebenda. 33 Heinz Tesar im Gespräch (wie Fußnote 30). 34 Elisabeth Schimana, in: Programmbuch des Festivals Klangspuren Schwaz 2006, Saarbrücken 2006, S. 99. 35 Hörprotokoll der Autorin beim Hören der CD-Version „elisabeth schimana spaces #1“, ORF Radio Österreich 1 Kunstradio Edition Zeitton, SACD 3068 2009. 36 Theo Peer im Gespräch mit der Autorin, Sommer 2018. 37 Heinz Tesar in: „Das Tiroler Porträt: Heinz Tesar nach einem Interview von Wolfgang Pfaundler“, in: das Fenster, Tiroler Kulturzeitschrift, 30 / 1982, Innsbruck 1982, S. 2975. 38 Theo Peer im Gespräch (wie Fußnote 36). 39 Ebenda. 40 Heinz Tesar (wie Fußnote 37). 41 Text zur Veranstaltung vom 5. 12. 2013: „Thomas Eisl: Konzert? ‚in dürren blättern‘“, Website des aut. architektur und tirol: https://aut.cc/veranstaltungen/ thomas-eisl-konzert (aufgerufen am 14. 5. 2018). 42 Thomas Eisl im Gespräch mit der Autorin, Herbst 2018. 43 Hör- und Sehprotokoll der Autorin von Video C0016 auf Vimeo: https://vimeo.com/230895523 (aufgerufen am 29.10.2018). 44 Thomas Eisl in einer E-Mail an die Autorin, Herbst 2018. 45 Aufführung im Rahmen des Festivals „performic“ in Innsbruck, Silberne Kapelle in der Hofkirche, 2011. 46 Thomas Eisl in einer E-Mail (wie Fußnote 44). 47 Vor allem mit den Gründungsmitgliedern Ian Breakwell und John Latham. 48 Thomas Eisl im Gespräch (wie Fußnote 42). 49 Hör- und Sehprotokoll der Autorin von Video Wimbowldon auf Vimeo: https://vimeo.com/266925835 (aufgerufen am 29.10.2018). 50 Kommentar von Thomas Eisl zum Video „2xSOm“: https://vimeo.com/230797234 (aufgerufen am 1. 10. 2018). 51 Hör-und Sehprotokoll der Autorin zum Video „2xSOm“ auf Vimeo: https://vimeo.com/230797234 (aufgerufen am 1.10.2018). 52 Vgl. frühe Werkkomplexe und Produktionen wie „reluctant games“, „violettes gras“, erschienen auf olongapo records. 53 „turmbau zu babel“ für 4.200 Sänger, 200 Trommeln, 8 Trompeten, 16 Hörner, 16 Posaunen, 8 Tubas und 8-Kanal-Tonbandeinspielung, 1993. 54 „vertical silence“ für 4 DJs, 4 Schauspieler, Feuerwehr, Mopeds, Blaskapelle, Kinderchor, Opernsänger, Caterpillar, Lkw, Jäger mit Hunden, Motorsäge … und Tonbandeinspielung, 2000. 55 „waldmusik“, 1994: siehe unten. 56 Uraufgeführt im Rahmen der „Villgrater Kulturwiese“ rund um ein wasser betriebenes Sägewerk in Innervillgraten (Osttirol). 57 Booklet der CD „mimemata“, olongapo records, 1994. 58 Nach der Version auf der CD „mimemata“, olongapo records, 1994.
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Die anlässlich der Ausstellung
widerstand und wandel. über die 1970er-jahre in tirol erschienene Publikation kann auf unserer Web-Site unter www.aut.cc bestellt werden. Sonderpreis: 19,70 Euro zuzüglich Versandspesen (6,- Österreich, 12,- Europa) Danke für Ihre Unterstützung!
bildnachweis Archiv AEP S. 40 | Wilhelm Albrecht S. 353, S. 354, S. 356 – 357, S. 359 – 362 | aus: ar chitektur aktuell 37 / 1973 S. 224 | aus: Architektur und Fremdenverkehr, 1974 S. 276 | Architekturzentrum Wien, Sammlung S. 87, S. 91, S. 177 (Foto Margherita Spiluttini), S. 178, S. 197, S. 199 (Foto Christof Lackner), S. 213 – 215, S. 323 | Atelier Classic S. 330 | Archiv aut S. 125 – 126, S. 130, S. 148, S. 216, S. 218 | aus: bauforum S. 138 (81 / 1980), S. 312 (23 / 1971), S. 324 (14 / 1969) | aus: Baugeschehen in Tirol 1964 – 1976, 1977 S. 187, S. 210, S. 225, S. 274 – 275, S. 331 | aus: BMZ – Offizielles Organ der Baumusterzentrale S. 279 (3 / 1968), S. 314 (1 / 1967), S. 318 (1 / 1968) | BrennerArchiv Innsbruck – Vorlass Mitterer S. 118 | aus: Broschüre für die „Luxus Terrassen hausanlage Höhenstraße“ der BOE, o. J. S. 168 | Canadian Centre for Architecture (Gift of May Cutler) S. 171 | Archiv COR S. 316 – 317 | aus: das Fenster S. 146 (5 / 1969), S. 150 (11 / 1972) | Digatone S. 63 – 64, S. 67 | Sammlung Albrecht Dornauer S. 55, S. 288 | Andreas Egger S. 200 – 201 | Thomas Eisl S. 93 | aus: Endbericht – XII. Olympi sche Winterspiele Innsbruck 1976, 1976 S. 288 | aus: Festschrift zur offiziellen Über gabe und kirchlichen Weihe, Sprengelhauptschule St. Johann in Tirol, 1980 S. 225 | FI Archiv für Baukunst der Universität Innsbruck S. 119, S. 197 – 198, S. 229 – 231, S. 233, S. 238, S. 241, S. 244 – 245, S. 248 – 249, S. 282 | FRAC Orleans S. 157 – 158 | frischauf-bild S. 160 – 161, S. 164 – 165, S. 169, S. 277 | Archiv Galerie Krinzinger S. 104 – 105, S. 108 | Siegbert Haas S. 179 | Karl Heinz S. 206, S. 207 | aus: Norbert Heltschl. Bauten und Projekte, 2002 S. 197 | Nachlass Ernst Hiesmayr S. 132 | Sepp Hofer S. 69 | aus: Horizont. Kulturpolitische Blätter der Tiroler Tageszeitung S. 140 (18 / 1974), S. 143 (4 / 1972), S. 145 (9 / 1973), S. 149 (10 / 1973), S. 152 (29 / 1976), S. 154 (13 / 1974) | Hertha Hurnaus S. 162 | Sammlung Waltraud Indrist S. 284, S. 290 | Sammlung Peter Jordan S. 259 – 260, S. 269 – 270, S. 364 | aus: Kasiwai. Ein Bildband des Kennedy-Hauses in Innsbruck, 1970 S. 31 | Franz Kiener S. 220 – 222 | Wolfgang Kritzinger S. 263 | Christof Lackner S. 226 | Bernhard Leitner S. 76 – 80 | Christian Mariacher S. 14 – 22 | Albert Mayr S. 82, S. 84 – 85 | Wolfgang Mitterer S. 97 | Thomas Moser S. 268, S. 271 | Helmut Ohnmacht S. 345, S. 370 | Stefan Oláh S. 208 | Archiv ORF Landesstudio Tirol S. 343 | Ortner & Ortner S. 129 | Archiv Max Peintner S. 281 | Charly Pfeifle S. 304 – 309 | Wolfgang Pöschl S. 262 | Peter P. Pontiller S. 191, S. 193 – 194 | aus: Pooletin, 3 / 4, 1977 S. 107 | aus: Pressemappe des Bauzentrums Innsbruck, 1971 S. 322 | aus: Prospekt „i-bau 1973“ S. 334 | Carl Pruscha S. 148 | Nachlass Egon Rainer S. 328 – 329 | Kurt Rumplmayr S. 261 – 262 | Sammlung Wolfgang Salcher S. 219, S. 226 | Elisabeth Schimana S. 89 | Hanno Schlögl S. 184, S. 186 | Sammlung Hubertus Schuhmacher S. 57 | aus: Schulbau in Österreich, 1996 S. 224 | Sammlung Meinrad Schumacher S. 30 | Sammlung Elisabeth Senn S. 255 – 257 | aus: Sozialer Wohnbau in Tirol. Historischer Überblick und Gegenwart, 1987 S. 136, S. 196 | Stadt archiv Innsbruck S. 24, S. 68, S. 71, S. 285, S. 325 | aus: Stadtentwicklung Innsbruck. Tendenzen und Perspektiven, 1978 S. 127 | Subkulturarchiv Innsbruck S. 33, S. 34, S. 37, S. 47 – 49, S. 58 – 62, S. 66, S. 70 | Archiv Taxispalais Kunsthalle Tirol S. 100, S. 102 | tirol kliniken S. 283 | Tiroler Landesmuseen / Zeughaus S. 330 | Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum S. 109, S. 112, S. 300 (Grafische Sammlung, Inv. Nr. 20Jh / C / 59), S. 302 (Grafische Sammlung, Inv. Nr. 20Jh / P / 118) | aus: Tiroler Nachrichten, 159 / 1968 S. 320 | aus: Tiroler Tageszeitung, 108 / 1973 S. 336 | aus: Tirols Gewerbliche Wirtschaft, 20 / 1970 S. 327 | aus: TRANSPARENT. Manuskripte für Architektur, Theorie, Kritik, Polemik, Umraum, 8 / 9, 1970 S. 294, S. 299 | Trash Rock Archives S. 52 | Archiv TU Graz, Sammlung Dreibholz S. 190 | Dieter Tuscher S. 131 | UniCredit Bank Austria AG, Historisches Wertpapierarchiv S. 246 | Universitätsarchiv Innsbruck S. 234 | Universi tätsarchiv Innsbruck – Nachlass A. Pittracher S. 251 | aus: Der Volksbote, 19 / 1973 S. 332 | Günter Richard Wett S. 339 – 340, S. 341, S. 344, S. 346 – 351, S. 366 – 369, S. 371 – 491 | Wien Museum, Karl Schwanzer Archiv (Foto Sigrid Neubert) S. 128 | aus: Wohnanlage Mariahilfpark Innsbruck (WE), 1970 S. 166, S. 167 | aus: Wohnen Morgen Burgenland, 1971 S. 180 – 185, S. 188 | Nachlass Arthur Zelger S. 286 | Siegfried Zenz S. 121, S. 122 Trotz intensiver Bemühungen konnten nicht alle Inhaber von Textrechten ausfindig gemacht werden. Für entsprechende Hinweise sind die Herausgeber dankbar. Sollten Urheberrechte verletzt worden sein, werden diese nach Anmeldung berechtigter Ansprüche abgegolten.