Anne Isopp: Welche Farben und Materialien prägten die Architektur der 1970er-Jahre in Tirol?

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auszug #20

widerstand und wandel 70er über die 19

jahre in tirol

Anne Isopp welche farben und materialien prägten die architektur der 1970er-jahre in tirol? ­versuch einer annäherung


impressum Herausgeber: aut. architektur und tirol (www.aut.cc) Konzept: Arno Ritter Redaktion: Arno Ritter, Claudia Wedekind Lektorat: Esther Pirchner Gestaltung und Satz: Claudia Wedekind Grafisches Konzept und Covergestaltung: Walter Bohatsch, Wien Gedruckt auf Magno Volume 115 g Gesetzt in Frutiger Lithografie und Druck: Alpina Druck, Innsbruck Buchbindung: Koller & Kunesch, Lamprechtshausen © 2020 aut. architektur und tirol, Innsbruck © der Textbeiträge bei den Autorinnen und Autoren © der Abbildungen bei den jeweiligen Rechteinhabern Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in ­irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers ­reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme ­verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. ISBN 978-3-9502621-7-9

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.


Anne Isopp welche farben und materialien prägten die architektur der 1970er-jahre in tirol? versuch einer annäherung

Wenn ich an die Architektur der 1970er-Jahre denke, habe ich ein ­ estimmtes Farbspektrum und bestimmte Materialien vor Augen: Orange-, b Rot- und Brauntöne verbinden sich mit der Haptik von Kunststoffen und lackierten Metalloberflächen, dunkel lackierte Holzoberflächen mit grauen Sichtbetonoberflächen. Mir kommen die farbigen Raumgestaltungen und Möbelentwürfe von Verner Panton in den Sinn, ebenso das Centre Pompi­dou (1977) mit seinen außen geführten Rohren und Aufzügen, das die Technikbegeisterung dieser Zeit widerspiegelt. Terrassenhäuser aus Sicht­beton wie die Terrassenhaussiedlung in Graz von der Werkgruppe Graz (1972 – 78) oder organisch geformte Sichtbetonbauten wie die Mensa

Josef Lackner, Schule der Ursulinen, Innsbruck, 1971 – 79, fotografiert 2019 von Günter R. Wett


Josef Lackner, Schule der Ursulinen, Innsbruck, 1971 – 79, fotografiert 2019 von Günter R. Wett

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der Schulschwestern von Günther Domenig und Wilfried Huth (1974 – 77) prägen ebenfalls mein Bild dieser Zeit. Wie aber schaut die Architektur der 1970er-Jahre in Tirol aus? Mit welchen Materialien hat man gebaut, welche Atmosphären spiegeln die damals entstandenen Bauten wider? In den 1970er-Jahren kamen viele neue Baustoffe auf den Markt, durch moderne Produktionsbedingungen wurden Bauweisen und Materialien plötzlich erschwinglicher. Auch versprachen die Industrialisierung und die damit verbundene Möglichkeit der Vorfertigung einen schnellen, effizienten und kostengünstigen Bauprozess. Der sogenannte Ölschock bewirkte in den 1970er-Jahren ein öko­ logisches Umdenken. Beim Durchblättern von Architekturzeitschriften von Anfang der 1970er-Jahre fand ich Artikel zu „Was versteht man eigentlich unter Vollwärmeschutz“? Es gab also schon vor der Krise Produkte zur Dämmung von Fassaden, sie waren aber vielen Architekten unbekannt. Um mir ein Bild von den Tiroler Bauten der 1970er-Jahre zu machen, mache ich mich auf den Weg nach Innsbruck. Entstanden ist eine Collage, die sich aus Eindrücken von den besichtigten Bauten sowie aus Gesprächen zusammensetzt, die ich mit Protagonisten aus der Zeit führen konnte. eine schulung in raumkunst Auf den Besuch der Ursulinenschule (1971 – 79) von Josef Lackner hatte ich mich schon sehr gefreut. Viel hatte ich gehört, die Bilder waren mir bekannt. Dass ich aber, so wie die SchülerInnen und LehrerInnen tagtäglich, sobald ich die Eingangstüre passierte, in eine solch besondere und in sich geschlossene Material- und Farbwelt eintauchen konnte, hat mich dann doch überrascht und fasziniert zugleich.


Über der Aula- und Turnhallenebene liegt der von einem geschoß­ hohen orangefarbenen Stahlfachwerk getragene Klassentrakt. Der Weg in die Klassen führt über die Sichtbetontreppenhäuser hinauf. Hier signalisiert der Wechsel des Bodenbelags auf eine subtile Art und Weise den Übergang von den gemeinschaftlich genützten Räumen (Turnhalle, Aula und Garderoben) zu den Räumen der Ruhe und Konzentration. Auf dem Zwischenpodest wechselt der beige Linoleumbelag des Erdgeschoßes zu einem grünen Nadelvliesteppich. Weiter geht es zur Klasse über einen der zentralen und breiten Gänge mit sichtbarer Leitungsführung. Begleitet wird dieser Gang beidseitig von den orangen Fachwerkträgern. Sie formen auf dem Kopf stehende Dreiecke, die den Blick in die Lichtkuppeln freigeben, und aufrecht stehende Dreiecke, die die Zugänge in die Klassen markieren. Die Klassen selbst sind durch den grünen Teppich geprägt, der nicht nur den Boden, sondern auch die unterhalb der Fensterbänder schräg gestellten Wandflächen bekleidet und die Lüftungsanlage in der Mitte des Raums verdeckt. Es gibt hier keine öffenbaren Fenster, sondern eine künstliche Belüftung. Überraschenderweise findet man den Nadel­ vliesteppich auch als Bekleidung von Türen: bei den Klassen, aber auch bei den Toiletten. Die Einheit aus Raumorganisation, Konstruktion und Lichtführung ­zusammen mit den typischen Materialien und Farben der 1970er-Jahre ist beeindruckend, ebenso die Tatsache, dass diese Architektur als Gesamt­ kunst­werk von der Schulgemeinschaft bis heute gelebt und belebt wird. Dem Teppichvlies begegne ich auch in anderen Bauten der 1970erJahre immer wieder. Es war damals sehr beliebt. Teppichböden waren

Josef Lackner, Schule der Ursulinen, Innsbruck, 1971 – 79, fotografiert 2019 von Günter R. Wett


­ rsprünglich ein Luxusartikel, aber durch neuartige Verfahren wie Tufting u und den Einsatz von Synthetikfasern kamen nun Bodenbeläge auf den Markt, die teilweise sogar preiswerter waren als Linoleum oder Mosaik­ parkett.1

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ein gespräch über die möglichkeiten der 1970er-jahre Die Tiroler Architekten Hanno Schlögel, Dieter Tuscher, Hermann Kastner und Karl Heinz gehörten in den 1970er-Jahren zur jungen Gene­ ration, die sich, gerade mit dem Studium fertig, in Innsbruck selbstständig zu machen begann. Hanno Schlögl und Dieter Tuscher hatten bei Roland Rainer an der Akademie der bildenden Künste in Wien studiert, Karl Heinz und Hermann Kastner an der TU Wien bei Karl Schwanzer. Jeder Lehrer gibt seinen Schülern gewisse Prägungen mit: bei den Schülern von Rainer war es vor allem die Frage der sozialen Behausung, die sie zurück in Tirol in kleinerem Maßstab umzusetzen versuchten. Aber egal ob Meisterklassenschüler oder TU-Student, für alle jungen Architekten in Tirol war Josef Lackner gleichermaßen ein Vorbild und Reibebaum. Im Gespräch ist auch heute noch ihre Wertschätzung für ihn als Baukünstler herauszuhören, ebenso die Bewunderung für seinen Mut, mit Form und Material zu experimentieren und seine Raumkonzepte und Materialvorstellungen bei den Bauherren durchzusetzen. Lackner war etwa zehn Jahre älter als meine Gesprächspartner. „Seine Gebäude waren für die damalige Zeit ungeheuer prägend“, erinnert sich Dieter Tuscher. Aber haben mit Farben, Formen und neuen Materialien nicht zu der Zeit viele experimentiert, vor allem die Jungen? „Das hat sich nur der Lackner getraut“, meint Karl Heinz und ergänzt: „Die Materialwahl hing auch von der Aufgabenstellung ab. Einfamilienhäuser wurden ­vorwiegend mit jenen Materialien gebaut, die vorhanden waren, also Mauerwerk und weißer Putz, in Weiterführung der Architektur der Zwischenkriegszeit. Unser Lehrmeister damals war Othmar Barth, der zeigte, dass man auch mit diesen Materialien zeitgemäße Architektur ­machen kann, indem man die bekannten Baustoffe neu interpretiert.“ „Es hätte auch gar nicht die Handwerker gegeben, die gewusst hätten, wie man die neuen Materialien verarbeitet“, sagt Hanno Schlögl und ­ergänzt: „Wir haben bei jedem Bau gezittert, dass er überhaupt ge­ nehmigt wird, das heißt, es war kaum Platz für Materialexperimente.“ Das Einfamilienhaus Markl (1971 – 73) von Hanno Schlögl mit dem Dialog­ partner Dieter Mathoi ist für das moderne Bauen mit altbekannten Materialien ein gutes Beispiel. Sie verwendeten Gasbetonmauerwerk mit weißem Putz und dunkel lackiertes Holz für Fenster, Türen und Möbel­ einbauten. Trotz dieser konventionellen Materialien schufen sie eine ­moderne Raumkonfiguration, die von Niveauunterschieden und verschiedenen Raumhöhen lebt.


technikaffin und farbig: das ORF landesstudio Für die damalige Zeit spektakulär und aufsehenerregend muss das ORF-Landesstudio gewesen sein, das 1972 in Innsbruck eröffnet wurde. Unterschiedlich hohe Gebäudetrakte gruppieren sich kreisförmig um ein zentrales Atrium. Das äußere Erscheinungsbild mit der silberfarbenen Putzfassade – heute ist diese weiß gestrichen –, den roten Fensterrahmen und der auf dem Dach sitzenden roten Plattform spiegelte die Farben des ORF der 1970er-Jahre ebenso wider wie die Technikbegeisterung der damaligen Zeit. Dieses Farb- und Materialspektrum sowie die Technik­ affinität prägen auch das Innenleben: Der Treppenaufgang in der zentralen Aula wird beidseitig von silbern glänzenden Rohren flankiert, eingerahmt von den rot lackierten Metallpaneelen an den Wänden. „Technische

Cover der Broschüre zur Eröffnung des ORF-Landesstudio Tirol in Innsbruck, 1972


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Gustav Peichl, ORF-Landesstudio Tirol, Innsbruck, 1969 – 72, fotografiert 2019 von Günter R. Wett

Archi­tektur darf man nicht verschleiern, man muss zeigen, was es wirklich ist“, meinte Peichl dazu. In dem 1977 gedrehten Film „Sechs Archi­tekten vom Schillerplatz“ erklärt Gustav Peichl seine Grundhaltung zur Architektur, die sich in seinen ORF Landesstudios widerspiegelt: „Die Architektur ist die Summe von Raum, Funktion, Material, Farbe und Licht. Farbe halte ich für sehr wichtig. Farbe ist ja etwas, was auf das Gemüt geht, auf die Seele, und hier finde ich, dass es viele Fehlleistungen gibt, dass man zu wenig Farbe in der Architektur hat, zu wenig Milieu.“ Sein im ORF Landesstudio geschaffenes Milieu wirkt bis heute modern. experimente mit kunststoffen Parallelen zu Gustav Peichls starker Farbsetzung und additivem Gebäu­dekonzept der ORF Landesstudios findet man auch in der Arbeit von Helmut Ohnmacht. Der Tiroler Architekt wurde in den 1970er-Jahren durch seine orangefarbenen Notunterkünfte bekannt. Diese in Grund-


und Aufriss achteckigen Biwaks waren für Bergsteiger konzipiert, die ­entweder in Not geraten waren oder einfach nur übernachten wollten, um am nächsten Tag die Bergtour fortsetzen zu können. Sie wurden aus ­glasfaserverstärktem Kunststoff gefertigt, mithilfe eines Stahlgerüsts ­auf­geständert und waren modular erweiterbar. Helmut Ohnmacht war selbst Extrembergsteiger und Bergretter. Er erzählt vom Winter 1968, als er mit Kollegen zu einem Unglück auf 4.000 Metern Höhe gerufen wurde. Die Nacht mussten sie bei schlechtem Wetter auf der italienischen Seite der Alpen in einem Biwak verbringen, das wie die meisten anderen Biwaks aufgrund seiner Konstruktion und Ma­terialität ­für diesen Zweck vollkommen ungeeignet war. In jener Nacht sei ihm die Idee ­gekommen, selbst ein Biwak zu entwerfen, das alle Parameter für eine gut funktio­nierende Notunterkunft erfüllen sollte. Aber wie kam er auf die Idee, diese Notunterkunft mit glasfaserverstärktem Kunststoff zu bauen? Während seines Studiums in Graz war Ohnmacht auch Wildwasserpaddler und lernte dabei Polyesterboote und die Vorzüge der Reaktionsharze ­kennen und schätzen, vor allem deren leichte ­Re­parierbarkeit. Auch im Gebirge müssen Ausbesserungsarbeiten rasch und von Laien ausgeführt werden können. „Die Reaktionsharze waren damals noch in einem absoluten Anfangs­ stadium“, erinnert sich Ohnmacht. „Es gab nur ein paar wenige Firmen, die mit dem Material umgehen konnten, und dies nur im Hinblick auf die Herstellung von Kühlraumtüren.“ Das zweite Material, das für die Biwaks

Helmut Ohnmacht, Polybiwak auf der Gruberscharte (Glocknergruppe), 1970


Horst Parson, Kirche Petrus Canisius, Innsbruck, 1969 – 71, fotografiert 2019 von Günter R. Wett

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notwendig war, war ein Dämmmaterial. „Ende der 1960er-Jahre zogen Vertreter von Büro zu Büro, um ihr neues Dämmmaterial vorzu­führen. Mithilfe von zwei Sprühdosen erzeugten sie am Besprechungstisch PU-Schaum.“ Für seine Biwaks wählte er nach mehreren Versuchen einen zwei­ schaligen Wandaufbau: Die äußere Polyesterschale wurde mithilfe einer Gussform aus Holz im Spritzgussverfahren angefertigt, mit PU-SchaumPlatten ausgelegt und dann die innere Polyesterschale aufgespritzt. Besonders markant und damit auch charakteristisch für die Zeit war die Farbgebung seiner Biwaks: das Orange. Es ist die internationale Rettungsfarbe, sagt Ohnmacht. Übrigens findet man auch in der Ursulinen­ schule von Josef Lackner orange-rote Waschbecken aus Kunststoff, die sich bis heute wunderbar gehalten haben. Die Farbe der Biwaks hingegen ist durch die starke UV-Strahlung im Gebirge rasch verblasst. nebeneinander von altbekanntem und neuem Anfang der 1970er-Jahre plante Horst Parson die Dekanatskirche für Innsbruck-West, Petrus Canisius, und Ende der 1970er-Jahre die Kirche in Neu-Rum. Beide Kirchen basieren auf einem quadratischen Grundriss,


unterscheiden sich aber grundsätzlich in ihrer Materialität und Stim­mung. Von der Ferne wirkt die Kirche Petrus Canisius (1969­ – ­71) wie ein ge­ schlossener, abweisender Kubus. Je näher man kommt, desto stofflicher, im wahrsten Sinne des Wortes, wirken die Fassadenplatten. Das Erd­ geschoß dient als Sockel und wird durch die hervortretenden Sichtbeton­ kuben und die breiten, über Eck geführten Treppen dominiert. Im Souterrain befindet sich der Pfarrsaal. Darüber erhebt sich der eigentliche Kirchenraum mit einer Fassade aus leicht grünlich-gelben Kunststoff­ platten, die in ein weißes, zart gegliedertes Stahlgerippe eingehängt sind. Erst im Inneren offenbart sich die Raffinesse dieser Fassadenkonstruktion: Die in Kunstharz getränkten Glasfaserpaneele sind transluzent und schaffen besonders bei Sonnenschein eine schöne Lichtstimmung im Raum. Sie erinnern mich an spätere Kirchenbauten, bei denen ähnliche Effekte mithilfe dünner Steinplatten erzielt wurden, wie die Expo-Kirche in Hannover. In der Mitte des Raums befindet sich ein erhöhter Altarbereich. Darüber scheint die Kassettendecke aus Sichtbeton zu schweben. Zu­ sammen mit den Sichtbetonnischen, dem orangefarbenen Spannteppich,

Horst Parson, Pfarrzentrum Neu-Rum, Rum, 1976 – 78, fotografiert 2019 von Günter R. Wett


Viktor Hufnagl und Fritz Gerhard Mayr, Modellschule Wörgl, 1969 – 73, fotografiert 2019 von Günter R. Wett

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den Holzbänken und Hockern hat auch dieser Raum ein zeittypisches Farbspektrum. Übrigens wurde hier zum ersten Mal in einer Kirche in Innsbruck der Fußboden mit Spannteppich ausgelegt.2 Die zweite Kirche von Horst Parson in Neu-Rum (1976 – 78) ist im Zuge der Erweiterung des Olympischen Dorfs entstanden und wurde sechs Jahre später fertiggestellt. Dieser Kirchenraum lebt von den weiß ver­­­­ putzten Oberflächen, den abgetreppten Wandflächen, den blauen, klein­ teiligen Fensterrahmen und dem schwarz lackierten Holz für die Kir­ chenmöbel. Ergänzt wird die Farb- und Materialwelt durch einen ­beigen Steinfußboden und beige Sitzauflagen. Die blauen Tür- und Ober­licht­ konstruk­tionen lassen die aufkommende Postmoderne erahnen, ­während die weißen, abgetreppten Wände an Bauten von Carlo Scarpa ­erinnern. Wie bei vielen Bauten dieser Zeit spielt auch hier die Licht­führung eine große Rolle. Das Licht kommt von oben, fällt durch ein Oberlicht in der Mitte des Raumes und durch einen Lichtspalt zwischen Decke und Wand. Horst Parson scheint sich, nach einer anfänglichen Begeisterung für neue Materialien, auf lokale Bautraditionen rückbesonnen zu haben. Das Architekturschaffen der 1970er-Jahre in Tirol stand wohl in diesem Spannungsfeld zwischen einer betont konstruktiven Gestaltung – wie bei der Kirche Petrus Canisius – und einer Weiterentwicklung der


­ lassischen, weißen Moderne. Auch das Nebeneinander von handwerkk lich ver­arbeiteten und industriell hergestellten Baustoffen spiegelt sich in ­diesen beiden Kirchenbauten wunderbar wider. programmatische ideen treffen auf die möglichkeiten der vorfertigung Auch die bedeutenden Schulbauten in Wörgl, Imst und Vomp dürfen hier nicht unerwähnt bleiben. Gerade bei dieser Bauaufgabe trafen in­ novative pädagogische Ideen auf neue bautechnische Möglichkeiten. Die Schulen in Imst und Wörgl (1970 – 73 / 74) wurden auf Grundlage eines Forschungsprogramms des Bundesministeriums für Unterricht als Modell­ schulen errichtet. Man wollte die Möglichkeiten der Vorfertigung für den Schulbau untersuchen und einen Schultyp entwickeln, der Flexibilität und die Umsetzung moderner didaktischer Ideen erlaubt. Diese For­ derungen ließen sich vortrefflich mit den neuen Möglichkeiten der Vor­ fertigung kombinieren. Die modular vorgefertigten Stahlbetonelemente wurden mit Leicht­ bauelementen aus Holz, Glas und Gips kombiniert. In den Schul­bauten in Imst, Wörgl und Vomp stimmen die grauen Sichtbetonober­flächen der

Franz Kotek, Wohnanlage Mariahilfpark, Innsbruck, 1969 – 73, ­fotografiert 2019 von Günter R. Wett


Peter Thurner, Erweiterung Hotel Central, Innsbruck, 1978 – 80, fotografiert 2019 von Günter R. Wett

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Stützen, Balken und Kassettendecken den für diese Zeit typischen rauen Innenraumton an. Hinzu kommen Elemente in Naturholz und knalligen Farben, die zusätzliche Akzente setzen: Fensterrahmen, Trennwände, Geländer und Spannteppiche in roten, blauen oder gelben Farbtönen. Der Einfluss der De-Stijl-Bewegung ist hier sichtbar. Karl Heinz erinnerte sich in unserem Gespräch an seine Begeisterung für De Stijl: „Das Haus von Gerrit Rietveld war für mich ­damals das Nonplusultra: wie er mit einfachen Materialien, Proportionen und den Flächen in den Primärfarben arbeitete.“ Bis auf die Spannteppiche findet man dieses Farbspektrum bis heute in den Schulen in Wörgl, Imst und Vomp. Im Schulzentrum in Wörgl zum Beispiel entfalten die mit Holz beplankten Innenwände zusammen mit den roten Treppengeländern inmitten der Sichtbetonstruktur ihre volle Wir­­ kung und erschaffen ein unwahrscheinlich schönes und warmes Raumklima. Bei allen hier erwähnten Bauten sind auch die neuen Belichtungs­ mög­lichkeiten hervorzuheben, die sich durch den Einsatz von Oberlichten aus Plexiglas anboten. Von der Ursulinenschule von Josef Lackner bis hin zu den anderen genannten Schulen spielt die Belichtung über Oberlichten eine essenzielle Rolle. Sie erst erlaubte tiefe Raumquerschnitte und brachte die wunderbaren Raumstimmungen hervor.


aufbruchsstimmung und rückbesinnung Die Wohnanlage Mariahilfpark (1969 – 73) liegt direkt am Inn und ­bildet den Übergang von der Innsbrucker Altstadt zum Stadtteil Hötting. Über einer ebenerdigen Geschäftszone erheben sich mehrere sechsbis zehngeschoßige Baukörper. Ein breiter Treppenaufgang verbindet das Straßenniveau mit dem höhergelegenen Park und dem Eingangsniveau der Wohnbauten. Diese Treppe wird von einem stufenförmigen Baldachin mit orangefarbener Untersicht und kreisförmigen Leuchten überdacht. Geplant hat diese Wohnanlage der Architekt Franz Kotek, über den nur wenig in Erfahrung zu bringen ist. Der Mariahilfpark rief in den 1970erJahren unter Laien und ArchitektInnen viel Unverständnis und Kritik ­hervor. Inzwischen scheint sich die Sicht auf die Dinge geändert zu haben und einige ArchitektInnen loben die Wohnanlage und ihre Maßstäb­lich­ keit. In Wirklichkeit sind die einzelnen Baukörper gekonnt zueinander und zum Stadtgefüge gesetzt. Die Fertigteilelemente aus Sichtbeton haben eine fein reliefierte Oberfläche, sie markieren die Sockelzone und dienen als Balkonbalustraden. Der Rest der Gebäude wurde in Ortbetontechnik errichtet, die damals bezahlbar geworden war. Schotten- und Quer­wand­ bauweise erlaubten eine freie Fassadengestaltung.3 Auch im Foyer und in den Fluren ist das für die Entstehungszeit typi­ sche Farb- und Materialspektrum noch vorzufinden: Die BewohnerInnen

Hermann Hanak, Geschäftsportal Electro-Center, Innsbruck, 1971, fotografiert 2019 von Günter R. Wett


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­ etreten ein äußerst großzügiges und lichtes Foyer. Auf der einen Seite b ­befinden sich die Fahrstühle, auf der anderen eine Aufenthaltszone. Vor einer dunkelbraun furnierten Wand lädt eine dunkelbraune Sitzbank zum Verweilen, eine andere Wand ist von einer Fototapete mit historischem Innsbruck-Panorama bedeckt. Die Flure zu den Wohnungen hingegen sind weiß gestrichen. Die Wohnungseingänge markieren rot lackierte und ­gefaltete Bleche, hinter denen sich eine indirekte Beleuchtung versteckt. Am Boden liegt ein grüner Teppich. In der Innenstadt, vor dem Café Central stehend, kann man noch ­ein­­mal einen konzentrierten Blick auf die Material- und Farbwelt der 1970er-Jahre werfen: Auf der einen Seite die Erweiterung des Hotel Cen­ tral (1978 – 80) von Architekt Peter Thurner mit einer handwerklich auf­ wendigen Fassa­dengestaltung. Horizontal gekehlte Bänder in sandfarbenem Putz ­ergeben zusammen mit der kleinteiligen Sprossenteilung der Fenster und Erker eine wunderbar eigenständige Fassade. Und um die Ecke des Café Central ist ein gut erhaltenes Geschäftsportal von 1971 zu sehen. „Die Technologie der fugenlosen Fenster- und Türgewände aus Stahl­ blechen mit ­rahmenlos eingesetzten Verglasungen sowie die Formgebung mit ge­rundeten Ecken waren typisch für die internationalen Design­ tenden­zen dieser Jahre“, beschreibt Otto Kapfinger dieses „aus dieser Zeit in der Innsbrucker Innenstadt einzigartige Portal“.4 Hanno Schlögl und sein Partner Daniel Süß bauten 2005 das ursprüngliche „Electro-Center“ von Hermann Hanak und spätere Dekorgeschäft Fischer zu einer Galerie um und erhielten dabei das Portal. Die Lückenverbauung des Hotel Central von Peter Thurner und das Geschäftsportal von Hermann Hanak stehen prototypisch für die Ambi­­ valenz der damaligen Zeit: auf der einen Seite die Aufbruchsstimmung durch neue technologische und materielle Möglichkeiten, auf der anderen Seite die Rückbesinnung auf das handwerkliche Wissen, die Welt der ­ klassischen Materialen und die lokale Baukultur. 1

Institut für internationale Architektur-Dokumentation (Hg.), Atlas Sanierung, München 2008, S. 201. Norbert Moeller, Moderner Kirchenbau im Raum Innsbruck seit 1945, Stadt Innsbruck (Hg.), Schriftenreihe des Innsbrucker Stadtarchivs, Band 14, Innsbruck 1983. 3 Institut für internationale Architektur-Dokumentation (Hg.) (wie Fußnote 1), S. 193. 4 Otto Kapfinger, Schlögl & Süss Architekten, Wien 2011. 2


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widerstand und wandel. über die 1970er-jahre in tirol erschienene Publikation kann auf unserer Web-Site unter www.aut.cc bestellt werden. Sonderpreis: 19,70 Euro zuzüglich Versandspesen (6,- Österreich, 12,- Europa) Danke für Ihre Unterstützung!


bildnachweis Archiv AEP S. 40 | Wilhelm Albrecht S. 353, S. 354, S. 356 – 357, S. 359 – 362 | aus: ar­ chi­tektur aktuell 37 / 1973 S. 224 | aus: Architektur und Fremdenverkehr, 1974 S. 276 | Architektur­zentrum Wien, Sammlung S. 87, S. 91, S. 177 (Foto Margherita Spiluttini), S. 178, S. 197, S. 199 (Foto Christof Lackner), S. 213 – 215, S. 323 | Atelier Classic S. 330 | Archiv aut S. 125 – 126, S. 130, S. 148, S. 216, S. 218 | aus: bauforum S. 138 (81 / 1980), S. 312 (23 / 1971), S. 324 (14 / 1969) | aus: Baugeschehen in Tirol 1964 –  1976, 1977 S. 187, S. 210, S. 225, S. 274 – 275, S. 331 | aus: BMZ – Offizielles Organ der Baumusterzentrale S. 279 (3 / 1968), S. 314 (1 / 1967), S. 318 (1 / 1968) | BrennerArchiv Innsbruck – Vorlass Mitterer S. 118 | aus: Broschüre für die „Luxus Ter­rassen­ hausanlage Höhenstraße“ der BOE, o. J. S. 168 | Canadian Centre for Archi­tec­ture (Gift of May Cutler) S. 171 | Archiv COR S. 316 – 317 | aus: das Fenster S. 146 (5 / 1969), S. 150 (11 / 1972) | Digatone S. 63 – 64, S. 67 | Sammlung Albrecht Dor­nau­er S. 55, S. 288 | Andreas Egger S. 200 – 201 | Thomas Eisl S. 93 | aus: Endbe­richt – XII. Olympi­ sche Winterspiele Innsbruck 1976, 1976 S. 288 | aus: Festschrift zur offiziellen Über­ gabe und kirchlichen Weihe, Sprengelhauptschule St. Johann in Tirol, 1980 S. 225 | FI Archiv für Baukunst der Universität Innsbruck S. 119, S. 197 – 198, S. 229 – 231, S. 233, S. 238, S. 241, S. 244 – 245, S. 248 – 249, S. 282 | FRAC Orle­ans S. 157 – 158 | frischauf-bild S. 160 – 161, S. 164 – 165, S. 169, S. 277 | Archiv Galerie Krinzinger S. 104 – 105, S. 108 | Siegbert Haas S. 179 | Karl Heinz S. 206, S. 207 | aus: Norbert Heltschl. Bauten und Projekte, 2002 S. 197 | Nachlass Ernst Hies­mayr S. 132 | Sepp Hofer S. 69 | aus: Horizont. Kulturpolitische Blätter der Tiroler Tageszeitung S. 140 (18 / 1974), S. 143 (4 / 1972), S. 145 (9 / 1973), S. 149 (10 / 1973), S. 152 (29 / 1976), S. 154 (13 / 1974) | Hertha Hurnaus S. 162 | Sammlung Waltraud Indrist S. 284, S. 290 | Sammlung Peter Jordan S. 259 – 260, S. 269 – 270, S. 364 | aus: Kasiwai. Ein Bildband des Kennedy-Hauses in Innsbruck, 1970 S. 31 | Franz Kiener S. 220 – 222 | Wolfgang Kritzinger S. 263 | Christof Lackner S. 226 | Bernhard Leitner S. 76 – 80 | Christian Mariacher S. 14 – 22 | Albert Mayr S. 82, S. 84 –  85 | Wolfgang Mitterer S. 97 | Thomas Moser S. 268, S. 271 | Helmut Ohnmacht S. 345, S. 370 | Stefan Oláh S. 208 | Archiv ORF Landesstudio Tirol S. 343 | Ortner & Ortner S. 129 | Archiv Max Peintner S. 281 | Charly Pfeifle S. 304 – 309 | Wolfgang Pöschl S. 262 | Peter P. Pontiller S. 191, S. 193 –  194 | aus: Pooletin, 3 / 4, 1977 S. 107 | aus: Pressemappe des Bauzentrums Innsbruck, 1971 S. 322 | aus: Prospekt „i-bau 1973“ S. 334 | Carl Pruscha S. 148 | Nachlass Egon Rainer S. 328 – 329 | Kurt Rumplmayr S. 261 – 262 | Sammlung Wolfgang Salcher S. 219, S. 226 | Elisabeth Schimana S. 89 | Hanno Schlögl S. 184, S. 186 | Sammlung Hubertus Schuhmacher S. 57 | aus: Schul­bau in Österreich, 1996 S. 224 | Sammlung Meinrad Schumacher S. 30 | Sammlung Elisabeth Senn S. 255 – 257 | aus: Sozialer Wohnbau in Tirol. Historischer Überblick und Gegenwart, 1987 S. 136, S. 196 | Stadt­ archiv Innsbruck S. 24, S. 68, S. 71, S. 285, S. 325 | aus: Stadtentwicklung Innsbruck. Tendenzen und Perspektiven, 1978 S. 127 | Subkulturarchiv Innsbruck S. 33, S. 34, S. 37, S. 47 – 49, S. 58 – 62, S. 66, S. 70 | Archiv Taxispalais Kunsthalle Tirol S. 100, S. 102 | tirol kliniken S. 283 | Tiroler Landesmuseen / Zeug­haus S. 330 | Tiroler Landes­museum Ferdinandeum S. 109, S. 112, S. 300 (Grafi­sche Sammlung, Inv. Nr. 20Jh / C / 59), S. 302 (Grafische Sammlung, Inv. Nr. 20Jh / P / 118) | aus: Tiroler Nachrichten, 159 / 1968 S. 320 | aus: Tiroler Tageszeitung, 108 / 1973 S. 336 | aus: Tirols Gewerbliche Wirt­schaft, 20 / 1970 S. 327 | aus: TRANSPARENT. Ma­nuskripte für Architektur, Theorie, Kritik, Polemik, Umraum, 8 / 9, 1970 S. 294, S. 299 | Trash Rock Archives S. 52 | Archiv TU Graz, Sammlung Dreibholz S. 190 | Dieter Tuscher S. 131 | UniCredit Bank Austria AG, Historisches Wertpapierarchiv S. 246 | Universitäts­archiv Innsbruck S. 234 | Uni­ver­si­ tätsarchiv Innsbruck – Nachlass A. Pitt­racher S. 251 | aus: Der Volksbote, 19 / 1973 S. 332 | Günter Richard Wett S. 339 – 340, S. 341, S. 344, S. 346 – 351, S. 366 –  369, S. 371 – 491 | Wien Museum, Karl Schwanzer Archiv (Foto Sigrid Neubert) S. 128 | aus: Wohnanlage Mariahilfpark Innsbruck (WE), 1970 S. 166, S. 167 | aus: Wohnen Morgen Burgenland, 1971 S. 180 – 185, S. 188 | Nachlass Arthur Zelger S. 286 | Siegfried Zenz S. 121, S. 122 Trotz intensiver Bemühungen konnten nicht alle Inhaber von Textrechten ausfindig ­gemacht werden. Für entsprechende Hinweise sind die Herausgeber dankbar. Sollten Urheberrechte verletzt worden sein, werden diese nach Anmeldung berechtigter Ansprüche abgegolten.


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