Standort – Netz – Profil Begegnungsorte für Gott und die Welt Vortrag von Superintendent Prof. Dr. Dieter Beese vor der Pfarrkonferenz des Kirchenkreises Bielefeld 15. Oktober 2008, Haus der Kirche
1. Konzeptentwicklung in guter Gesellschaft Sie möchten in diesem Jahr erneut einen Prozess im Kirchenkreis anstoßen, um sich miteinander anhand der Erarbeitung einer Konzeption über Ziele, Aufgaben und Visionen für die evangelische Kirche in Bielefeld zu verständigen. Es wird Sie nicht überraschen, dass Sie sich mit Ihrem Vorhaben in guter Gesellschaft befinden. Es empfiehlt sich daher, Konzeptentwicklung vor Ort immer im Gesamtzusammenhang mit Entwicklungen auf anderen Ebenen zu betreiben. Das Prinzip think global – act local ist auch innerkirchlich sehr förderlich. Auf EKD-Ebene läuft, verstärkt und inspiriert durch das Impulspapier „Kirche der Freiheit“ (2006) ein intensiver Prozess zur Klärung der Frage, worin sinnvoller Weise die Aufgaben einer eigenständigen Landeskirche besteht, wo und wie kooperiert werden kann und soll, und wie sich das auf die Zusammenarbeit innerhalb der EKD auswirkt, in der VELKD und UEK sich weiter verbinden. In Dortmund wird ein Kompetenzzentrum der EKD für Mission und in Wittenberg für Predigtkultur errichtet. In Berlin entsteht eine protestantische Führungsakademie. Im vergangenen Jahr, 2007, wurde in Berlin die Stiftung Sozialer Protestantismus errichtet, die mit der Veröffentlichung des ersten Bandes ihres Jahrbuchs die sozialethische Dimension des Kircheseins von Kirche im Kontext der Globalisierung argumentativ stärkt. Die Denkschriften „Gerechte Teilhabe“, und „Unternehmerisches Handeln“, leisten wichtige Dienste bei der Ortsbestimmung der Kirche in der Gesellschaft. Mit den EKD-Texten „Wandeln und gestalten“ und „Gott in der Stadt“ liegen Handreichungen für die konzeptionelle Unterfütterung von Regionalisierungsschritten vor. Das Netzwerk Kirche hat inzwischen den dritten umfangreichen Themenband „Aufbruch in die Region. Kirchenreform zwischen Zwangsfusion und profilierter Nachbarschaft“ (Hg. Stefan Bölts, Wolfgang Nethöfel) veröffentlicht (Hamburg 2008) Der Reformprozess „Kirche mit Zukunft“ geht auf landeskirchlicher Ebene seinem Ende entgegen. Zu seinen Ergebnissen zählt unter anderem der Beschluss, dass Kirchenkreise und Kirchengemeinden Konzepte entwickeln, und dass Zielvereinbarungen ein unverzichtbares Element der Leitungsstruktur in der EKvW sein sollen. Landauf landab sind die Finanzierungsmodalitäten und die strukturellen Rahmenbedingungen der kirchlichen Arbeit durch Budgetierung, Verlagerung auf untere Ebenen, Vereinigungen und formelle Kooperationen nachhaltig verändert. Die Aus- und Fortbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern in RheinlandWestfalen-Lippe ist in vollem Gange. Die Landessynode 2008 hat auf ihre Tagesordnung das Arbeitspapier der Perspektivkommission „Aufgabenkritik“ gesetzt und wird die Klärung darüber vorantreiben, wer was auf welcher Ebene zu tun hat. Mit der Globalisierungsvorlage hat die EKvW sich selbst noch einmal ausdrücklich in den Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung am Ort und weltweit hineingestellt und steht damit vor der Herausforderung, ihre Verkündigung und ihre soziale Gestalt kritisch in globaler Perspektive zu reflektieren und dabei an ihre Bekenntnistradition zurück zu binden. Mit dem Stichwort Barmen V eröffnet greift sie insbesondere das Verhältnis von staatlichem und kirchlichem Handeln auf. 1
2. Kirchenreform - eine Form Öffentlicher Theologie Alle kirchlichen Reformschritte antworten von vornherein auf eine Aufgabenstellung, die über eine pragmatische Reaktion auf veränderte Finanzlagen, eine geschicktere Missionsstrategie zur Sicherung der Mitglieder- und Bestandsbasis oder ein in sich richtiges, aber folgenloses „Wort zur Kirche heute“ hinausgeht. Im Zuge kirchlichen Handelns sachgemäße Auffassungen über den Auftrag der evangelischen Kirche im Verhältnis zum Alltagsleben der Menschen im privaten und öffentlichen Raum im Ganzen zu produzieren und wieder mit diesem Handeln zurück zu koppeln ist die Form heutigen theologiegeleiteten christlichen Handelns in Kirche und Gesellschaft. Diese Form „Öffentlicher Theologie“ rechnet mit christlichem Handeln auch außerhalb der Kirche und interpretiert in reformatorischer Tradition kirchliches Handeln als eine besondere Form christlichen Handelns im Alltag der Welt. Wird der Alltag der Welt nach christlicher Erkenntnis heute insbesondere durch die Auseinandersetzung mit dem Rang und der Wertigkeit von Geld und die Ermöglichung oder Verweigerung menschlichen Lebens in Würde durch gerechte Teilhabe geprägt, so besteht der Auftrag der Kirche darin, das Evangelium von der freien Gnade Gottes an alles Volk durch ihre Verkündigung und ihre Selbstgestaltung so zu bezeugen, dass die Adressaten der Botschaft zur Teilhabe am Leben in zugesagter Freiheit ermutigt und gestärkt werden. Was für die Teilhabe an Erkenntnis und Bildung in der Wissenschaft, die Teilhabe an Kapital und Arbeit in der Wirtschaft, für die Teilhabe an der Macht und sozialen Chancen in der Politik gilt, das gilt auch für die Teilhabe am Glauben und am religiösen Leben in der Kirche. An die Stelle eines möglichen Rückzugs der Kirche aus der so genannten Welt tritt im Zuge eines sich vollziehenden Paradigmenwechsels die sich einlassende Hingabe. Der Rückgriff auf historische Erfahrungen und systematische Erkenntnisse der Kirche stellt ihr dabei ein großes Potential an Reflexions- und Gestaltungsoptionen zur Verfügung. Insbesondere die gesellschafts-, sozial- und kulturtheologischen Diskurse und Erfahrungen sind hier einschlägig. Ein wichtiger Diskussionsertrag in sozialethischer Hinsicht sowohl für die Gesellschaftsentwicklung insgesamt als auch für die Selbstgestaltung der Kirchen besteht in der Erkenntnis, dass gesellschaftliche Integration im Wechselspiel von Freiheit und Verantwortung zugleich Voraussetzung und Aufgabe menschenwürdigen Lebens ist. Zu dieser sich einlassenden Hingabe zählt auch das überwindende Sicheinlassen der Kirche auf die Marktförmigkeit menschlicher Verhältnisse. Hinter der aktuellen Debatte um die Zeitgemäßheit der Sozialen Marktwirtschaft steht nicht weniger als die Frage nach der Menschenwürde im Zeitalter der Ökonomie. Die biblische Tradition hat nie einen Zweifel gelassen an der Hochschätzung der Arbeit 1. als Ausdruck menschlicher Selbsttätigkeit, Mitwirkung an der Schöpfung und arbeitsteilige Existenzsicherung im Austausch mit der Natur (Produktion), 2. als verantwortliche Nutzung und Verfügung über die Gaben der Schöpfung sowie den Ertrag der eigenen Arbeit und des Arbeitsertrags der Vorfahren (Erbe, Eigentum und Konsum) 3. und den Austausch von Gütern zum gegenseitigen Nutzen (Handel und Dienstleistung). Sachgerecht und menschengerecht ist diese Eigentätigkeit des Menschen, sofern sie die Arbeits- und Lebensgemeinschaft von Mensch und Natur reproduziert und dem Frieden dient. Um diese Sinnbestimmung im Gedächtnis zu halten wird diese Eigentätigkeit von Produktion und Konsumtion begrenzt durch eine dritte Zeit neben Arbeit und Muße, den 2
Sabbat, und durch die Schutzrechte für die Armen und Schwachen. Der Mensch hat das Recht, Rechte zu haben. Dafür macht Gott selbst sich stark. 3. Kirchenreform – ein Geschehen, das weit über die Kirche hinaus weist Das Priestertum aller Gläubigen setzt voraus, dass in der Taufe eine vierfache Berufung erfolgt, nämlich die Berufung zur Bewährung des Glaubens in persönlich-familiärer, in politischer, in gesellschaftlich-ökonomischer und in religiös-kirchlicher Hinsicht. Ein Weltverständnis, das persönliche Lebensführung, politische Existenz, Ökonomie und Religion aus der Debatte um seine impliziten anthropologischen und theologischen Prämissen entließe, hättezur Folge, dass angesichts der Eigengesetzlichkeit persönlicher, politischer, gesellschaftlicher und religiös-weltanschaulicher Prozesse das Zeugnis des Glaubens verstummte und der unbedingte Zuspruch Gottes nicht mehr als befreiendes Wort wirksam werden könnte. Theistische und atheistische Weltkonzepte überlassen den Menschen sich selbst, weil sie Gott in eine jenseitige Sonderwelt oder ganz aus der Welt schaffen. Die Selbsthingabe Gottes in freier Gnade, von der das Evangelium allem Volk Zeugnis gibt, lässt dagegen Gott zur Welt und den Menschen zu sich kommen. Evangelischer Glaube sieht sich hier bei seinem zentralen Thema, nämlich der zugesagten Freiheit der Person in ihren sozialen Bezügen. Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit und die Freiheit der Person sowohl von entwürdigenden Bedrohungen als auch zur Teilhabe am gemeinsamen Leben sind untrennbar miteinander verbunden. Deshalb sind die verantwortliche Selbstentfaltung des Individuums, die verantwortliche Selbstgestaltung der Kirche und die verantwortliche Gestaltung freiheitlicher sozialer und politischer Verhältnisse gleichrangige und gleichermaßen notwendige Antworten auf die befreiende Botschaft des Evangeliums. Individuelle, kirchliche und gesellschaftliche, geistliche und weltliche Perspektiven stehen nicht im Verhältnis von Eigentlichem und Nichteigentlichem, Heiligem und Profanem. Es handelt sich immer um den in sich selbst verkrümmten, auch in seiner Religiosität und Spiritualität gottlosen Menschen, der an jedem Morgen neu des befreienden Zuspruchs der Rechtfertigung bedarf, um in das neue Leben der Liebe umzukehren. Es handelt sich immer um die in ihrer eigenen frommen Selbstgewissheit gefangene Kirche, die an jedem Morgen neu der Erweckung aus dem Schlaf der Sicherheit bedarf, um erweckt das Licht des anbrechenden Tages zu sehen und im Licht des Evangeliums zu wandeln. Es handelt sich immer um die an die menschlichen Abgründe ausgelieferte Welt, die an jedem Morgen neu der Erinnerung an Gottes Reich und Gerechtigkeit bedarf, damit sie von der eigenmächtigen Verlorenheit zu dankbarem Dienst im Segen Gottes findet. Gott macht das Unmögliche möglich, schafft aus dem Tohuwabohu eine bewohnbare Welt und aus dem in sich selbst verkrümmten Menschen eine in Freiheit und Verantwortung lebensfähige und lebenswerte Person. Er verwandet den Mammon in ein Charisma, das in den Dienst am Bau des Reiches Gottes genommen wird, und nimmt das Natürliche und Menschliche als Gleichnis für seine Herrschaft in den Dienst. Weil also insgesamt durch Gottes schöpferische, erhaltende, rettende und vollendende Liebe das aus Nichts geschaffene Leben nicht dem Tode verfällt sondern ins ewige Leben verwandelt wird, deshalb lässt Gott auch des Menschen Eigentätigkeit und Eigennutz dem Allgemeinwohl dienen, weil solcher Eigennutz verwandelt und in Dienst genommen wird zum Gottesdienst im Alltag der Welt. 5. Kirchenreform – auf der Suche nach einer angemessenen Theologie Die Kritik an tatsächlich oder vermeintlich fehlender oder unzulänglich formulierter Theologie im Reformprozess gehört zu den Topoi, die sich von der ersten Reformvorlage bis heute durchziehen. In der Regel wirkt sich diese Kritik so aus, dass sie Reformprozesse delegitimiert, abwehrt und verzögert. An die Stelle des Vorwurfs mangelnder Theologie kann auch der Vorwurf mangelnder Spiritualität stehen. Aber welche Art von Theologie ist „richtig“? 3
Hier macht sich bemerkbar, dass wir ja nicht wirklich wissen, was wir letztendlich unter einem theologischen Argument oder gar einem theologisch richtigen Argument verstehen sollen. Der Ruf nach Theologie kann stehen für 1. die Erwartung, eine theologie- oder dogmengeschichtliche Genealogie der jeweils vertretenen Position zu entwickeln. Wir begegnen hier einer Art theologischem Legitimitätsprinzip. 2. die Erwartung, eine in vertrauter Weise anwärmende biblisch-erbauliche Sprache zu sprechen, die den Hörgewohnheiten und emotionalen Befindlichkeiten relevanter Klientels entspricht. Ich möchte von subjektiver oder spiritueller Bewahrheitung sprechen. 3. die Erwartung, in theologisch-dogmatischer Fachsprache den Nachweis der Übereinstimmung zwischen historischen Bekenntnisformulierungen und dem in Frage stehenden Ansatz aufzuweisen. Man könnte das objektive oder prinzipielle Bewahrheitung nennen. 4. die Erwartung, durch Rückgriff auf und die Einstimmung in biblische Traditionen oder Themen die Legitimität der Planung zu erweisen. Wir könnten hier von biblischhermeneutischer Bewahrheitung sprechen. 5. die Erwartung, Zeitgemäßheit und Fachlichkeit eigener Planungen durch Übereinstimmung mit derzeit akzeptierten Richtungen der Human- und Gesellschaftswissenschaften zu erweisen. Nennen wir es das Kriterium der Akzeptanz vor dem aktuellen Plausibilitätshorizont. 6. die Erwartung, durch breite Partizipation und breiten Konsens in der presbyterialen und synodalen Meinungs- und Willensbildungsprozessen die zumindest generelle und repräsentative Zustimmung der Kirche und ihrer Glieder einzuholen. Hier begegnet uns das Kriterium der Legitimität durch Verfahren. Theologische Argumente haben ihre Plausibilität immer nur innerhalb ihres jeweiligen Relevanzkontextes und komplementär zu anderen Ansätzen. Eine nichtpositionelle Theologie ist ebenso wenig möglich wie eine nicht zumindest implizit theologische Kirchenreformstrategie. Ich selbst halte einen abwägenden Ausgleich der genannten sechs Aspekte für das angemessene Verfahren, die Qualität theologischen Argumentierens und Vorgehens und einer daraus resultierenden sachgemäßen und menschengerechten Bindewirkung auf möglichst hohem Niveau zwischen Beliebigkeit und Absolutheitsanspruch zu halten. Die Protagonisten der aktuellen Kirchenreformbestrebungen lassen sich mit ihren Intentionen und Initiativen am besten als Repräsentanten „Öffentlicher Theologie“ verstehen: „Öffentliche Theologie [...] ist die Reflexion des Wirkens und der Wirkungen des Christentums in der Öffentlichkeit in die Gesellschaft hinein’. Sie ist sowohl die Kritik und die konstruktive Mitwirkung an allen Bemühungen der Kirchen, der Christen und Christinnen, dem eigenen Öffentlichkeitsauftrag gerecht zu werden, als auch die orientierend-dialogische Partizipation an öffentlichen Debatten, die unter Bürgern und Bürgerinnen über Identität, Ziele, Aufgaben und Krisen dieser Gesellschaft geführt werden.'“ (Bedford-Strohm, 2007, S. 342) Diese sogenannte „Öffentliche Theologie“ ist – vergleichbar mit der Menschenrechtspolitik auf der ethischen Ebene – anschlussfähig für verschiedene Modelle theologischer Urteilsbildung und damit gleichermaßen Pluralismus- wie überzeugungsfähig. 5. Kirchenreform – konzeptgestützt und qualitätsbewusst Wenn wir den Qualitätsmerkmalen theologisch verantwortlichen Handelns und Redens entsprechen wollen, bedarf es einer Form, in der dies geschieht. Als eine solche Form erkennen 4
wir die abgestimmte, prozessuale, theologietheoriegeleitete, konzeptgestützte und zielorientierte Reform der Kirche als Antwort auf das Evangelium. Konzepte zu entwickeln, sie zu dokumentieren und Rechenschaft über die Leitbilder und Ziele kirchlichen Handelns abzulegen ist daher mehr als eine Modeerscheinung. Sie ist die heute gebotene Form verantwortlicher öffentlicher Theologie. Gerade dann, wenn wir in der Tradition der Reformation zwischen Gott und Mensch unterscheiden und uns nicht als die Exekutoren des geschichtlichen Gotteswillens missverstehen, bedarf es der menschlich-geschichtlichen Rechenschaft der Kirche über ihr Handeln. Konzeptionelles, selbstkontrollierten Handeln ist genau das Gegenteil übergriffiger und eigenmächtiger Verplanung der Welt. Es ist Ausdruck der Demut und der Bescheidenheit, die sich des Stückwerkcharakters und der Vorläufigkeit und Korrekturbedürftigkeit eigenen Handelns bewusst ist. Was heißt das für die aktuellen Gestaltungsfragen? Im Kirchensystem des evangelischen Deutschland ist die Landeskirche jeweils „Kirche“ im vollen, rechtlichen Sinne. Auch wenn diese sich, ihrer Ordnung entsprechend, von den Kirchengemeinden her aufbaut, so ist sie doch nicht etwa nur eine Ebene „oberhalb“ von Kirchengemeinde und Kirchenkreis, sondern das kollektive Handlungssubjekt. Ihr Kirchesein im legitimatorischen Sinn resultiert jedoch nicht aus einer in ihre Gestalt eingestiftete Substanz, sondern darin, dass sie ihrer Verheißung und ihrem Auftrag entsprechend Menschen durch ihr Zeugnis und ihren Dienst das Evangelium verkündigt. Das heißt: Unser Weg ist ein mittlerer Weg zwischen Ekklesiasmus und Kongregationalismus. Partizipation und Leitung sind durch die Verbindung von episkopal-pastoralen, kollegialen (KSV), presbyterialen und synodalen Elementen vermittelt. Darin besteht die Berechtigung und Begrenzung landeskirchlicher Kirchenpolitik. In breit angelegten Konsultationsprozessen hat die EKvW herausgearbeitet, dass sie ihrem heutigen Auftrag am ehesten entspricht, wenn sie sich auf die dynamisch veränderte Umwelt durch stärkere Vernetzung und Zusammenarbeit einstellt. Sie hat an einem allgemeinen Lernprozess teil, der autoritär-patriarchalische Vergesellungsformen hinter sich lässt und (nicht zuletzt über die Barmer Erklärung) ein funktionales Institutionenverständnis entwickelt, in dem die Institution nicht mehr für die Menschen die Versorgung mit Wahrheiten und Gütern gewährleistet, sondern sich den Menschen so zur Verfügung stellt, dass diese dem Evangelium begegnen können. In der funktionalen Externalisierung1 der Kirche als Glauben anregende und fördernde Organisation besteht nicht die Krise sondern die Zukunft der Kirche. Theologisch ist diese Mitgliederorientierung die Gestaltung des Priestertums der Gläubigen unter den Bedingungen der globalisierten Moderne. Diese Grundtendenz führt zu zwei wesentlichen Konsequenzen: Nach innen hin drängt sie auf transparente Arbeitsteilung in Freiheit und Verantwortung (Verbindlichkeit) nach der Maßgabe, wie das christliche Frömmigkeitsbewusstsein am besten zirkuliert, Gaben sich entfalten, das innere Leben sich vertieft und die Kirche in gute Verfassung kommt. Nach außen hin drängt diese Tendenz darauf, von dem langen Rückzug der Kirche aus der Gesellschaft in eine Sonderwelt umzukehren zu einer Öffnung, die dem Wirken des Geistes an allen Menschen Raum gibt. Die Umkehrung vom Integralismus zur Hingabe (traditio, paradosis – sich aus bzw. überliefern) stellt auch in kirchenleitender (kybernetischer) Perspektive einen Paradigmenwechsel dar. 6. Kirchenreform – Kirche des Wortes und der Schrift : keine Angst vor Papieren Vor diesem Hintergrund des Paradigmenwechsels im Kirchenverständnis unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Wandels sind nun die Papiere zu interpretieren, die im Zuge der aktuellen Kirchenreformbestrebungen in Weiterführung zu „Kirche mit Zukunft“ (EKvW 200) und „Kirche der Freiheit“ (2006) entstanden sind: „Aufgaben und Ziele in der EKvW“ 1
Aus der Sicht der glaubenden Person ist die Kirche ein außer ihr (extern) befindliches Hilfsmittel, das dazu dient (Funktionalisierung), die religiöse Identität zu prägen.
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(2008), „Missionarische Chancen und Aufgaben der evangelischen Kirche in ländlichen Räumen“ (2007) und „Gott in der Stadt. Perspektiven evangelischer Kirche in der Stadt“ (2007). Das Papier „Aufgaben und Ziele in der EKvW“ zielt vornehmlich auf die innere Erneuerung der Kirche aus dem Hören auf Gottes Wort. Es handelt davon, wie Mitgliederorientierung sich auf die inneren Prozesse der Kirche auswirken soll: Kirchenbild, Ziel- und Prozessorientierung, Einrichtung von Handlungsfeldern, Differenzierung des Gemeindebegriffs, Qualitätsentwicklung und freie, partizipative Selbstbindung in organisatorischer Hinsicht sollen die Identifikation nach innen und die Wirkung nach außen stärken. Dazu gehört auch eine bewusste Stärkung der mittleren Ebene, die dazu dienen soll, in einer Gesellschaft mit verstärkter horizontaler und vertikaler Mobilität zur Vergrößerung einer „Außenoberfläche“ beizutragen, die mehr Kontakte für derartig mobilisierte Menschen ermöglicht. Ausweislich unserer Mitgliederbefragungen erhöht sich die Chance, persönlich dem evangelischen Glauben zuzustimmen, mit der Anzahl und Intensität der Kontakte mit Kirche in ihren verschiedensten Formen. Das Papier „Missionarische Chancen und Aufgaben der evangelischen Kirche in ländlichen Räumen“ (2007) zielt vornehmlich auf die äußere Wirksamkeit einer derartig von innen im Hören auf Gottes Wort erneuerten Kirche. Es handelt davon, wie Mitgliederorientierung sich auf die Außenwirkung der Kirche auswirken soll. Regionalraumanalyse, Bewertung von Chancen, Einbeziehung der sozioökonomischen Prozesse, differenzierte Strategien und kreiskirchliche Regionalpolitik sollen sowohl die Identifikation nach innen als auch die Wirkung nach außen stärken. Auch hierzu gehört eine bewusste Stärkung der mittleren Ebene, die dazu dienen soll, Lebensräume von Familien zu optimieren, sowie insgesamt die „Nähe zu den Menschen“ nicht nur räumlich, sondern auch lebensweltlich zu verstehen, um so gleichermaßen der horizontalen und vertikalen Mobilisierung Rechnung zu tragen und allgemeine Entwicklungen auf kirchliche Möglichkeiten zu beziehen. Das Papier „Gott in der Stadt. Perspektiven evangelischer Kirche in der Stadt“ (2007) ist das entsprechende Gegenstück. Es zielt darauf, kirchliches Handeln in der Stadt zu profilieren als Beitrag zu einer „gerechten Stadt“. Das Leitbild der gerechten Stadt entspricht der theologisch motivierten Einsicht, dass Menschenwürde und gerechte Teilhabe am gemeinsamen Leben einander entsprechen. Für das Leben in der Stadt bedeutet dies nicht zuletzt die Schaffung von öffentlichen Räumen, in denen ein derartiges wechselseitiges Teilnehmen und Teilhaben am Leben eingeübt und inszeniert werden kann. Öffentliche Räume können beides sein: Begegnungsräume und Rückzugsräume. Begegnungsräume bewahren vor der Segregation verschiedener Gruppen und der Isolation von Personen entlang gesellschaftlicher Stigmatisierungslinien. Rückzugsräume gewähren Orte der Freiheit angesichts von Funktionalisierung und Instrumentalisierung von Gruppen und Personen in einem totalen Prozess von Produktion und Kosum. 7. Kirchenreform – Stärkung der Gemeinde durch Teilhabe am Ganzen Für eine angemessene Präsenz der evangelischen Kirche in ländlichen und in städtischen Räumen bedarf es handlungsfähiger Organisationseinheiten auf der mittleren Ebene, um das kirchliche Handeln so zu steuern, dass es hinreichend konsistent und differenziert dazu beiträgt, Erkennbarkeit und Erreichbarkeit kirchlicher Kontaktmöglichkeiten zu fördern. Das hat zur Konsequenz, dass Kirchenkreise so eingerichtet sein sollen, dass sie ihre Aufgaben erfüllen können, und zwar auf allen kirchlichen Handlungsfeldern, die nach gemeinsamer Überzeugung für unverzichtbar gehalten werden, weil sie in ihrer Gesamtheit das Zeugnis des Glaubens darstellen. . Zugleich bedeutet dies, dass es zu inhaltlich begründeten Prioritätenentscheidungen und Ressourcenumschichtungen auf allen drei Ebenen kommt. Jede Kirchengemeinde, jeder Kirchenkreis und jede Landeskirche geben sich selbst Rechenschaft darüber, warum und wozu sie diese und keine anderen Schwerpunkte setzen, Angebote, Personalstellen, Orga6
nisationsabläufe und Standorte vorhalten. Nur so, hinreichend legitimiert und koordiniert, funktioniert auch der wechselseitige kooperative Verweis. Dieser ist erforderlich, damit jedes (potentielle oder tatsächliche) Mitglied, das mit der Kirche in Kontakt kommt, nicht zurückgewiesen sondern dorthin vermittelt wird, wo es den Begegnungsort findet, den es braucht. Die jeweilige Leitungsstelle braucht dazu die Möglichkeit zur Intervention. Der Kirchenkreis interveniert, wenn Kirchengemeinden im aktuellen Zustand nicht mehr leistungsfähig sind (was man daran erkennen kann, dass z. B. der Haushalt nicht mehr ausgeglichen werden kann). Dementsprechend muss auch die landeskirchliche Leitungsstelle die Möglichkeit zur Intervention haben, wenn ein Kirchenkreis die Aufgaben in seinem Verantwortungsbereich nicht mehr erfüllen kann. Dies setzt allerdings beim Kirchenkreis ein Kirchenkreiskonzept und bei der Landeskirche ein Landeskirchenkonzept z. B. bezüglich der Aufgaben und Ziele der EKvW voraus. Dies steht nun zur Beratung an. Eine landeskirchliche Regionalpolitik ist perspektivisch ebenso zu avisieren wie eine kreiskirchliche Regionalpolitik, die ländliche und städtische Räume bewusst in den Blick nimmt und übergemeindliche Kooperationen leitbildgesteuert, konzeptgestützt und zielorientiert entwickelt. 8. Kirchenreform – Gemeinsam Kirche sein mit differenzierten Gemeindeformen [Den Inhalt und Aufbau des Textes „Gott in der Stadt“, der für Sie hier in Bielefeld von besonderer Bedeutung sein dürfte, brauche ich Ihnen im Rahmen dieser Einführung nicht besonders zu erläutern. Sie finden sie dargestellt und aufgerastert in der Ihnen vorliegenden Strukturtabelle. Diese Tabelle ist eine Art „Brühwürfel“, sehr konzentriert und nur verdünnt genießbar, dann aber recht schmackhaft. Als eine Interpretations- und Handlungshilfe zum Umgang mit der in diesem Papier erneut aufgenommenen und konkretisierten Forderung nach Überwindung des traditionellen Gemeindebegriffs, möchte ich Ihnen noch folgende Argumente an die Hand geben.] Wir sollten unterscheiden zwischen der Gemeinde im dogmatischen Sinne (z. B. Confessio Augustana, Art. VII: Gemeinde ist, wo die Sakramente recht verwaltet und das Evangelium rein gepredigt wird, hier als Erkennungs-, nicht als Wesensmerkmale von Gemeinde verstanden, oder das Nicaeno-Constantinopolitanum: Wir glauben die eine, heilige, kattholische, apostolische Kirche, hier als Wesens-, nicht als Erkennungsmerkmale verstanden) von der Gemeinde im soziologischen oder ethischen Sinne (Ortsgemeinde mit Kirche, Gemeindehaus und Gruppen, gemeindliche Dienste wie Besuchsdienste, Gemeindebriefverteildienste usw., gemeindliche Institutionen wie Kindergärten und Jugendhäuser, gemeindliche Initiativen wie etwa ein Projektchor, Personalgemeinden, die sich um charismatische Persönlichkeiten bilden) und der Kirchengemeinde im rechtlichen Sinne (Körperschaft öffentlichen Rechts mit entsprechender formaler Steuerungs- und Entscheidungsverantwortung) als Verfassungsebene der Kirche. So wird deutlich, dass in der Verantwortung einer Kirchengemeinde mehrere Ortsgemeinden, gemeindliche funktionale Dienste, Institutionen und Initiativen ihre Daseinsberechtigung haben, ohne dass sie sich ihren geistlichen Status als Gemeinde im dogmatischen Sinne streitig machen müssten. Vielgestaltigkeit und klare Leitungsverantwortung ohne theologische Diskriminierung sind somit gewährleistet. Dasselbe wiederholt sich auf der Ebene des Kirchenkreises (sozusagen die Kirchenkreisgemeinde) und auf der Ebene der Landeskirche. Das Subsidiaritätsprinzip findet seinen Ausdruck darin, dass die Kirchengemeinde als Körperschaft öffentlichen Rechts eigenständig unterschiedliche Sozialformen von Kirche einrichtet, um ihren geistlichen Auftrag auf mancherlei Weise auszuführen. Dasselbe gilt analog für den Kirchenkreis, der auf seiner Ebene ebenfalls (soziologisch) eine Gesamtheit von Gemeinden, Diensten, Institutionen und Initiativen gleicher theologischer Legitimität darstellt, diese in einer rechtlich klaren Leitungsverantwortung steuert, und analog für die Landeskir7
che. Die Verteilung der Aufgaben (Aufgabenkritik) ist nun nicht mehr eine Frage der theologischen Legitimität, sondern der zweckmäßigen Zielorientierung. Jede Verantwortungsebene ist nun dafür zuständig, dass jedes (aktuelle oder potentielle) Gemeindeglied Zugang zu allen Lebensäußerungen der Kirche bekommen kann. Mit Hilfe einer derartigen Gliederung kann meines Erachtens die Qualitätsfrage sachgemäß gestellt werden. Ihr ist jetzt der richtige Ort zugewiesen. Sie richtet jetzt Aufmerksamkeit auf die Frage: Wie (qualis) ist der Zugang beschaffen, den die Kirche den Menschen zur Begegnung mit dem Evangelium öffnet, sofern dies eine Sache verantwortlichen menschlichen Handelns ist? 9. Kirchenreform – für eine Stadt, die mit Gott rechnet Wer Teilhabechancen ermöglichen und gestalten will, muss sich darüber klar sein, in welchem Kontext, in welchen Räumen er sich bewegt, wenn er anderen Zugänge oder Auswege in andere Räume schaffen möchte. Der Text „Gott in der Stadt – Perspektiven evangelischer Kirche in der Stadt“, unternimmt genau diesen Versuch, die Stadt, die Religion und die Kirche zueinander ins Verhältnis zu setzen, um, darauf bezogen, den Auftrag und die Chancen der Kirche zu adressieren. Die Stadt erscheint unter folgender Prämisse: Die Stadt ist Versprechen auf glückliches Leben, ein Miteinander des Verschiedenen und Fremden in der Ambivalenz von Gerechtigkeit und Verfall. Angesichts der Alternativlosigkeit städtischen Lebens steht die evangelische Kirche für Vitalisierung der Idee der gerechten Stadt ein und stärkt die Kräfte der Integration. (Vgl. S.9) Religion in der Stadt wird folgendermaßen charakterisiert: Die Religion hatte ursprünglich in der Stadt Vorrang gegenüber Königen und Kaufleuten, war rituelles Zentrum und religionsproduktiver Ort. Nach ihrer Verdrängung aus dem öffentlichen Raum im sich für säkularisiert haltenden Europa steht Religion wieder auf der Stadtagenda und erweist sich als konstruktiver oder destruktiver Faktor städtischen Lebens. (Vgl. S. 26) Die Evangelische Kirche schließlich hat die Tragfähigkeit der Tradition, die Faszination des Heiligen und die Symbolkraft ihrer Räume wieder entdeckt und sieht die Teilhabe am Leben der Kirche als Beitrag zur Lebensdienlichkeit einer Stadt. Als Segens- und Heilungsdienst tritt sie in das Netzwerk bürgerlichen Engagements ein, fördert einen Geist der Güte und bietet spezifische Beteiligungsformen. (Vgl. S. 41) Das ist die Grundperspektive kirchlicher Präsenz in der Stadt. 10. Kirchenreform – Aufbruch, Auftrag und Aufgabe: Kirche für Gott in der Stadt Damit komme ich auf die Titelformulierung zurück: Standort – Netz – Profil. Gemeint ist, dass die Kirche ihren priesterlichen, prophetischen und königlichen Auftrag in drei Formen realisieren soll, um ihrem Aufbruch in die Stadt Gestalt zu geben. Der kirchliche Aufbruch in die Stadt vollzieht sich in geistlicher Haltung, missionarischer Öffnung, gesellschaftlicher Verantwortung. So schafft die Kirche Räume der Begegnung mit Gott und ist sozial aktiv. Ihre Freiheit äußert sich im Aufbruch in die Stadt, der sich auf die Würdigung des Anderen und des Fremden einlässt. Ihre Verantwortung zeigt sich in der Verbundenheit mit der Stadt. Sie stellt Wahrnehmungskompetenz und Innovationsbereitschaft unter Beweis. Ihre Selbstgestaltung vollzieht sich als öffentliches (Kultur: z. B. Kirchenmusik, Zeit, z. B. Kirchenjahr und Festtage, und Diakonie), privates (Frömmigkeit in Familie, Krankheit, Gefängnis, persönliche Glaubenspraxis) und institutionelles Christentum (verfasste Kirche, Diakonisches Werk zur Gestaltung der Versammlung der Glaubenden und Verkündigung des Evangeliums). 8
Der Auftrag der Kirche für die Stadt folgt der Devise: Weniger machen, um mehr zu erreichen. Ausgangsfrage lautet: Was ist unser Alleinstellungsmerkmal? Antwort: Die Teilhabe am dreifachen Amt Christi (bei bleibendem Gegenüber am Christus und Kirche): Die priesterliche Funktion (Innehalten vor Gott), prophetische Funktion (Deutung der Situation aus Glauben) und die königliche Funktion (Dialog, Mission, [Milieu-]Grenzüberschreitung). Das anzustrebende Ziel heißt: Geistliche Verankerung, kompetente Anwaltschaft und missionarischer Aufbruch. Die Beteiligungsformen sind parochial (Quartier unter Überwindung und Ergänzung kleinteiliger Parochialstrukturen), netzförmig (Ziele, Themen, Personen) und situativ (bei Gelegenheit). Die Gestaltungsaufgabe bestehen darin, das dörfliche Modell von Kirche weiter zu entwickeln zu einem Handlungskonzept für die kirchliche Präsenz in der Stadt. Eine städtische Landkarte weist kirchliche Orte mit Zukunft aus. (Orte, die einen guten Ruf haben, weil „man“ dort Themen, Personen, Aktionen antrifft, die mit passgenauen Angeboten auf Segregationstendenzen im Quartier antworten.) Erforderlich sind dafür Kompetenz und Leitungskraft. Finanzierung und Personalentwicklung sind eigenverantwortlich zu gestalten. Es bedarf einer religiösen Sozialisation quasi nicht Sozialisierter. Mit ausgetretenen Getauften ist Kontakt aufzunehmen. Insgesamt bedarf es neuer Formen zum Kennen Lernen des christlichen Glaubens. Eine evangelische Kirche, die sich im Glauben in Gottes hingebende Liebe einbeziehen lässt und Menschen ermutigt und befähigt, ihrerseits im Glück und im Elend, in Freude und im Schmerz an Gottes Liebe im Glauben teilzuhaben, darf auch darauf vertrauen, dass die Saat, die sie sät, Frucht bringt. Auch wenn drei Viertel aller Mühen vergeblich sein mögen, weil das ausgegebene Gut an Geld und Arbeit in der Hitze der Alltagskonflikte verdampft, im Gestrüpp der Zuständigkeiten hängen bleibt und von allerlei schrägen Vögeln aufgefressen wird, so fällt doch einiges auf gutes Land – auch mitten in der Stadt! – und trägt dreißig-, sechzig- und hundertfältig!
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