Design Entscheidungen

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Gesellschaft für Designgeschichte Schriften 4 Herausgegeben von Melanie Kurz und Thilo Schwer

DESIGN ENTSCHEIDUNGEN Über Begründungen in Entwurfsprozessen


Inhalt

Vorwort

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Thilo Schwer / Melanie Kurz Momente der Entscheidung.

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Auf dem Weg zu einer Designgeschichte mit Prozessorientierung Thilo Schwer Zur Multikausalität von Designentscheidungen – eine Beispielsammlung

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Melanie Kurz Designanalyse des tragbaren Fernsehgerätes algol 11" der Brionvega S.p.A.

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Hartmut Jatzke-Wigand Mode, Masche, Markt.

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Über das Unterhemd und Designentscheidungen in der Bekleidungsindustrie Leonie Häsler Warum nur dieser Aufbruch zum Neuen Deutschen Design?

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Harald Hullmann Design- und Entwurfsprozesse aus der Praxis als Untersuchungsgegenstand

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in der designhistorischen und designtheoretischen Lehre Klaus Klemp / Pia Scharf Einen Schritt vorwärts, aber nicht drei – die Form 2000 von Rosenthal Max Korinsky

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Das gute Glas – Kriterien zur Beurteilung von Trinkgläsern

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Anneli Kraft Designprozesse im VEB

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Johanna Sänger Anhang Autorinnen und Autoren

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Index 136 Call for Papers

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Tagungsbände 142 Impressum 144


Abb. A: Das Normformat von Walter Porstmann und kontextbildende Produkte (Porstmann, Walter: DIN-Buch 1, Normformate. Berlin 1930, Seite 106)

Abstract Entscheidungen, die im Rahmen von Designprozessen über Form, Farbe, Materialität, Bewegung und Ähnliches getroffen werden, fallen nicht in die Kategorie demokratischer Mehrheitsbeschlüsse. Zwar sind in den meisten Fällen mehrere Personen beteiligt, doch ist die Anzahl derer, die tatsächlich über einen Entwurf bestimmen, im Verhältnis zu jenen, die das spätere Artefakt rezipieren, benutzen oder in anderer Weise damit zu tun haben, sehr gering. Der Kreis der Entscheidenden ist oftmals heterogen und umfasst neben Entwerfer/innen und Vertreter/innen der auftraggebenden Instanzen nicht selten auch Fachleute aus Bereichen wie zum Beispiel Produktion, Marketing, Rechtswesen, Politik et cetera. Die Vielfalt der dadurch in die Überlegungen zu einem neu zu schaffenden Produkt, medialen Werk oder Gebäude eingebrachten Argumente führt folglich zu komplexen Abwägungsprozessen und multikausal fundierten Entscheidungen.


Melanie Kurz

Zur Multikausalität von Designentscheidungen

Zur Multikausalität von Designentscheidungen – eine Beispielsammlung Melanie Kurz

Einleitendes Im historischen Rückblick sind Rekonstruktionen der Verkettungen von einzelnen Beweggründen für Designentscheidungen eine Herausforderung und gelingen häufig nicht, weil beispielsweise diesbezügliche Informationen nicht festgehalten wurden, Narrative den Blick verstellen, Archivmaterial entsorgt worden ist oder die Erinnerungen von Personen, die in Designentscheidungen involviert waren, lückenhaft oder zu subjektiv gefärbt sind. Eine der bedeutendsten Ursachen für eine schlechte Informationslage hinsichtlich der Gründe für Designentscheidungen liegt in der mangelnden Auskunftsbereitschaft vieler Gestalter/innen, wenn es um die Benennung von Einschränkungen beziehungsweise Zwangsläufigkeiten im Entwurfsprozess geht. Wird nämlich offenkundig, dass ein Entwurf an der einen oder anderen Stelle aufgrund von technischen Notwendigkeiten, juristischen Bestimmungen, ökonomischen Grenzen oder anderen Bedingtheiten gar nicht anders definiert werden konnte, besteht die Gefahr, dass das vielfach erwünschte und mitunter aufwendig inszenierte Image des musischen Genies beschädigt wird.1 Vielleicht wehren sich deshalb seit Beginn des 20. Jahrhunderts – insbesondere seit der in Deutschland durchgeführten Papierformatnormung von 1922 – vor allem Künstler/ innen gegen Standardisierungsbestrebungen, ist damit doch so manche Entscheidung bereits vor Beginn des kreativen Schaffens gesetzt. „In nichttechnischen Kreisen wird die Formatordnung oft als weitere Entpersönlichung unseres Lebens hingestellt, die in einem neuen Punkte Zwang antue. Der künstlerische Sinn werde vergewaltigt.“2 Mit diesen Worten beschreibt Walter Porstmann, Entwickler der DIN-Papierformate, kurz nach deren Einführung die Kritik von Plakatkünstler/innen und weiteren Kreativen. Die neue Norm hatte auch auf das Produktdesign große Auswirkungen. Waren die Abmessungen von Geschäftspapieren nämlich erst einmal vereinheitlicht, ergaben sich daraus durch logische Weiterentwicklung – und nicht durch künstlerisches Genie – die Proportionen von kontextbildenden Produkten wie Ordnern und anderen Ablagesystemen, Büromobiliar, Zeichenbrettern, Schreibmaschinen, Taschen, Versandverpackungen et cetera.3 Funktionalistisch ausgerichtete Gestalter/innen sahen darin einen Gewinn und entwarfen auf dieser Grundlage 1  Siehe Kurz, Melanie: Inspirationsmythen. Zur Ideengeschichte des menschlichen Schöpfungsvermögens. Paderborn 2014. 2  Porstmann, Walter: DIN-Buch 1. Normformate. Berlin 1930, S. 122. In ähnlicher Formulierung auch zu finden in Porstmann, Walter: Papierformate. 2. Auflage Berlin 1923, S. 22. 3  Porstmann 1930, S. 106.

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Abb. A: Unterhemdmodell „1501 Cotton Seamless“ von Hanro, seit 1985 (Hanro Sammlung, Archäologie und Museum Baselland, Liestal, Schweiz)

Abstract Textiles Entwerfen für die Massenproduktion zeichnet sich durch Wiederholung und Variation aus, neue Entwürfe bauen auf alten auf und ändern sich nur minimal. Ebenso wie der Herstellungsprozess ist auch der Entwurfsprozess stark formalisiert und standardisiert. Er folgt der Taktung des Modesystems, das mehrmals im Jahr Musterungen vorgibt. Gestalterische Entscheidungen werden nicht allein von der Designerin getroffen, ebenso bestimmen Verkaufszahlen vorangegangener und Prognosen für zukünftige Modelle, Modetrends, die Fabrikinfrastruktur und die Zielgruppe, in welcher Form und Farbe ein Kleidungsstück schließlich in den Verkauf geht. Der Beitrag rekonstruiert das Netzwerk ökonomischer, modischer und technischer Faktoren am Beispiel der Strickerei „HANRO“ und zeigt, dass Designentscheidungen in einem Industriebetrieb in einem kollektiven (Aushandlungs-)Prozess gefällt werden, in dem Marketing, Direktion, der Maschinenpark sowie externe Faktoren ebenso viel, wenn nicht mehr Einfluss üben auf den Entwurf als die Designabteilung.


Leonie Häsler

Mode, Masche, Markt.

Mode, Masche, Markt. Über das Unterhemd und Designentscheidungen in der Bekleidungsindustrie Leonie Häsler

Begründungen für Aussehen und Form von Alltagskleidung werden schnell als „Mode“ abgetan. Die Ärmel haben diese Saison Fledermausform, der Mantel ist im Egg-Shape, Oversized reagiert auf schmale Silhouetten der Vorsaison? Dann wollte der Designer sich sicherlich abgrenzen von den Schnitten, Farben und Materialien, an denen man sich sattgesehen hatte, wollte stattdessen etwas Neues ausprobieren oder einem sich anbahnenden Trend folgen. Um Mechanismen der Mode und des Modewechsels, mit anderen Worten: um neue Designs zu erklären, findet auch heute noch Georg Simmels Modell des „Trickle-DownPrinzips“ breite Zustimmung. Simmel beschrieb damit zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Modeverhalten von Menschen und begründete es soziologisch: „[D]ie Mode [ist] nichts anderes als eine besondere unter den vielen Lebensformen, durch die man die Tendenz nach sozialer Egalisierung mit der nach individueller Unterschiedenheit und Abwechslung in einem einheitlichen Tun zusammenführt.“ 1 Die Mode und ihr Wechsel stellen Simmel zufolge den Versuch dar, die gegensätzlichen Tendenzen von Abgrenzung (von unteren gesellschaftlichen Milieus) und Nachahmung (des gleichen oder höheren sozialen Milieus) zu vereinen. Simmel lieferte damit ein Erklärungsmodell für die Konsumseite der Bekleidungsmode, gleiches kann jedoch auch auf die Produktionsseite angewendet werden: Berühmte und etablierte Designerinnen und Designer geben mit ihren Prêt-à-porter-Kollektionen neue Moden vor, diese diffundieren in die breite Masse der Modeindustrie. Sobald sie im Mainstream angekommen sind, gibt es eine modische Kehrtwendung von Seiten der Designeliten. Lassen sich Entwürfe für Kleidung folglich allein modisch erklären? Dieser Makro-Blick auf das Modesystem soll im Folgenden durch Untersuchungen auf Mikroebene ergänzt werden. Nicht die Frage, was beim Entwerfen entschieden wird, sondern die Motive dahinter rücken in den Fokus. Das Interesse richtet sich jedoch nicht auf ikonische Einzelentwürfe von Modedesignberühmtheiten, sondern auf Designentscheidungen in der Industrie. Es wird der Behauptung nachgegangen, dass Letztere viel seltener mit Mode begründet werden, als es das fertige Kleidungsstück im Nachhinein vermuten lässt. Der Entscheidungsprozess in einem Textilunternehmen folgt anderen Logiken als denen eines Designers oder einer Designerin der Haute Couture. Die Rahmenbedingungen, Einschränkungen und Spielräume, die beim Design von vestimentä-

1  Simmel, Georg: Die Philosophie der Mode. In: Philosophie der Mode (1905). Die Religion (1906/1912). Kant und Goethe (1906/1916). Schopenhauer und Nietzsche (1907), Bd. 10. Hg. von Behr, Michael; Krech, Volkhard; Schmidt, Gert. Gesamtausgabe Georg Simmel. Frankfurt/Main 1995, S. 7–37, hier S. 11.

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Designentscheidungen – Über Begründungen in Entwurfsprozessen

Abb. C: Entwurfsskizzen der Hanro-Unterhemden-Kollektion Frühling 1937 (Hanro Sammlung, Archäologie und Museum Baselland, Liestal, Schweiz)

den 1930er und 1940er Jahren. Sie zeigen das Spektrum an Modellen, das in jenen Jahren angeboten wurde (Abb. C). Aus den Skizzen geht hervor, welche Entwurfsmethoden die Designerin anwandte. Die Frühjahrskollektion 1937 etwa bestand aus 45 Modellen. Die Skizzen präsentieren die Schauseite des Hemdes, an der mit verschiedenen Strategien Variationen geschaffen werden können und an der sich ein Hemd ästhetisch und formal von den übrigen aus der Serie unterscheiden lässt. Beim Entwurfsprozess erfordert dieser Teil am meisten Gestaltungsaufwand. Die Rückseite des textilen wie des gezeichneten Hemdes ist hingegen zu vernachlässigen, wenn man davon ausgeht, dass die Skizze die Funktion hatte, alle Daten festzuhalten, die für die Produktion beziehungsweise Reproduktion einzelner Hemdenmodelle entscheidend waren. Im Vergleich der 45 Unterhemden untereinander, aber auch über die Kollektionen hinweg, fällt auf, dass es konstante Grundformen (= Façons) gab, die sich entwickelt und mit den Jahren offensichtlich stabilisiert haben. Für das Frühjahr 1937 lassen sich vier Façons festmachen. Die erste Façon hat einen leicht gerundeten Ausschnitt und


Leonie Häsler

Mode, Masche, Markt.

Abb. D: Entwurfsskizze eines Unterhemds aus der Hanro-Kollektion Frühling 1937 und Modefotografie dieses Modells, Fotoatelier D’Ora Benda, Wien, ca. 1937 (Hanro Sammlung, Archäologie und Museum Baselland, Liestal, Schweiz)

ist in der Taille enger. Die Betonung der Taille wird durch einen Wechsel des Strickmusters erreicht, sodass das Hemd sich an der Stelle zusammenzieht, aber trotzdem dehnbar bleibt. Diese Façon ist mit 25 Modellen am häufigsten vertreten. Am zweithäufigsten wurde der V-Ausschnitt mit sogenannter Büstenhalterfaçon entworfen (Abb. D). Die Büstenhalterfaçon war eine Designinnovation Hanros, die es zuvor bei Unterhemden nicht gegeben haben soll.14 Daneben finden sich der herzförmige Ausschnitt und zwei Modelle mit einem ganz geraden Ausschnittsaum. Alle vier Façons sind etwa hüftlang. Die Länge korrespondiert mit der Mode der Oberbekleidung – sitzt der Rockbund in der Taille, ist das Hemd kürzer, sitzt er nur auf Höhe der Hüfte, ist das Unterhemd länger. Die überschaubare Menge an Grundtypen erfüllt die Bedingung der rationellen und standardisierten Fertigung. Zu einem modischen Kleidungsstück werden die Hemden durch variierende Farben und Spitzeneinsätze im Ausschnitt sowie durch die Häkelbänder für Säume und Träger. Hier konnte aus einem großen Repertoire an Mustern und Farben ausgewählt und kombiniert werden, da Hanro auch über Spitzenhäkelmaschinen verfügte. Insbesondere die Satinbänder ziehen sich bis in die Gegenwart wie ein Leitmotiv durch die Kollektionen. Die letzten beiden Variablen beim Entwurf der Hemden – Strickart und Stoffqualität – wurden hingegen nicht oder nur unzureichend zeichnerisch ausgedrückt. Stattdessen wurden sie meist schriftlich in Form von Zahlencodes festgehalten. Fast jedes Modell ist mit einer vierstelligen Dessin-Nummer (abgekürzt mit „Des.“) versehen. Lücken innerhalb der Zahlenreihe zeigen, dass immer wieder ein Modell kurzfristig aus der Produk14  Handschin 1966, S. 5.

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Abb. A: Dr. Fritz Eichler und Dieter Rams mit dem Diaprojektor PA 1, 1956, © Rams Archiv

Abstract Seit dem Wintersemester 2014/15 liegt ein Seminar- und Forschungsschwerpunkt des Lehrgebiets Designgeschichte und Designtheorie an der HfG Offenbach in der Untersuchung vornehmlich historischer Designprozesse in deutschen und internationalen Unternehmen. Dazu wurden vor allem zwei Langzeitprozesse untersucht: eine funktions- und gebrauchsorientierte sowie semantische Analyse von Designentwürfen der 1950er bis 90er Jahre des In-house Designteams von Braun. Der seit 1966 entwickelte Designprozess des Schreibgeräteherstellers Lamy in Heidelberg, der ausschließlich mit externen Gestalter/innen zusammenarbeitet, bildete einen zweiten Schwerpunkt. Des Weiteren wurden Designprozesse im Projekt „Neues Frankfurt“ von 1919 bis 1933 und bei der Leica Kamera AG von 1952 bis 2010 untersucht. Die Bedeutung von Atmosphären im Designprozess oder alternative Entstehungs- und Entscheidungsprozesse begründeten darüber hinaus einen eigenen Untersuchungsgegenstand. Der Beitrag wird diese mehrsemestrigen Seminarergebnisse zusammenfassen und hinsichtlich ihrer didaktischen Bedeutung für die Designausbildung darstellen.


Klaus Klemp / Pia Scharf

Design- und Entwurfsprozesse aus der Praxis als Untersuchungsgegenstand

Design- und Entwurfsprozesse aus der Praxis als Untersuchungsgegenstand in der designhistorischen und designtheoretischen Lehre Klaus Klemp / Pia Scharf

Das Entstehen der menschlichen Artefakte, die wir als Design definieren, wird von vielen Entscheidungen begleitet. Wenn wir dieses Entstehen als Designprozess bezeichnen wollen, dann kommen sehr viele Parameter zum Tragen, die weit über das eigentliche Entwerfen, das nur ein Teil davon ist, hinausreichen. Designprozesse sind eine Kette von eigenen und externen Entscheidungen für Industriegestalter/innen. Die Vergegenwärtigung, dass Hochschulen schließlich keine Produktionsbedingungen und keine Unternehmensstruktur simulieren können, der Designprozess also im geschützten Rahmen der Hochschule nur zum Teil selbst erlebt werden kann und sich auf den Teilprozess des Entwerfens reduziert, ist unverzichtbar. Wer sich – womöglich auch als Studierende/r – von Designhochschulen erhofft, dass diese als Produktionswerkstätten dienlich sein könnten oder letztlich mit dem Abschluss „fertige“ Designer/innen mit „produzierbaren“ Designs hervorbringen, muss die eigenen Vorstellungen noch einmal deutlich korrigieren. Industriedesign, und davon soll hier die Rede sein, ist Teamwork, und das nicht nur im eigentlichen Entwurfsteam, sondern in der Beziehung zum ganzen Unternehmen und weit darüber hinaus. Ein so verstandener Designprozess lässt sich aus rein theoretischen Schlussfolgerungen heraus nicht verstehen, sondern eine Betrachtung bestehender Prozesse aus der Praxis sinnvoll erscheinen. Die an vielen Designhochschulen im Curriculum geforderten Praktika in Unternehmen sind daher fraglos von großer Bedeutung, geben aber nur Einblick in ein oder zwei Betriebe. Zudem wird dabei die Praxis sozusagen ohne Hintergrund der gesamten Prozesskette erfahren, da man zumeist direkt mit dem Entwerfen konfrontiert wird. Das Thema Designprozesse in der Theorielehre der HfG Offenbach Um Student/innen eine erweiterte Perspektive auf die Entstehungsbedingungen von Artefakten zu geben, wurden vom Wintersemester 2014/15 bis zum Sommersemester 2020 mehrere Hauptseminare im Lehrgebiet Designgeschichte und Designtheorie zum Thema Designprozesse angeboten, die jeweils auf große Resonanz stießen. Einen Blick über das eigentliche Designobjekt hinaus auf die näheren und weiteren Entstehungsbedingungen zu werfen fand bei den Studierenden nachhaltig Interesse. Dieses Thema wurde bewusst in beiden Fächern, in Theorie und Geschichte, angeboten, um sowohl historische Prozesse zu untersuchen als auch theoretische Aufarbeitungen zu ermöglichen. Den Theorieseminaren

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Abb. A: Elsa Fischer-Treyden: Glasserie „Fuga“, Rosenthal, 1965 © Rosenthal GmbH

Abstract Wir sind umgeben von den verschiedensten Arten von Trinkgläsern, die immer auch Träger von Informationen über Nutzer/innen, Konsumverhalten und die gesellschaftlichen Normen sind. Allerdings sind sie so alltäglich, dass wir uns darüber kaum Gedanken machen, genauso wenig wie über die Form oder die Herstellungsweise. Ob Preis, Funktion, Design – es spielen unterschiedliche Kriterien eine Rolle, wenn Konsument/innen sich für ein ganz bestimmtes Trinkglas entscheiden. Gibt es aber auch Kriterien, die das gute Glas von einem minderwertigen unterscheiden? Unter der Prämisse der Guten Form wurden in der Nachkriegszeit in Westdeutschland und der Schweiz Alltagsprodukte ausgewählt, die als besonders hochwertig angesehen wurden. Dafür wurde sogar eine ganze Reihe von Richtlinien verfasst, die auch für die Auswahl von Trinkgläsern eingesetzt wurden. Aber welche Art von Gläsern wurde ausgewählt und welche Kriterien spielten damals eine Rolle?


Anneli Kraft

Das gute Glas

Das gute Glas – Kriterien zur Beurteilung von Trinkgläsern Anneli Kraft

Das Trinkglas ist ein ganz normaler Alltagsgegenstand, der zwar täglich benutzt, aber dem wenig Beachtung geschenkt wird. In unser Bewusstsein dringt ein Glas vor allem, wenn es kaputt geht oder wenn es im Gebrauch in irgendeiner Form unangenehm ist: der Stiel zu schwer, der Mündungsrand zu dick, das Material gräulich oder zerkratzt. Ist das Glas ohne Mangel, nehmen wir es als Selbstverständlichkeit hin. Wir machen uns in den seltensten Fällen Gedanken über die Herstellung, die Form oder den Entwicklungsprozess. Alltagsobjekte sind dazu da, möglichst unauffällig zu sein und ihren Zweck zu erfüllen. Aber welche Aspekte unterscheiden ein gutes von einem minderwertigen Glas? Was ist überhaupt ein gutes Glas? Der Begriff „gut“ wird hier abgeleitet von der Guten Form, bei der es Mitte des 20. Jahrhunderts nicht nur um die formale Gestaltung ging, sondern um eine Haltung. Was die Protagonist/innen damals unter Guter Form verstanden, wurde in verschiedenen Richtlinien zur Beurteilung von Designobjekten festgehalten. Welche Aspekte dafür eine Rolle spielten, wird in diesem Artikel anhand des Trinkglases illustriert und zusammengefasst.1 Die Messbarkeit von guter Gestaltung Über die Frage nach Kriterien guter Gestaltung und deren Messbarkeit haben sich schon Generationen an Gestalter/innen den Kopf zerbrochen.2 Besonders häufig zitiert werden die „10 Thesen zum Guten Design“, die Dieter Rams in den 1970er Jahren entwickelte und Anfang des Jahrtausends noch einmal überarbeitete.3 Herbert Lindinger wiederum fasste 1983 „Kriterien einer guten Industrieform“4 zusammen. Als Vorlage und Vorläufer dafür kann eine ganze Reihe an Richtlinien und Kriterien zur Beurteilung von Gestaltung herangezogen werden, die vor allem Mitte des 20. Jahrhunderts Hochkonjunktur hatten. 1950 veröffentlichte das Museum of Modern Art in New York die „12 Regeln des modernen Designs“ von

1  Dieser Artikel beruht auf dem Kapitel „Was ist eigentlich ein gutes Glas“ und einigen weiteren Passagen aus der Dissertation der Autorin. Kraft, Anneli: Das Gute Glas. Design digital sammeln und erforschen, Diss. univ., FAU Erlangen-Nürnberg 2020. 2  Frenzl, Markus: Design ist messbar. In: Ders.: Designerglück. Von Designmenschen und anderen Mysterien der Designkultur. Stuttgart 2019, S. 10–13. 3  Rams, Dieter: „10 Thesen von Dieter Rams über gutes Produktdesign“, Oktober 1995, gering verändert und erweitert 2002, <http://www.designwissen.net/seiten/10-thesen-von-dieter-rams-ueber-gutes-produktdesign>, 29.07.2020. 4  Lindinger, Herbert: „Kriterien einer guten Industrieform“, <https://www.lindingerdesign.de/cms/index.php/designkriterien.html>, 29.07.2020; Kriterien-Interview mit Herbert Lindinger in Neumann, Claudia: 50 Jahre iF. Hannover 2003, S. 160f.; Bürdek, Bernhard E.: Design. Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung. Köln 1991, S. 54.

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Designentscheidungen – Über Begründungen in Entwurfsprozessen

Abb. F: Heinrich Löffelhardt: Kelchglasgarnitur SM 2097 „Europa“, Vereinigte Farbenglaswerke, Zwiesel, 1966 © bpk / Deutsche Fotothek / Willi Moegle, Foto: Willi Moegle

Innovative Formgebung und dauerhafte Form: eine Diskrepanz? Um gute Produkte zu günstigen Preisen zu fördern, wurden auch maschinell gefertigte und daher kostengünstige Trinkglasserien in die Auswahl miteinbezogen. Da sich die Maschinenfertigung allerdings erst ab einer bestimmten Menge auszahlte, entstand der Großteil der ausgewählten Gläser in der seriellen Handfertigung. Ein qualitativ hochwertiges Beispiel für maschinell geblasenes Glas ist die Serie „Europa“ von Heinrich Löffelhardt, die er 1966 für die Vereinigten Farbenglaswerke Zwiesel entwickelte (Abb. F). Die Garnitur erfüllt aber noch ein weiteres Kriterium der Guten Form, das damals zwar formuliert wurde, aber natürlich erst im Nachgang überprüft werden konnte: die Forderung nach einer dauerhaften Form.18 Tatsächlich gibt es Gläser in der Auswahl, die bis heute produziert werden, wieder aufgelegt wurden oder zumindest über viele Jahre im Programm der Firmen Bestand hatten. Es ist bemerkenswert, dass gerade einige sehr innovative Gläser in Bezug auf ihren Produktionszeitraum besonders langlebig waren, wie beispielsweise die Serie „Fuga“ von Elsa Fischer-Treyden (Abb. A). Sie wird bis heute für die Marke Rosenthal produziert und war damals formal ihrer Zeit weit voraus. Es gibt also keine Diskrepanz zwischen innovativer Formgebung und ästhetischer Langlebigkeit, wie das zu erwarten gewesen wäre.

18  Vgl. Brackert, Gisela: Fünf Jahre Bundespreis „Gute Form“. Versuch einer Bilanz. In: 5 Jahre Bundespreis Gute Form. Hg. von Rat für Formgebung. Köln 1974, S. 9–12.


Anneli Kraft

Das gute Glas

Abb. G: Wilhelm Wagenfeld: Kelchglasgarnitur „Greif“, Peill & Putzler, 1958 © Wilhelm Wagenfeld © VG Bild-Kunst, Bonn & Neuhaus Lighting Group. Selltec GmbH

Dekor, aber nicht um jeden Preis Das Dekor hat im Glasbereich mehrere Funktionen: Erstens schafft es einen zusätzlichen Reiz, indem es die Form oder Funktionalität betont. Zweitens dient es Marketingzwecken, weil dadurch das Angebot vergrößert werden kann. Drittens wurde es etwa in der Nachkriegszeit bewusst eingesetzt, um mangelhafte Qualität zu kaschieren. In der Auswahl des ostdeutschen Warenkatalogs „Form und Dekor“ finden sich auffallend viele dekorierte Serien, die allerdings häufig nicht zur Form passen und daher auch nicht mit den Richtlinien zur Guten Form vereinbar sind. Diese forderten, das Dekor sei „zur Betonung oder Steigerung der Form“ und „passend zum Material“ einzusetzen und müsse eine sorgfältige Ausführung sowie einen „tragbaren Preis“ haben.19 Dafür eigneten sich beispielsweise Gravurmuster und die in der DDR häufig verwendete preisgünstige Guillochier-Technik.20 Nur wenige Gläser waren mit Schliffmuster versehen, das vergleichsweise aufwendig und teurer war. Die Rillen am Fuß der Becher von Wilhelm Wagenfeld bringen unterdessen überraschende Details hervor, da sie zusätzlich Bezug auf die Funktionalität nehmen (Abb. G). Zwar forderten die Verfechter/innen der Guten Form eine Beschränkung auf passendes Dekor, doch sah dies die nachfragende Seite offenbar anders. Nach den Katalogen der 1960er und 1970er Jahren zu schließen, waren sowohl in West- als auch in Ostdeutschland unzählige Dekorvarianten der an sich schlicht und klar gestalteten Gläser auf dem Markt. Besonders beliebt waren bunte Römer mit einem geriffelten, farbigen Schaft oder Schliffdekor. Propagiert wurden Schlichtheit und Einfachheit, gekauft wurden „Styling“ und „Kitsch“ in Form unpassender Dekore oder historisierender Römer, die damals stark kritisiert wurden.21 19  Michel, Horst: Warum ist das Angemessene modern? Gelbe Hefte 3, Weimar, 1957, S. 13f. 20  Der Begriff „Guilloche“ bezeichnet feine Ätzlinien auf dem Glas, die in eine aufgebrachte Lackschicht geritzt werden. Es gab Guillochiermaschinen mit bis zu 24 Stationen, sodass dies eine preisgünstige Dekor-Variante war. 21  Aust, Hans W.: Gute Form verkauft sich gut. In: Form + Zweck 1, 1956/57, S. 7–20; Breuer, Gerda (Hg.): Das Gute Leben. Der Deutsche Werkbund nach 1945. Wuppertal u. Tübingen 2007, S. 65; Michel, Horst: Wenn nur Gutes produziert wird, kann nichts Schlechtes mehr verkauft werden. Über die Arbeit des Instituts für Innengestaltung an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar. Weimar 1955, o. S.

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Entwurfsprozesse können als Abfolge bewusst oder unbewusst gefällter Entscheidungen betrachtet werden. Unter dieser Perspektive ist die uns umgebende Welt der Artefakte das Resultat einer mehrfachen Wahl, die andere, uns meist unbekannte Personen bei der Gestaltung von Produkten, medialen Werken oder Gebäuden irgendwann einmal getroffen haben. Mit Blick auf das Design lässt sich feststellen, dass diese Weichenstellungen oftmals multikausal begründet sind. Neben ästhetischen spielen und spielten vor allem technische, ökonomische, gesellschaftlich-kulturelle, manchmal juristische, zeitweise aber auch verstärkt politische oder ökologische Bedingungen und Beweggründe eine Rolle. Obwohl sie zu Entscheidungen führen, die Designentwürfen ihre jeweilige Ausprägung und Erscheinung verleihen, sind die Gründe dafür am späteren Erzeugnis in der Regel kaum ablesbar. Vielfach lässt sich erst durch eine akribische designwissenschaftliche Untersuchung nachvollziehen, nach welchen Kriterien und aufgrund welcher Einflüsse bestimmte Ideen im Entwicklungsprozess als verwirklichungswürdig selektiert wurden. Das gilt insbesondere für Entwürfe, deren Entstehungszeitraum weit in der Vergangenheit liegt.

Melanie Kurz hat seit 2008 eine Professur für Designtheorie und Designgeschichte am Fachbereich Gestaltung der FH Aachen. In ihrer gestalterischen Praxis war sie in den Bereichen Produktgestaltung, UI-Design und Designstrategie tätig. Sie forscht zu Entwurfsmethoden und Topoi über Design. Thilo Schwer ist seit 2019 Professor für Designgeschichte und -theorie an der HBK Essen. Er arbeitet als Produktgestalter und Designwissenschaftler, seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Analyse von Gestaltungsmitteln sowie den Methoden des Designs im Entwurfsprozess. Beide Herausgeber sind als Doppelspitze seit 2019 mit dem Vorsitz der Gesellschaft für Designgeschichte (GfDg) betraut.

Beiträge von Leonie Häsler, Harald Hullmann, Hartmut Jatzke-Wigand, Klaus Klemp, Max Korinsky, Anneli Kraft, Melanie Kurz, Johanna Sänger, Pia Scharf, Thilo Schwer.


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