«LA DÉFENSE IST FRANKREICH, NICHT PARIS» Hubertus Adam im Gespräch mit Mathias Armengaud (AWP Architectes) und Simon Frommenwiler (HHF Architekten) Wie umgehen mit La Défense, dem Hochhaus- und Bürokomplex, der seit den späten Fünfzigerjahren nordwestlich von Paris entstanden ist? Heute ist die Défense eine monofunktionale Insel innerhalb des urbanen Gefüges. Doch bei genauer Analyse bietet sie ungeahnte Potenziale.
1 Gesamtkonzept plan guide für die öffentlichen Räume von La Défense (Grafiken: AWP)
56
softscape
cheminement
projets immobiliers
végétation
cheminement
dessus/dessous dalle
eau
opportunité foncière
gare
nouveau revêtement
piste cyclable
archithese 5.2012
Hubertus Adam: 2011 habt ihr den internationalen Wett-
MA: Der Handlungsbedarf wurde tatsächlich schon früher
bewerb für einen plan guide der öffentlichen Räume von La
erkannt; so wurde vor langer Zeit auch OMA mit einem Kon-
Défense gewonnen, an dessen Ausarbeitung neben AWP
zept zur Revitalisierung beauftragt. Das Projekt ist fantas-
und HHF noch weitere Büros, aber auch Spezialisten anderer
tisch, verschwand aber wirkungslos in den Schubladen wie
Disziplinen beteiligt sind. Wie nehmt ihr heute die Défense
eine Reihe anderer Studien.
wahr, die seit den späten Fünfzigerjahren als Central Busi-
Heute sehen auch die Verantwortlichen die Notwendig-
ness District ausserhalb der Stadt Paris errichtet worden ist?
keit, das geschlossene System von La Défense zu öffnen, und daher fand der Wettbewerb statt. Weil in La Défense in den
Simon Frommenwiler: Bei der Défense handelt es sich gleich-
kommenden Jahren an verschiedenen Stellen etwa 15 neue
sam um ein grosses Gebäude – ein mehrgeschossiges Volu-
Hochhäuser entstehen sollen, galt es, den Infrastrukturso-
men mit Infrastruktur, Shopping Mall und einem Dach darü-
ckel einer grundsätzlichen Analyse zu unterziehen und zu
ber, auf dem Hochhäuser stehen. Wer heute La Défense
überdenken. Eine weitere Aufgabe besteht darin, das aut-
besucht und mit dem Auto, der Metro oder der RER ankommt,
arke System La Défense mit der städtischen Umgebung zu
hat das Gefühl, sich zunächst endlos durch den Untergrund
verbinden.
zu bewegen, bevor er ans Tageslicht gelangt. In Wahrheit bewegt man sich aber in einem gigantischen Infrastruktur-
SF: In La Défense geht es darum, den öffentlichen Raum
bauwerk, das nicht in die Erde eingegraben ist, sondern auf
überhaupt erst zu entdecken und Vorschläge für seine Nut-
dem vorhandenen Terrain errichtet wurde.
zung zu machen. Der öffentlich nutzbare Raum existiert zwar, aber mehr oder minder unsichtbar – man muss ihn
MA: La Défense ist ein seltsames Gebilde. Hunderttausende
überhaupt erst als Qualität wahrnehmen.
von Personen steigen dort um, viele arbeiten dort; auch wir kannten La Défense von diversen Besuchen, doch zur Le-
HA: Wie geht ihr mit eurem plan guide um? Und was sind die
benswirklichkeit von Paris gehört es eigentlich nicht. Es ist
wesentlichen Ziele?
völlig abgekoppelt.
MA: Unser Projekt begann mit einer Analyse der bestehen-
In der Zeit von de Gaulle entstand La Défense aufgrund
den Substanz: Mehr als Touristenpläne zur allgemeinen Ori-
der Initiative und mit der vollen Macht des Staates. Sie be-
entierung gibt es nicht. So beauftragten wir zunächst einen
steht aus Beton, ist grau und hermetisch – und hat sich sozu-
Ingenieur, ein AutoCAD-Modell der Défense anzufertigen. In
sagen planlos entwickelt. Natürlich ist alles geplant – aber
einem zweiten Schritt galt es, Potenziale für Interventionen
Stück für Stück und ohne umfassenden Gesamtplan. Ein Bei-
auszuloten und zu definieren. Und der dritte Schritt besteht
spiel dafür sind zwei Wohnbauten in der Mitte der Défense.
nun darin, Vorschläge für die Öffnung zu entwickeln. Wir
Diese spätmodernen Gebäude sind gar nicht schlecht, aber
arbeiten mit einem grossen Team an dem Projekt, haben vor
sie sind sozusagen ohne Autoren entstanden. Eine Reihe von
Ort ein Büro installiert und wollen unsere Ideen im kommen-
Ingenieuren und Architekten war an der Planung beteiligt,
den Jahr in einem temporären Ausstellungsort der Öffent-
sie erhielten Geld, waren aber von der Umsetzung ausge-
lichkeit vorstellen. Es geht darum, von Geschichten und Vi-
schlossen. Ähnlich verhielt es sich mit der Grande Arche von
sionen zu erzählen. La Défense ist ein technisches Konstrukt,
Johan-Otto von Spreckelsen unter Mitterrand: Das Projekt
und seit den Sechzigerjahren gibt es keine Geschichten und
wurde dem Architekten schliesslich entzogen. Man ist in La
Visionen, die damit verbunden sind: keine Bücher, keine
Défense nicht gewöhnt mit Architekten zusammenzuarbei-
Filme, keine Fiktionen. Alle hassen La Défense. Hier muss
ten. La Défense ist Frankreich, nicht Paris; sie funktioniert
man ansetzen.
wie ein rechtsfreier Raum und steht dem Selbstverständnis des Staates nach in einer globalen metropolitanen Konkur-
SF: Dabei geht es auch darum, sinnvoll mit dem Bestand an
renz zu London, New York oder Tokio. Mit der Kapitale zu
Bauten und Infrastruktur umzugehen. Das Schnellstrassen-
ihren Füssen hat es eigentlich nichts zu tun.
system, das La Défense umzingelt, erweist sich heute als völlig überdimensioniert. Aus diesem Grund sollen Teile ab-
SM: Symptomatisch für diese Entwicklung ist, dass es keinen
gerissen werden. Wir aber plädieren dafür, diese umzunut-
Masterplan gibt. Und damit ist auch völlig unklar, wo sich die
zen: in Wegeverbindungen für Fussgänger und Radfahrer
Schnittstelle zwischen dem öffentlichen Bereich der Infra-
oder öffentliche Parks. Der Loop der Schnellstrasse, den wir
struktur und den aus diesem herauswachsenden privaten Bau-
erhalten möchten, befindet sich direkt neben einer Parzelle,
ten befindet. Eine unserer Aufgaben bestand daher darin, hier
auf dem Investoren aus Katar einen zweihundert Meter ho-
Klarheit zu schaffen. Das ist um so wichtiger, als derzeit in La
hen Turm errichten möchten. Unsere Aufgabe besteht auch
Défense eine grosse Anzahl neuer Bauvorhaben geplant wird,
darin, mit den Investoren zu verhandeln und ihnen die Vor-
auch wenn einige von diesen wohl auf dem Papier bleiben.
teile unseres Konzepts und des Parks zu vermitteln.
HA: Warum wird dieses Problem erst heute angegangen? Die
HA: Ihr strebt urbanistische Lösungen ab, die nicht im klas-
aus der Monofunktionalität resultierenden Probleme bestan-
sischen Sinne top-down implementiert werden, sondern be-
den auch schon früher.
stehende Räume analysieren, nutzen und uminterpretieren. 57
Das erinnert an eure erste gemeinsame Arbeit, die Restruk-
im städtischen Gefüge. Natürliches Licht in den «Unter-
turierung des Areals Praille Acacias Vernets (PAV), die euch
grund» zu bringen, ist dafür Voraussetzung.
seit 2009 beschäftigt. Auch dort geht es um eine Gesamtana-
Eine wichtige Aufgabe besteht des Weiteren in der Imp-
lyse, die dann in einer Strategie der kleinen Schritte ihre
lentierung einer neuen Bahnstation. Gemäss dem Grand-
Umsetzung findet.
Paris-Plan wird La Défense in wenigen Jahren eine neue Bahnlinie zum Flughafen und eine weitere RER-Linie auf-
MA: Anhand des Projektes in Genf haben wir gelernt, dass
nehmen, und das bedeutet für die bestehende Station dann
sich die Grundlagen und Entscheidungen zwar jeden Tag
den Kollaps.
ändern, damit aber auch vieles möglich wird. Wir fungieren als Mediatoren und Kommunikatoren.
SF: Generell ist Belebung ein wichtiges Thema, die Verbin-
dung mit der Umgebung. Am Wochende wirkt La Défense
2 Verbindung der Défense mit der Umgebung 3 Stärkung der Achse im Bereich von La Défense
HA: In La Défense ist der Infrastruktursockel euer eigentli-
wie ausgestorben. Deshalb sind unter anderem weitere Ide-
cher Interventionsbereich. Welche Potenziale bietet dieser
enwettbewerbe nötig, wie der Monofunktionalität des Quar-
Bereich?
tiers begegnet werden kann.
2
3
MA: Der hermetische Charakter, der den Infrastruktursockel
HA: Von der Durchwegung und der Neudefinition öffentli-
heute bestimmt, bestand nicht von Anfang an. Doch die Öff-
cher Räume abgesehen: Wie reagiert ihr auf die Monofunk-
nungen, Durchbrüche und Parks, die ursprünglich existier-
tionalität eines reinen Büroquartieres?
ten, sind im Verlauf des Ausbaus von La Défense sukzessive verschwunden. Mit vergleichsweise einfachen Mitteln kann
MA: Hunderttausend Quadratmeter an Fläche sind noch un-
man aber Abhilfe schaffen.
genutzt. Das bietet ungeahnte Potenziale, insbesondere für
Der Sockel dient heute lediglich dem Verkehr und der An-
das Wohnen. Gerade der Sockel ist interessant, weil achtzig
lieferung. Von den Parkplätzen, die in der Hochzeit der auto-
Prozent der Parkplätze nicht benötigt werden. Nutzt man die
mobilen Ära geplant wurden, wird nur ein Bruchteil benö-
Möglichkeiten des Sockels geschickt, liessen sich Häuser in-
tigt. Interessanterweise werden alle diese Bereiche nicht
tegrieren, zum Teil sogar mit einem fantastischen Blick über
einmal videoüberwacht: Selbst Obdachlose verirren sich
Paris.
nicht hierher. Unser erstes Ziel ist es, das Podium an strate-
58
archithese 5.2012
gischen Stellen aufzubrechen und Verbindungen für Fuss-
HA: Euer Konzept ist jenseits der Frage, wie sich die Defizite
gänger und Radfahrer zu schaffen, die hier bislang nicht
von La Défense vermittels vergleichbar einfacher und vor
vorgesehen waren. Man kann La Défense bis dato mit dem
allem machbarer Interventionen korrigieren lassen, auch
Fahrrad überhaupt nicht erreichen, es ist eine absolute Insel
deswegen bemerkenswert, weil es die gebaute Realität an-
4
5
erkennt und ihr dieser bei aller Kritik erkennbar Wertschät-
MA: Genau. Eigentlich wäre La Défense der richtige Ort, um
zung entgegenbringt. Wie man mit dem baulichen Erbe der
eine Universität für die Probleme der Spätmoderne zu grün-
späten Moderne umgeht, ist derzeit ein wichtiges Thema.
den. Créteil ist architektonisch interessanter, aber La Défense besitzt letztlich die wirtschaftliche Kraft, welche diese
MA: Ohne Frage: Für uns zählt La Défense zum patrimoine,
4 Integration von Wohnnutzungen in den Sockel 5 Durchgrünung von La Défense
Idee ermöglichte.
zum kulturellen Erbe. Aber in Frankreich gibt es mit dem
La Défense erinnert mich an Versailles: ein gigantisches
baulichen Erbe der Sechzigerjahre ein viel grösseres Problem
Gebäude, viel grösser, als die eigentlichen Funktionen es er-
als in der Schweiz – was auch mit dem Problem des Mass-
fordern. La Défense ist das Versailles des 20. Jahrhunderts.
stabs zu tun hat. Dabei ist das Image von La Défense nicht nur schlecht: Ein gewisser Stolz ist immer noch zu spüren,
Bearbeitung und Übersetzung: Hubertus Adam
auch wenn die meisten Menschen negative Empfindungen damit verbinden … HA: … vielleicht, weil dort bislang auch kaum jemand lebt.
Es ist keines der heute vielfach diskreditierten grands ensembles des sozialen Wohnungsbaus in der Banlieue. 59