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Weg von der Strasse

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DROPA Persönlich

DROPA Persönlich

VON DER STRASSE

zurück ins Leben

Aufgrund einer psychischen Erkrankung geriet Sandra Brühlmann in eine Medikamenten- und Alkoholabhängigkeit und wurde obdachlos. Im Gespräch erzählt sie uns, wie es ihr gelungen ist, aus der Abwärtsspirale herauszukommen und warum sie ihr Bett in Ehren hält.

Sandra Brühlmann wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf und geriet früh in einen destruktiven Strudel aus psychischen Problemen, Sucht und Gewalt. Ihre Geschichte schockiert. Sie zeigt aber auch, dass es möglich ist, mit starkem Willen und etwas Hilfe in einen geregelten Alltag zurückzufinden. Heute arbeitet Sandra Brühlmann als SurpriseStadtführerin in Zürich. Mit ihrer authentischen und ehrlichen Art zeigt sie anhand ihrer persönlichen Erlebnisse als Obdachlose auf, dass Not und Armut auch in der Schweiz existieren.

Frau Brühlmann, Sie haben eine bewegte Biografie. Was mögen Sie davon erzählen?

Meine Erinnerungen sind verschwommen, aber zusammen mit Surprise und einigen Familienmitgliedern konnte ich vieles rekonstruieren und verarbeiten. Mit 14 Jahren bekam ich psychische Probleme, hatte Angstzustände und Panikattacken. Ich zog früh von zu Hause aus. In meiner damaligen Beziehung erlebte ich viel Gewalt und Lügen. Das zog sich wie ein roter Faden weiter: In Beziehungen geriet ich in Abhängigkeiten, verlor immer wieder die Arbeitsstelle, hatte mit 19 Jahren schon hohe Schulden und Betreibungen. Es war ein Auf und Ab. Eine Zeit lang lebte ich bei einer bekannten Familie, die mir half, einen geschützten Arbeitsplatz zu finden, wo ich eine Ausbildung zur Töpferin machen konnte. Ich ging auf Entzug und machte eine Therapie.

Was geschah dann?

Durch einen neuen Freund kam ich wieder in Kontakt mit Alkohol. Auch der Wechsel aus dem geschützten Rahmen in den regulären Alltag überforderte mich total. Ich trank, bekam Depressionen und Panikattacken. Ich verbarrikadierte mich in meiner Wohnung, ging kaum noch raus. Irgendwann suchte ich Hilfe bei einem Psychiater. Er verschrieb mir drei Antidepressiva in zu hoher Dosis. Damals hatte ich eine neue Stelle im Bäckerei- und Konditoreiverkauf, für die ich früh aufstehen musste. Um besser aus dem Bett zu kommen, verschrieb mir der Psychiater zusätzlich Ritalin. Innerhalb kürzester Zeit nahm ich 57 Ritalin pro Tag. Die hohe Dosis löste bei mir eine starke Psychose aus. Ich erlebte die Realität ganz anders, hörte Stimmen, hatte Zusammenbrüche und Wahnvorstellungen. Durch das Ritalin blieb ich fünf bis sechs Tage am Stück wach. Dazu trank ich zwischenzeitlich drei Flaschen Wodka am Tag.

Wie lange hielt dieser Zustand an?

Das ging ein paar Jahre so und wurde immer schlimmer. Während dieser Zeit sind mir schreckliche Dinge widerfahren: Ich wurde ausgenutzt, vergewaltigt, hauste in einer verwüsteten Wohnung. Ich war allein. Die Nachbarn halfen mir nicht. Einmal rief ich in der Drogenfachstelle an und bat um Hilfe. Dort sagte man mir, ich solle wieder anrufen, wenn es wirklich schlimm sei. Da gab ich auf.

Am Ende lebten Sie auf der Strasse. Wie kam es dazu?

Die Polizei kam wegen eines Nachbarn ins Haus und wollte mich befragen. Paranoid, wie ich war, wollte ich ihre ID sehen und habe einen der Polizisten aus meiner Wohnung geschoben. Daraufhin drückten sie mich auf den Boden, legten mir Handschellen an und steckten mich in die Ausnüchterungszelle. Sie schalteten die KESB ein

Zur Person

Alter: 39 Jahre Hobbys: Velo fahren, Training, basteln Das motiviert mich: fröhliche Menschen, Besucherinnen und Besucher meiner Führungen Das gibt mir Kraft: Freunde, Familie, das SurpriseTeam, mein Bett, Natur und Tiere

und ich erhielt eine Beiständin. Diese versprach, meine Wohnung aufräumen zu lassen. Für diese Zeit besorgten sie mir ein Hotel, aus dem ich aber rausgeworfen wurde, weil ich alkoholisiert war. Eine Woche verbrachte ich auf der Strasse. In der letzten Nacht liess mich eine Nachbarin ins Haus und ich schlief im Keller. Am nächsten Morgen standen Beiständin und Verwaltung vor mir und ich wurde gezwungen, die Kündigung zu unterschreiben. Ich hatte keine Kraft, mich zu wehren. Und dann war ich obdachlos.

Wie sah Ihr Alltag auf der Strasse aus?

Mit einer Psychose auf der Strasse zu leben, war schwierig. Ich hing viel rum und trank Alkohol. Ich fühlte mich einsam und hilflos. Die Kälte setzte mir zu, ich wurde beklaut, hatte oft Hunger. Ich lief sehr viel, auch nachts, um mich warmzuhalten. Als Obdachlose wird man überall weggeschickt. Wenn ich auf einer Bank geschlafen habe, kam die Polizei und sagte, ich müsse im Sitzen schlafen – um das Stadtbild zu wahren. Man schläft nie tief und ist immer in Alarmbereitschaft. Zwar habe ich probiert, eine Wohnung zu finden, aber ich schaffte es nicht, bei der Zentralen Abklärungs- und Vermittlungsstelle Termine einzuhalten.

Mit welchen Gefahren waren Sie konfrontiert?

Einige Leute im Ausgang wurden unter Alkoholeinfluss sehr aggressiv und haben es an Obdachlosen ausgelassen. Ich schloss mich zum Schutz vor Übergriffen und Gewalt mit Männern zusammen. Zusammenhalt oder Solidarität unter Frauen spürte ich nicht. Am Ende schaute jede und jeder nur auf sich. Das Leben auf der Strasse ist ein Überlebenskampf.

Wo haben Sie in dieser Zeit Unterstützung gefunden?

In der Wohn- und Arbeitsgemeinschaft Suneboge. Lange Zeit bin ich nicht dorthin, weil der Männeranteil in solchen Institutionen sehr hoch ist. Und weil ich fand, ich gehöre da nicht hin. Obwohl ich obdachlos und süchtig war, wollte ich es nicht wahrhaben. Als der Winter bevorstand, bewarb ich mich dann doch. Ich wusste, ich halte die Kälte nicht aus. Als ich dann einziehen durfte und das Bett vor mir sah, war ich so froh! Seitdem versuche ich, einmal im Monat mein Bett zu ehren.

FRAUENARMUTSTOUR «SCHATTENWELTEN»

Mit den sozialen Stadtrundgängen macht Surprise das Thema Frauenarmut sichtbar. Erfahren Sie auf der Tour von Sandra Brühlmann im Zürcher Kreis 4, was es bedeutet, aus dem sozialen Netz zu fallen. Auch in Basel und in Bern werden Frauenarmutstouren angeboten, mehr unter surprise.ngo/frauen-

armutstouren.

«Das Leben auf der Strasse ist ein Überlebenskampf.»

Sie schafften den Weg aus der Obdachlosigkeit zurück in einen geregelten Alltag. Wie ist Ihnen das gelungen?

Nach den Monaten auf der Strasse lebte ich zweieinhalb Jahre im Suneboge und dann weitere zweieinhalb Jahre in der Aussenwohngruppe, wo ich mich wieder auf die Selbstständigkeit vorbereiten konnte. Gleich im ersten Jahr setzte ich das Ritalin ab und konnte mich so endlich aus meiner Psychose befreien. Ich beschloss: So benebelt will ich nicht mehr durchs Leben gehen. Meinen Alkoholkonsum habe ich dann in Monatsschritten reduziert. Bis ich auf null war. Im März sind es acht Jahre ohne Alkohol.

Wie sieht Ihr Alltag heute aus?

Ich lebe allein, halte meine Termine ein, habe gute Freundinnen und Freunde, besuche meine Grosseltern und auch meine Eltern. Ich arbeite bei Surprise und mache inzwischen eine bis zwei Führungen pro Woche.

Was möchten Sie mit den Führungen erreichen?

Ich möchte die Menschen dafür sensibilisieren, dass es auch in der reichen Schweiz Not gibt. Ihnen sagen: Schaut nicht weg. Wir haben lange überlegt, ob wir die Fotos, die die Polizei von meiner Wohnung gemacht hat, zeigen. Aber ich will es nicht verstecken. Sonst würde wieder nicht ans Licht kommen, was Menschen in solchen Situationen durchmachen. Die Besucherinnen und Besucher geben mir aber auch sehr viel Halt. Lange Zeit bin ich nicht verstanden worden, deshalb fühlt sich das Verständnis, das mir die Leute auf den Touren entgegenbringen, so schön an.

Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?

Ich möchte den Stempel meiner Vergangenheit loswerden. Die Vergangenheit legt mir oft Steine in den Weg, sei es bei der Fahrprüfung oder bei der Ausbildung. Ich würde gern eine Peer-Ausbildung machen, um meine Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen zur Unterstützung anderer Betroffener einzusetzen. Ich möchte einfach als normaler Mensch wahrgenommen werden.

Text: Julia Kliewer, Fotos: Herbert Zimmermann

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