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Christian Gerhaher & Gerold Huber
Brechungen
Lieder von Gustav Mahler
Meike Pfister
Glaubt man Johannes Brahms, so ist der „Dreck von der Landstraße“ fein säuberlich zu unterscheiden vom ursprünglichen und reinen Volkslied, wie es im 19. Jahrhundert gern romantisch verklärt wurde. Bei Gustav Mahler gestaltet sich das Verhältnis zum Volkstümlichen ganz anders: Er „greift nach dem zerbrochenen Glas auf der Landstraße und hält es gegen die Sonne, daß alle Farben sich darin brechen.“ So beschreibt Theodor W. Adorno die Besonderheit des Tons, der sich durch die Lieder wie auch die Symphonien Mahlers zieht. Mahler verarbeitet triviale Gassenhauer mit hochartifiziellen Kompositionstechniken; die „kleine Gattung“ Lied ist ihm Ausgangspunkt und Grundlage für groß dimensionierte symphonische Werke, wohingegen symphonische Klänge und Techniken in die Lieder drängen. Was um 1900 in diesen beiden Gattungen scheinbar eindeutig, selbstverständlich und Konvention ist, zeigt sich bei Mahler verfremdet und gebrochen. Genau an solchen Bruchstellen entfaltet er seine nicht nur zu Lebzeiten polarisierende Stilistik.
Die vertonten Texte sind Spiegel und Ursprung musikalischer Brechungen und Uneindeutigkeiten: Idyllische Alphornklänge mutieren zu todbringenden Militärsignalen. Helligkeit und Bewegtheit der schönen Natur lassen Seelenabgründe und Schmerz umso mehr hervortreten. Grün ist sowohl die Farbe des Lebens als auch des Rasens, der den Soldaten begräbt. Mahler legt in den von ihm ausgewählten Texten – nicht salbungsvoll überhöhend, sondern schonungslos direkt und in teils lapidarer Umgangssprache – existenzphilosophische Überlegungen offen. „Auf welchem dunklen Untergrunde ruht doch unser Leben? Von wo kommen wir? Wohin führt unser Weg? Habe ich wirklich, wie Schopenhauer meint, dies Leben gewollt, bevor ich noch gezeugt war? Wie verstehe ich die Grausamkeit und Bosheit in der Schöpfung eines gütigen Gottes? Wird der Sinn des Lebens durch den Tod endlich enthüllt werden?“ – so die Erinnerungen des Dirigenten Bruno Walter an eine Unterhaltung, in der Mahler diese Fragen aufwirft. Antworten sucht Mahler in der Philosophie, aber auch im Christentum, für das er – nicht nur laut seiner Frau Alma – eine aufrichtige und beinah kindliche Hingabe hegt. Diesen Aspekt klammert offensichtlich aus, wer seine Konvertierung vom Judentum zum Katholizismus ausschließlich als Opportunismus im Zusammenhang mit seiner Ernennung zum Hofoperndirektor in Wien 1897 interpretiert.
In nur scheinbarem Kontrast zu Mahlers Auseinandersetzung mit komplexen philosophischen Fragen steht seine Affinität zum Volkslied – gilt das Volkstümliche im 19. Jahrhundert doch als eine Wiege des Universellen, Wahren und Reinen. 1808 veröffentlichte Achim von Arnim zusammen mit Clemens Brentano die Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn. Im zeitgleich erschienenen Aufsatz Von Volksliedern schreibt er, dass in den versammelten 723 Gedichten zu suchen und zu finden sei, „was der Reichthum unsres ganzen Volkes, was seine eigene innere lebende Kunst gebildet, das Gewebe langer Zeit und mächtiger Kräfte, den Glauben und das Wissen des Volkes, was sie begleitet in Lust und Tod, Lieder, Sagen, Kunden, Sprüche, Geschichten, Prophezeiungen und Melodien“. Mehr als die Hälfte der insgesamt 46 Lieder Mahlers beruhen auf Gedichten aus dieser Sammlung. An zweiter Stelle folgt mit zehn Vertonungen Friedrich Rückert, dem sich Mahler ab 1901 ausschließlich zuwendet.
„Nun fängt auch mein Glück wohl an?“
Zu Beginn seines Liedschaffens verarbeitet der Komponist vorzugsweise eigene Texte, so auch in den vier Liedern eines fahrenden Gesellen. Nur das erste Gedicht Wenn mein Schatz Hochzeit macht greift lose eine Vorlage aus der Wunderhorn-Sammlung auf. Die stilistische Einheitlichkeit, die im Vergleich zu den anderen drei Gedichten dennoch gewahrt ist, offenbart, wie nah Mahler sich diesen Texten fühlt. Unfreiwillige Muse während der Entstehung der Gesellenlieder ist die Sängerin Johanna Richter, die Mahler in seiner Zeit als Dirigent am Kasseler Theater kennenlernt. An Silvester 1884, so berichtet Mahler, „hatte sich der unnennbare Schmerz wie eine ewige Scheidewand zwischen uns aufgestellt, und ich konnte nicht anders, als ihr die Hand drücken und gehen. Ich habe einen Zyklus Lieder geschrieben, die alle ihr gewidmet sind. Sie kennt sie nicht. Was können sie ihr anderes sagen, als was sie weiß.“ Wenn mein Schatz Hochzeit macht ist ein frühes Musterbeispiel für Mahlers Spiel mit ironischen Brechungen. Tragik und Kontrast der beiden bereits im Wunderhorn-Gedicht besungenen Welten – hier der einsame Protagonist in seinem Kämmerlein, dort die Geliebte, die einem anderen das Jawort gibt – verschärft Mahler auch auf musikalischer Ebene: So treten die zwei Welten unter anderem in den ständig geforderten Tempo- und Taktwechseln zutage. Allein in den ersten 43 Takten wechselt die Musik zehnmal zwischen heiterem Allegro und schwermütigem Andante. Im weiteren Verlauf des Liedes, ebenso wie in Ging heut’ morgen über’s Feld, findet sich der Verlassene in einer blühenden und idealisierten Naturidylle wieder, die sein Leiden umso mehr entblößt. Die Antwort auf die in der letzten Strophe gestellte Frage „Nun fängt auch mein Glück wohl an?“ wird durch das Ersterben des Tempos bereits vorweggenommen. Ich hab’ ein glühend Messer verlässt den volksliedhaften Tonfall der übrigen Lieder und fordert von den Interpreten ein Ausloten der Extreme. „Mit größter Kraft“ schreibt Mahler über die Verszeile „Ich wollt’, ich läg’ auf der schwarzen Bahr’“ und lässt die Singstimme dabei über knapp zwei Oktaven in den Abgrund stürzen. Das letzte Lied Die zwei blauen Augen greift auf den überlieferten Topos des Lindenbaums, Treffpunkt der Liebenden, zurück. Hier findet sich das lyrische Ich am Ende des Zyklus wieder – allein, beständig wiederholend „Alles wieder gut!“. Trauermarschklänge im Klaviernachspiel setzen dahinter jedoch musikalische Fragezeichen.
„… durch den Mund des Volkes“
Des Knaben Wunderhorn ist zwischen 1887 und 1901 fast das einzige Textkonvolut, aus dem Mahler schöpft. Über die Echtheit der Texte lässt sich streiten, haben von Arnim und Brentano doch immer wieder gestalterisch in die bis dahin mündlich überlieferten Texte eingegriffen oder – den Volkston nachahmend – manches Gedicht sogar neu geschaffen. Von Arnim besteht auf solch dringend notwendiger Freiheit der Herausgeber, wodurch der Volksdichtung wieder mehr Frische verliehen und dem Niedergang der Kultur entgegengewirkt werde. Mahler führt den Veränderungsprozess, dem ein Volkslied laut Goethe zwangsläufig unterliegt, „wenn es durch den Mund des Volkes und nicht etwa nur des ungebildeten, eine Weile durchgeht“ fort und passt die Texte an seine kompositorischen Bedürfnisse an. In Wer hat dies Liedlein erdacht? verschraubt er zwei Wunderhorn-Gedichte miteinander. Über die Herkunft eben jenes Liedleins – zu hören in den wiederkehrenden Koloraturen – wird in der letzten Strophe spekuliert. Das Ergebnis scheint ins Absurde gezogen, indem drei Gänse, „zwei graue und eine weiße“ als musikalische Botschafter genannt werden. Ist hierin möglicherweise eine Spitze Mahlers gegen all jene zu sehen, die nicht müde wurden, sein Verhältnis zu Urheberschaft und Texttreue zu kritisieren? Für Mahler jedenfalls, so überliefert es Alma, sind die Gedichte keine fertigen Gebilde, „sondern Felsblöcke, aus denen jeder das Seine formen dürfe. Es käme ihm [Mahler] auch immer wie Barbarei vor, wenn Musiker es unternähmen, vollendet schöne Gedichte in Musik zu setzen. Das sei so, als wenn ein Meister eine Marmorstatue gemeißelt habe und irgend ein Maler wollte Farbe darauf setzen.“ Das Rheinlegendchen greift die in der Wunderhorn-Sammlung wiederkehrende Thematik der Standesunterschiede und der Leibeigenschaft auf. Humorvoll und dennoch nicht ohne einen Funken Bitterkeit besingt der Protagonist, ein Wanderarbeiter, die durch seine Arbeit auferzwungene Trennung vom Schätzlein. Um es wiederzusehen, ersinnt er eine denkbar unrealistische Taktik und spielt gleichzeitig der Obrigkeit, in diesem Falle dem König, einen Streich. Auch in Der Schildwache Nachtlied wird indirekt Kritik an gesellschaftlicher Ungleichheit geübt. In der in Mahlers WunderhornLiedern häufig anzutreffenden Dialogform singt ein Wachsoldat im Wechsel mit seinem Liebchen und verlacht am Ende ihr Gottvertrauen, das doch nur Kaisern und Königen nütze, also denjenigen, die als Schreibtischtäter selbst gar nicht auf dem Schlachtfeld stehen. Die trotzige Haltung des Soldaten verstärkt Mahler durch musikalisches Kriegsvokabular wie Fanfaren und Trommelwirbel im Klaviersatz. Wiegend und wienerisch angehaucht bilden die Strophen des Mädchens dazu einen scharfen Kontrast. Mit Das irdische Leben nimmt Mahler eine Thematik vorweg, die ihn wenige Jahre später in den Kindertotenliedern nicht nur künstlerisch wieder einholt, sondern durch den Tod seiner Tochter im Jahr 1907 grausame Realität wird. Das Lied entfaltet einen Dialog zwischen Mutter und hungerndem Kind, das immer wieder vertröstet werden muss, „bis es zu spät ist. Und ich glaube“, erklärt der Komponist, „daß das in den unheimlichen, wie im Sturm dahinsausenden Tönen der Begleitung, dem qualvollen Angstruf des Kindes und der langsamen, eintönigen Erwiderung der Mutter – des Geschickes, das sich mit der Erfüllung unseres Schreies nach Brot ja nicht zu beeilen braucht – charakteristisch und furchtbar zum Ausdruck kommt.“
Zu Straßburg auf der Schanz’ zählt (neben Ablösung im Sommer, Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald und Um schlimme Kinder artig zu machen) zu den vier Liedern des heutigen Programms, für die Mahler keine Orchesterfassung hinterlassen hat. Doch orchestrales Denken findet sich auch im Klaviersatz. Beispielsweise sei in den tiefen Basstrillern, wie Mahler in den Noten von Zu Straßburg auf der Schanz’ vermerkt, „mit Hilfe des Pedals der Klang gedämpfter Trommeln nachzuahmen“. Das Lied spielt mit der für Mahler typischen Hell-Dunkel-Wirkung, die durch abrupte Wechsel zwischen Dur und Moll herbeigeführt werden und die Ambivalenz der Szenerie scharf herausstellt: Einerseits verkörpern die Alphornklänge für den Soldaten Heimat und Geborgenheit, andererseits verführen sie ihn zur Fahnenflucht, die er mit dem Leben bezahlt.
„Lyrik aus erster Hand“
1901 schreibt Mahler sein letztes Lied nach einem WunderhornText und wendet sich anschließend nur noch der Dichtung Friedrich Rückerts zu. Dieser ist – sieht man von Heinrich Heine ab, dem Mahler in jungen Jahren eine Vertonung widmete – der einzige bedeutende Dichter, den Mahler in seinen Liedern aufgreift. Die Beweggründe veranschaulicht ein Tagebucheintrag Anton Weberns aus dem Jahr 1904, in dem dieser aus einem Gespräch mit Mahler zitiert: „‚Nach Des Knaben Wunderhorn kann ich nur mehr Rückert machen – das ist Lyrik aus erster Hand, alles andere ist Lyrik aus zweiter Hand.‘ Er [Mahler] erwähnte auch, daß er nicht alles in den Wunderhornliedern verstehe“. Gleichzeitig mit der Hinwendung zu Rückert erfährt Mahlers Stil eine Rücknahme an volkstümlichen Elementen, Klangdichte und orchestraler Wucht zugunsten eines transparenteren, stärker polyphon geprägten Satzes. Wer, wenn nicht Johann Sebastian Bach, den Mahler 1901 intensiv studiert, könnte hinter einer solchen Entwicklung stecken: „Unsagbar ist, wie ich von Bach immer mehr und mehr lerne (freilich als Kind zu seinen Füßen sitzend): denn meine angeborne Art zu arbeiten ist Bachisch! Hätte ich nur Zeit, in diese höchste Schule mich ganz zu versenken! Von welcher Bedeutung das wäre, kann ich selbst nicht ausdenken. Ihm aber seien meine späteren Tage, wenn ich endlich mir selbst gehöre, geweiht!“ In diesem Sinne ist beispielsweise der Klavierpart des ersten der Kindertotenlieder, Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n, kaum mehr als zwei- oder dreistimmig gehalten, so dass jede einzelne Stimme in ihrer horizontalen Fortspinnung gut nachvollziehbar bleibt. Die Kindertotenlieder hat Mahler explizit als Zyklus konzipiert: „Diese 5 Gesänge sind als ein einheitliches, untrennbares Ganzes gedacht, und es muß daher die Kontinuität derselben (auch durch Hintanhaltung von Störungen, wie z. B. Beifallsbezeugungen am Ende einer Nummer) festgehalten werden.“
Bei seiner Frau Alma ruft Mahler durch die Komposition der Lieder ein mulmiges Gefühl hervor: „Ich kann es wohl begreifen, dass man so furchtbare Texte komponiert, wenn man keine Kinder hat, oder wenn man Kinder verloren hat. Ich kann es aber nicht verstehen, dass man den Tod von Kindern besingen kann, wenn man sie eine halbe Stunde vorher, heiter und gesund, geherzt und geküsst hat!“ Im Fall Rückerts ist es tatsächlich der Tod seiner beiden Kinder Ernst und Luise in den Jahren 1833 und 1834, der eine gewaltige, mehr als 400 Gedichte umfassende Totenklage auslöst. Die selbsterfüllende Prophezeiung aber, die Alma Mahler befürchtet, wird durch den Tod ihrer Tochter Anna-Maria wenige Jahre nach Vollendung der Lieder bittere Wahrheit.
Am Ende des letzten Stücks In diesem Wetter, mit dem Mahler 1904 den Zyklus und sein gesamtes Liedschaffen beschließt, siegt der tröstende Gedanke an ein friedliches Jenseits, in dem die Kinder „von Gottes Hand bedecket“ und „wie in der Mutter Haus“ geborgen sind. Nicht auf eine überhöhende Apotheose, sondern – wie könnte es anders sein – auf volkstümliche, an ein Wiegenlied erinnernde Klänge bettet Mahler diese letzte Hoffnung.