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Nikolaj Szeps-Znaider & Robert Kulek

Zwiegespräche

Musik für Violine und Klavier

Michael Horst

Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie der junge Beethoven, frisch zugezogen aus der Bonner Provinz, auf das Wiener Publikum der 1790er Jahre gewirkt haben muss. Mit allem, was er musikalisch anfasste, sprengte er die Konventionen seiner Zeit – im Fall der Klaviertrios op. 1 nicht weniger als mit den Klaviersonaten op. 2 und op. 10 oder den beiden, dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. gewidmeten Cellosonaten op. 5. Mochten der jüngst verstorbene Mozart oder der hochverehrte Altmeister Haydn auch hohe Standards vorgelegt haben: Beethoven übernahm zwar deren Modelle, wies aber schon bei seinen ersten Auseinandersetzungen mit den wichtigsten Instrumentalgattungen in der kompositorischen Arbeit, in den solistischen Herausforderungen wie auch in der Gleichberechtigung beider Instrumente neue Wege.

Auch wenn die Bezeichnung seiner Violinsonate D-Dur op. 12 Nr. 1 – „per il Clavi-Cembalo o Forte-Piano con un Violino“ – noch den Geist des 18. Jahrhunderts beschwört: In Wirklichkeit treten beide Instrumente hier bereits als Duo auf, in dem die unterschiedliche Rangordnung nur graduell erkennbar ist. Zumeist setzt das Klavier zwar musikalisch den ersten Impuls, doch nicht selten ordnet es sich danach mit Begleitfiguren unter, wenn die Violine die motivische Arbeit, die bei Beethoven eine immer wichtigere Rolle einnehmen wird, übernimmt. Ansonsten pflegen die beiden Stimmen einen „konstruktiven Dialog“, wie er auch schon in den reifen Mozart-Sonaten die Regel geworden ist.

Welches Selbstbewusstsein den 27-jährigen Komponisten in seinem Opus 12 beflügelte, zeigt bereits der Unisono- Beginn des Kopfsatzes der ersten Sonate, ein musikalisches Ausrufezeichen, aus dem dann die Violine eine große Kantilene als erstes Thema entwickelt. Auch das zweite Thema gibt sich eher lyrisch; dennoch gelingt es dem Komponisten, durch unerwartete Modulationen, schroffe Akzente und das Spiel mit Motiv-Partikeln ein abwechslungsreiches theatralisches Panorama vor dem Zuhörer auszubreiten. Eine unerwartete Modulation ins weit entfernte F-Dur bringt die Durchführung, die in gewohnter Weise mit den Themen spielt, bevor dann über diverse Umwege die Rückkehr zur Reprise im vertrauten D-Dur eingeleitet wird.

Auch im Andante, einem Variationensatz, steht die motivische Arbeit im Vordergrund – vor der äußerlichen Brillanz. Das geradezu volkstümliche Thema, dessen zwei Teile jeweils zuerst vom Klavier, dann von der Violine vorgestellt werden, erfährt in der ersten Variation eine Verdichtung durch kleinere Notenwerte. Variation 2 stellt ganz die Violine in den Vordergrund, Variation 3 wechselt nach Moll, wobei Beethoven lustvoll den Kontrast zwischen Piano und Fortissimo ausspielt. Die vierte und letzte Variation ist auch die komplexeste: erst gibt die Violine den Ton vor, dann korrespondiert sie mit der linken Hand des Klaviers, bevor die Wiederholung des Originalthemas in die kurze Coda überleitet. Das Finale schließlich erfüllt alle Erwartungen an einen Schlusssatz: es ist ein Rondo im munteren Sechsachteltakt, in das Beethoven nicht nur einen lyrischen Kontrastabschnitt einfügt, sondern das kurz vor Ende auch noch ein paar rhythmische Überraschungen bereithält. Diesen Satz dürfte der Rezensent der Allgemeinen musikalischen Zeitung wohl nicht im Sinn gehabt haben, als er 1799 in seiner Besprechung der drei Sonaten op. 12 klagte: „Es ist unleugbar, Herr von Beethoven geht einen eigenen Gang: aber was ist das für ein bizarrer, mühseliger Gang!“ Der zutiefst irritierte Autor konnte nicht ahnen, welche Wege Beethoven in seinen späteren sieben Violinsonaten, geschweige denn in seinen Klavierwerken und Streichquartetten noch beschreiten sollte.

Ein völlig anderer Charakter durchweht die Violinsonate A-Dur op. 100 von Johannes Brahms. Es sind sozusagen die sommerlichen Düfte vom schweizerischen Thuner See, wo der Komponist den überaus produktiven Sommer 1886 verbrachte. Hier entstanden innerhalb weniger Wochen auch die zweite Cellosonate und das dritte Klaviertrio, nicht zu vergessen einige Lieder, die wiederum eng mit der Kammermusik verbunden sind. Denn Brahms verfolgte hier die Strategie, besonders poetische Momente aus einzelnen Lied zeilen in die Instrumentalmusik zu übernehmen, wie er es bereits sechs Jahre zuvor in seiner ersten Violinsonate op. 78 ausprobiert hatte.

Wieder ist der „Stichwortgeber“ der in Kiel lebende Dichterfreund Klaus Groth; nach dessen Regenlied (für op. 78) sind es diesmal die beiden Lieder Komm bald und Wie Melodien zieht es mir, die Brahms einer kammermusikalischen Metamorphose unterzieht – als Hauptthema des ersten Satzes wie als Seitenthema. Dabei behält er den Charakter der Themen bei: Allegro amabile lautet die Vortragsbezeichnung zu Beginn, während beim Seitenthema lediglich die deutsche Bezeichnung „zart“ (im Lied) durch das italienische „teneramente“ ersetzt wird.

„Wie Melodien zieht es / Mir leise durch den Sinn, / Wie Frühlingsblumen blüht es / Und schwebt wie Duft dahin.“ Das „Duftig-Schwebende“ ist kennzeichnend für diese ganze Sonate, die eine bei Brahms selten zu erlebende, entspannte Heiterkeit atmet. Bereits das viertaktige Anfangsthema strahlt große innere Ruhe aus; danach ergeben sich die musikalischen Entwicklungen wie zwangsläufig von Takt zu Takt, von Phrase zu Phrase. Die Violine nimmt die Themen des Klaviers auf, die Dialoge der beiden Instrumente verweben sich ineinander – trauliches Gespräch statt heftiger Diskussion. Der mit markanten Staccato-Akkorden aufwartende Mittelteil in fis-moll beruhigt sich schnell wieder in fließenden Triolen, bevor der Satz mit dem Hauptthema zur Reprise ansetzt.

Für das Zentrum der Sonate wählte Brahms die originelle Lösung, langsamen Satz und Scherzo im mehrfachen Wechsel direkt miteinander zu verzahnen. Erwartungsgemäß stellt er auch hier enge thematische Bezüge zwischen der Endlosmelodie der Violine im Andante tranquillo und dem tänzerischen Moll-Teil her. Der Brahms-Freund Heinrich von Herzogenberg beschrieb das Andante als eine „Braut“, die „ihren Bräutigam, einen munter-traurigen Norweger, gleich mitgebracht“ habe. Zugleich folgt der Komponist seinem Lieblingsprinzip, dem der Variation, indem er das Material Abschnitt für Abschnitt immer stärker verdichtet – um den Satz dann mit einer lakonisch-witzigen Coda zu beschließen.

Den durch und durch unaufgeregten Charakter des Finales signalisiert schon die Vortragsbezeichnung „Allegretto grazioso (quasi Andante)“. Das Anfangsthema, auf der tiefen G-Saite erklingend, tönt lyrisch und elegant; leidenschaftliche Aufwallungen entwickeln sich nur kurz und finden schnell in das harmonische Spiel der Klänge und Klangfarben zurück. Sowohl das Lied Wie Melodien zieht es mir als auch die Sonate selbst hat Brahms in Gedanken an die von ihm sehr geschätzte, wesentlich jüngere Altistin Hermine Spies komponiert, die im September 1886 zu Besuch nach Thun kam. Sollte sich bei dem 53-jährigen Komponisten mehr als Sympathie für die Sängerin entzündet haben, so hat er diese Gefühle in beiden Werken meisterlich unter Kontrolle zu halten und in Klänge voll wohltemperierter Wärme zu verwandeln gewusst.

Nicht nur 45 Jahre, sondern auch ein Jahrhundertwechsel und ein verheerender Weltkrieg liegen zwischen Brahms’ Sonate und den 24 Präludien op. 34 von Dmitri Schostakowitsch. Mit Fug und Recht darf man sie als Handgelenksübungen bezeichnen, denn der 26-Jährige schüttelte sie im Winter 1932/33 förmlich aus dem Ärmel – bisweilen jeden Tag mindestens ein Präludium. Viele von ihnen nehmen nur eine Notenseite in Anspruch. Ihr Aufbau orientiert sich – wie die 24 Préludes von Chopin und anders als Bachs Wohltemperiertes Klavier – am Quintenzirkel: Dem ersten Präludium in C-Dur (und dem zweiten in der parallelen Molltonart a-moll) folgen also G-Dur (und e-moll), D-Dur (und h-moll), A-Dur (und fis-moll) etc. Mit diesen Klavierstücken kehrte Schostakowitsch, nach mehreren Filmpartituren und der Oper Lady Macbeth von Mzensk, zu seinem ureigenen Instrument zurück; vielleicht sah er darin auch eine Vorübung für das Erste Klavier konzert c-moll, das er kurz darauf in Angriff nahm.

Der Tonfall dieser knappen Miniaturen wechselt zwischen lakonisch und ironisch, elegisch – und ein bisschen sentimental. Frappierend ist der unerschöpfliche melodische Einfallsreichtum Schostakowitschs; nicht zufällig wurden viele der Präludien für andere Besetzungen arrangiert, so die Nr. 14 durch den Dirigenten Leopold Stokowski, der das Stück 1935 als „Zugabe“ für die letzte Schellackplatten- Seite seiner Ersteinspielung von Schostakowitschs Erster Symphonie mit dem Philadelphia Orchestra wählte. Die Bearbeitungen für Violine und Klavier, die im heutigen Konzert erklingen, stammen von Dmitri Tsyganov, dem legendären Primarius des sowjetischen Beethoven-Quartetts, dem er von 1923 bis 1977 vorstand. Schon 1937 verfasste er die ersten Bearbeitungen der Präludien, denen 1961 und 1963 weitere folgten.

Wie eng die beiden Musiker miteinander verbunden waren, zeigt die Tatsache, dass das Beethoven-Quartett 13 der insgesamt 15 Streichquartette Schostakowitschs zur Uraufführung brachte. Tsyganov, der als erster Musiker in der Sowjetunion sämtliche Violinsonaten Beethovens spielte, war außerdem an der Uraufführung des Klaviertrios op. 67 und des Klavierquintetts op. 57 beteiligt. Schostakowitsch wiederum schätzte offenbar seine Bearbeitungen, spielte er doch vier der Präludien selbst für die Schallplatte ein (allerdings nicht mit Tsyganov, sondern dem ebenso renommierten Geiger Leonid Kogan).

Auch Sergej Prokofjew hatte zu Beethoven eine enge Verbindung: „Die Hauptlinien, die mein Schaffen bestimmen, sind folgende: die klassische Linie, die bis in die frühe Kindheit zurückreicht, als meine Mutter mir die Sonaten von Beethoven vorspielte, […] die Innovationslinie, eine Suche nach einer Sprache, um starke Emotionen auszudrücken, […] die toccatische bzw. motorische Linie, die wahrscheinlich von der Toccata Schumanns herrührt, die mich seinerzeit sehr beeindruckte, […] und die lyrisch-kontemplative Linie, manchmal verbunden mit einer längeren Melodie.“ Zumindest drei dieser Aspekte – der klassische, der motorische und der lyrische – finden sich auch in der Sonate D-Dur für Violine und Klavier op. 94a, die in äußerst unruhigen Zeiten entstand und dabei wie ein widerborstiges Plädoyer für das Gute und Schöne in der Musik wirkt. Denn 1943 befand sich die Sowjetunion mitten im Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitler-Deutschland. Aus den bombardierten Großstädten wie Leningrad und Moskau waren viele Künstler weit nach Osten evakuiert worden. Prokofjew verschlug es zuerst in die kasachische Hauptstadt Alma-Ata, dann in das etwa 1000 km östlich von Moskau am Ural gelegene Perm (das damalige Molotow).

Auch in persönlicher Hinsicht befand sich der Komponist in einer schwierigen Situation: Einerseits wurden ihm von Stalins Kulturbürokratie fortwährend neue Hindernisse bei der Realisierung seiner Oper Krieg und Frieden nach dem Roman von Tolstoi in den Weg gelegt, andererseits erhielt er Anfang des Jahres 1943 zum ersten Mal überhaupt – für seine achte Klaviersonate – den Stalin-Preis zuerkannt. In Perm traf Prokofjew auf das ebenfalls evakuierte Ballettensemble des Kirov-Theaters, das sich überaus interessiert an seinem neuen Aschenputtel-Ballett zeigte. Es mag die Beschäftigung mit diesem bewusst unpolitischen Stoff gewesen sein, die auch die passende Stimmung für die Fertigstellung der heiter-verspielten Flötensonate op. 94 bot. Schon bald nach der Moskauer Uraufführung im Dezember 1943 konnte der Geiger David Oistrach den Komponisten (und geschätzten Schachpartner) zu einer Umarbeitung bewegen, welche die größeren technischen Möglichkeiten des Streichinstruments wie etwa Doppelgriffe ausnutzte und bereits im Juni 1944 ihre Erstaufführung erlebte.

Einem Chamäleon gleich scheint sich Prokofjew im Kopfsatz in einen Klassizisten zu verwandeln, so ausbalanciert präsentiert sich das erste Thema mit seinen lieblichen Punktierungen, das, einem Ohrwurm nicht unähnlich, den ganzen Satz dominiert. Allein die Harmonisierung im Klavier, eindeutig dem 20. Jahrhundert zugehörig, lässt aufhorchen, sie ist von schlichter Raffinesse, ohne je die Transparenz der Komposition zu gefährden. Ganz und gar klassisch lässt Prokofjew die Exposition wiederholen, um dann einen marschartigen Mittelteil anzufügen, bevor das Eingangsthema zurückkehrt und in einer schwebenden Coda ausklingt.

Auch das Scherzo folgt modellhaft dem klassischen Vorbild, mit einem überaus motorischen (aber nie hektischnervösen) Presto im Dreivierteltakt, einem sehr lyrischen Trio, in dem die Musik stillzustehen scheint, und einer unveränderten Wiederholung des ersten Teils. Der langsame Satz zeigt ebenfalls eine klare Dreiteilung, und auch hier füllt Prokofjew den klassischen Rahmen in souveräner Manier mit seiner eigenen Musiksprache, die sich viele harmonische Freiheiten erlaubt, aber den tonalen Zentren doch immer nahe bleibt. Im Mittelteil dialogisieren die beiden Instrumente in sanft ausschwingenden Sechzehntel-Triolen, während der Schluss zu den ruhigen Achtelbewegungen des Anfangs zurückkehrt.

Das energiegeladene Finale scheint ein wenig an der Idylle zu kratzen: Allzu mechanistisch kommen die Dauerrepetitionen im Klavier daher, als dass man nicht an eine Parodie auf starre Regulierungen der obersten Kulturfunktionäre denken müsste, welche den freien Fluss des Musizierens (und Denkens) behindern. Auch die uneleganten Unisono-Passagen des zweiten Themas zeugen gewissermaßen von demonstrativer Einfallslosigkeit. Trotz alledem bekommt die Violine hier reichlich Gelegenheit zur brillanten Selbstdarstellung und führt den Satz, unterbrochen nur von den verhaltenen F-Dur-Abschnitten, zu einem ebenso penetranten wie effektvollen D-Dur-Schlussjubel.

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