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Widmann im Gespräch
„Für mich ist jeder Ton ein Lebewesen“
Jörg Widmann im Gespräch über Webers Klarinettenquintett
Herr Widmann, Sie sind nicht nur Komponist und Klarinettist, sondern auch ein ausgesprochener Verehrer der Musik von Carl Maria von Webers. Im heutigen Konzert widmen Sie sich seinem Klarinettenquintett…
Auch wenn es etwas anmaßend klingt: ich möchte eine Ehrenrettung dieses Komponisten versuchen, den ich für sträflich unterschätzt halte. Übrigens selbst von hochgeschätzten Kollegen. Man merkt im Gespräch immer ein bisschen dieses „Ja schon, aber…“ Und dieses „aber“ bezieht sich immer darauf, dass man Weber letzten Endes eine Tiefe abspricht – eine Gefühlstiefe, wie man sie den sogenannten „großen Komponisten“ allesamt zubilligen würde. Oft wird auch die Virtuosität selbst kritisiert, die Skalen, die gebrochenen Arpeggien. Sein Klarinettenquintett ist sozusagen ein will - kommenes Objekt der Kritik, wenn man das so sehen will.
Sie aber sehen es anders.
Ich finde, dass es bei Weber immer eine beseelte Virtuosität ist. Ich sehe manche Schwachpunkte auch, würde ihn aber immer gerne verteidigen wollen. (lacht) Sein Concertino etwa: Für mich ist das ein Meisterwerk. Zwölf Minuten, keine Note zu viel – da stimmt alles. Diese langsame Introduktion, und dann ein so naives, im schönsten Sinne naives Thema kann nur Weber erfinden. Die folgenden Variationen sind nie ausgewalzt, ganz eigen in der Klanglichkeit. Eine Variation nur für tiefe Bratschen, tiefe Klarinettenlage und Pauken zu schreiben, ist in der Empfindung ungeheuerlich, so fremd. Schumann würde sagen: „eine verrufene Stelle“. Überhaupt muss man diese Farbigkeit bei Weber immer mitdenken.
Weber hat sich sehr für die Klarinette, für das ihr eigene Idiom ein gesetzt, doch das Klarinettenquintett steht trotzdem ein wenig im Abseits.
Das ist tatsächlich so. Wenn man von den großen Klarinettenquintetten spricht, meint man immer Mozart, Brahms und Reger. Da gibt es sozusagen eine Traditionslinie, die im Regerschen Quintett gipfelt. Es steht in A-Dur und bezieht sich überhaupt eindeutig auf Mozart. Und dennoch kann man den letzten Satz wie eine Folie über den Variationssatz von Brahms’ Klarinettenquintett legen. Insofern ist diese historische Linie ganz klar. Aber ich sehe auch eine eindeutige Verbindung von Mozart zu Weber. Ich würde das Webersche Klarinettenquintett wirklich in die Reihe dieser großen anderen Quintette stellen.
Natürlich kann man Brahms nicht mit Weber vergleichen – es sind unterschiedliche Ausformungen…
…aber beides kommt von Mozart her. Selbst dieses Spielerische, die Lust an der Virtuosität in Mozarts Quintett, wird bei Weber direkt fortgeführt. Bei Brahms ist alles Melos und Essenz. Plötzlich kommen wie aus dem Nichts absurd schwere Läufe und Arpeggien. Die Funktion der Virtuosität bei Weber ist eine ganz andere. Können Sie das näher beschreiben? Denken Sie an die vierte Variation im Finale vom Mozarts Klarinettenquintett. Diese Heiterkeit sehe ich nur bei Weber in dieser Weise fortgesetzt, aber eben auch weiterentwickelt und auf die Spitze getrieben. Und was Weber an Virtuosität fordert, das ist spektakulär. Natürlich sind das Skalen und Arpeggi, auch ganz am Schluss. Aber wenn man es drastisch spielt, und auch das Tempo in einem Schumannschen Sinne ernst nimmt und zuspitzt – also, wenn man so will: schnell, schneller, so schnell wie möglich; noch schneller –, dann ist das eine Entgrenzung. Das Ressentiment gegenüber Weber ist ein grundsätzliches gegen virtuose Musik. Man könnte es auch gegen Liszt anwenden, dem man aber Phantastik zubilligt – eine Phantastik freilich, die Weber genauso besitzt.
Wo zeigt sich das?
Etwa im zweiten Satz, der so langsam, so exzessiv langsam ist, dass beim Spielen und Hören eigentlich jedes Tempogefühl verloren geht – im Idealfall. In diesem Satz, den Weber übrigens auch mit „Fantasia“ überschrieben hat, gibt es mehrfach Chromatik-Raketen nach oben, und dann ein magisch-leises Echo. Das ist natürlich im Idiom der Klarinette begründet. Hier hat Weber das Wesen des Instruments mit etwas ganz Primitivem, was die chromatische Tonleiter nun einmal ist, geradezu ideal eingefangen. Wenn die Tonleiter kommt, zumal in diesem tiefen Satz, dann klingt das in diesem Kontext im Wortsinne un-erhört. Das hat Größe und Fremdheit. Es kann einem eigentlich nur Angst machen. Und dann dieser Plagalschluss – er klingt wie ein „Amen“ oder ein „Es sei“. Eine sehr ungewöhnliche Kadenz. Chromatik und Kirchentonarten miteinander zu verbinden, darauf kann in dieser Zeit eigentlich nur Weber kommen.
Im 18. und 19. Jahrhundert bestand oft eine Personalunion aus Komponist und Interpret, die im Laufe des 20. Jahrhunderts zusehends einer individuellen Professionalisierung gewichen ist. Sie wagen den Spagat zwischen Komponist, Klarinettist und Dirigent. Wie bekommt man diese drei Ausrichtungen – und das meine ich nicht despektierlich – im Terminkalender eingepasst? Am Instrument muss man ja täglich dran bleiben.
Natürlich! Nachher werde ich das Mozart-Klarinettenkonzert üben. Man muss physisch fit bleiben, technisch, der Ansatz – das ist fast das Wichtigste. Ich bin sehr dankbar, dass ich all das machen darf, weil es sich gegenseitig so befruchtet. Wissen Sie, ich höre ja nicht auf, Komponist zu sein, wenn ich das Weber-Quintett spiele. Umgekehrt höre ich auch nicht auf, Interpret zu sein, wenn ich meine Babylon- Oper schreibe. Für mich ist jeder Ton ein Lebewesen, mit einer Physis, mit einem Körper, mit einem Kopf, einem wie auch immer gearteten Ende. Dort berührt sich etwas. In meinen Kompositionen geht es ja nun wirklich – als Fortsetzung einer unter anderem Weberschen Tradition – bis an den Rand des Spielbaren, und teilweise darüber hinaus. Dort erst beginnt es für mich spannend zu werden. Deshalb fasziniert mich wahrscheinlich Weber auch so. Ich kenne die Instrumente, ich kenne die Grenze, aber es interessiert mich, diesen entscheidenden Millimeter darüber hinaus zu gehen. Nur so können neue Entwicklungen ermöglicht werden. Ohne seinen Klarinettisten- Freund Baermann hätte Weber seine Kompositionen auch nicht in dieser Weise schreiben können.
Ähnlich war es bei Mozart und Stadler, bei Spohr und Hermstedt…
Stadler muss unglaublich schön gespielt haben, Hermstedt auch. Die vier Spohr-Konzerte sind technisch von enormer Schwierigkeit. Wenn ich mich entscheiden müsste, wäre vielleicht das zweite mein Lieblingskonzert. Es ist sehr weberisch, da sind sich die beiden Komponisten sehr nah. Ich glaube, dass bei meinen eigenen Werken diese übersteigerte, abartige oder einfach fremde Klanglichkeit mit meiner Ur-Weber- Erfahrung zu tun hat, als ich zum ersten Mal den Freischütz gesehen habe. Das hat mich als Kind schockiert. Ich hatte eine solche Angst bei der Wolfsschlucht-Szene! Kinder merken ja genau, ob die Erwachsenen ihnen nur Angst machen wollen – „Fürchten machen“ überschreibt etwa Schumann ein Stück in den Kinderszenen. Man gruselt sich gerne ein bisschen, weiß aber, es ist nicht wirklich. In dieser Weberschen Wolfsschlucht-Szene hatte ich echte, existenzielle Angst.
Heute wissen Sie, wie diese Klänge erzeugt werden.
Und bei Weber sind sie ja nie reiner Selbstzweck: die drastischen, die grellen wie auch diese düsteren, dunkel glühenden. Hector Berlioz rühmt in seiner Instrumentationslehre das Außerordentliche dieser neuartigen Instrumentationskunst – zurecht!
Die Fragen stellte Michael Kube.