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Boulez Ensemble XVII - Matthias Pintscher

Klangschichten, Aggregatzustände

Zum Programm des Boulez Ensembles

Kerstin Schüssler-Bach

Wundersam variierte Formen der Unhörbarkeit: Matthias Pintschers Verzeichnete Spur

Der 47-jährige Matthias Pintscher gehört einer Komponistengeneration an, die sich nicht mehr an Grabenkämpfen und Diktaten der Neuen Musik abarbeiten musste. Als junger Mann gefördert von Hans Werner Henze, nannte er auch Pierre Boulez seinen väterlichen Freund (und ist heute musikalischer Leiter des von Boulez gegründeten Ensemble intercontemporain). So vereint Pintscher in seiner Person mühelos zwei Richtungen, die sich 60 Jahre zuvor noch heftig befehdeten: personifiziert durch den hedonistischen Vollender der Literaturoper und den analytischen Theoretiker des Serialismus, den „lackierten Friseur“ (Boulez über Henze) und den „Geschmackspächter und petit bourgeois“ (Henze über Boulez).

Es scheint, als würde sich Pintschers künstlerisches Credo immer stärker zur Abstraktion entwickeln. In den ersten Jahrzehnten seiner früh gestarteten Karriere füllte er den grenzenlosen Raum der dogmenfreien Zonen durch Anregungen aus Literatur und bildender Kunst. Pintscher galt als feinsinniger Ästhet, der sich offensiv zum Kunstschönen im emphatischen Sinn, zur „poetischen Überhöhung“ der Kunst bekannte. Seine auratische Musik reflektierte in schwebender Entmaterialisierung die fragilen Zeichnungen Cy Twomblys, die chiffrierte Lyrik der französischen Symbolisten oder die zerfressene Monumentalität Anselm Kiefers. Heute, wenngleich nicht weniger eloquent und umtriebig, verweigert er sich dem Erklärungsbedarf des Musikbetriebs, schreibt keine Werkerläuterungen mehr und scheint sich auch weniger deutlich an außermusikalischen Anlässen zu orientieren. Das Feld des Musiktheaters hat er seit seiner Rimbaud-Oper L’espace dernier von 2004 nicht mehr aktiv betreten.

Keinesfalls aber hat Matthias Pintscher seinen Sinn für die theatrale Dimension des Raumklangs aufgegeben. Musik birgt für ihn eine gestische Bedeutung. Das fängt schon beim Akt des Komponierens an. Immer noch zeichnet er die Noten mit dem Stift aufs Papier und vergleicht diesen Vorgang mit japanischer Kalligraphie: „Alle Inspiration und Vorbereitung läuft auf den Punkt zu, an dem du deinen Pinsel in die Tinte tauchst und den Strich, das Zeichen, die Geste ausführst.“ Darauf deutet auch der Werktitel Verzeichnete Spur: Eine Linie wird skizziert und wieder verwischt, eine künstlerische Setzung wird ausgesprochen und unsichtbar gemacht. Doch unter der noch sichtbaren Oberfläche sind diese Spuren nicht verschwunden. Pintscher erinnert an die Gemälde von Mark Rothko, deren multiple Farbschichten nicht zu sehen, aber zu spüren seien. Verzeichnete Spur für Kontrabass, drei Violoncelli, Instrumente und Live-Elektronik entstand 2005 als Auftragswerk von Ars Musica und den Salzburger Festspielen für das Klangforum Wien, das es im März 2006 in Brüssel auch unter der Leitung des Komponisten zur Uraufführung brachte. Die filigrane Klanglichkeit von Pintschers Musik ist hier bis ins Extrem verfeinert, die sparsam schattierende Elektronik wurde für die heutige Aufführung vom Pariser IRCAM komplett neu programmiert. Vortragsbezeichnungen wie „molto irreale“ oder „wie eine Schwebung“ bemessen den Radius eines körperlosen Klangs, der zwischen Geräusch und Ton oszilliert. Obertonreiche Spieltechniken unterstreichen den Charakter des Vagen, Unsteten, Sphärenhaften – bei den Streichern etwa flautando-Passagen und Glissandi, das Führen des Bogens am oder auf dem Steg und auf dem Griffbrett, bei den Bläsern Flatterzunge, Überblasen und Luftgeräusche, beim Klavier das Niederdrücken der Saite hinter dem Dämpferkopf.

Verzeichnete Spur führt das dramaturgische Prinzip von L’espace dernier fort, bei dem Pintscher „ein Tonvokabular (ein Material) und seine kontinuierliche Auflösung oder seine Transformation in einen anderen, ‚offeneren‘ Zustand freizulegen“ gedachte. Das Instrumentalwerk knüpft daran an: „Ich habe die Autonomie der evokativen Linie in den Mittelpunkt meiner Gedanken gestellt. Diese Linie beschreibt die Gesten des Marsches (der selbst das Thema meiner letzten Oper ist).“ Einmal löst sich in der Klarinette ein Melodiefragment, doch bald verschwindet es hinter schnellen, starren Tonrepetitionen. Tiefe Töne von Kontrabass und Kontrabassklarinette ver leihen dem Raum eine besonders dunkle Grundierung, die Skordatur (fest gelegte „Verstimmung“) der Streicher verändert den Klang. Objets trouvés wie Kleiderbürsten und Büroklammern stellen unsere Wahrnehmung auf den Prüfstand. Theatrale Splitter wie das Flüstern des Kontra bassisten und der als „visuelle Geste“ geforderte fast lautlose Einsatz der Harfe docken an die dramaturgische Klammer an. In wundersam variierte Formen der Unhörbarkeit driftet der Schluss ab. Seine offenen Zeichen und Klänge verhallen in zitternden Tonrepetitionen, die in zartester Resonanz aufeinander reagieren. Pintscher zitiert hierfür Roland Barthes: „Das Zeichen ist eine Fraktur, die sich nie öffnet, außer auf dem Gesicht eines anderen Zeichens.“ Leichtigkeit, Tiefe und Ökonomie: Debussys Sonate für Flöte, Viola und Harfe

Von Claude Debussy fühlt sich Matthias Pintscher seit jeher inspiriert. Debussys autonome Klangsprache, seine Leichtigkeit, Tiefe und nicht zuletzt seine große Ökonomie der Mittel betrachtet Pintscher, der neben seiner Wahlheimat New York auch eine starke Bindung zu Paris hat, als Vorbild. Für diese Charakteristika Debussy’scher Kunst ist die Sonate für Flöte, Viola und Harfe ein großartiges Beispiel. Jene schwerelos schwebende Grazie und Klangfülle, die dem reduzierten Instrumentarium entlockt wird, atmet ganz besonderen Zauber. Debussys Sonate hat in der Besetzung kein Vorbild, doch ihrerseits viele Komponisten zu gleich instrumentierten Werken angeregt. Dabei ist die ausgewogene Balance zwischen dem Zupfinstrument Harfe, dem Streichinstrument Bratsche und dem Blasinstrument Flöte nicht unproblematisch. Debussy spielt die Kontraste der Klangcharaktere aus, erreicht aber auch einen frappierenden Grad völliger Verschmelzung, bei dem im Idealfall nicht zu erkennen ist, ob der gezupfte Ton von Bratsche oder Harfe, ob das luftige Ornament von Flöte oder Viola stammt: Klangfarbenmelodie von höchsten Graden. Das Stück wurde Debussys depressiver Gemütslage während des Kriegs und gesundheitlichen Krisen abgetrotzt und entstand im Spätsommer 1915 in den Ferien im normannischen Pourville, unmittelbar nach einer Sonate für Cello und Klavier. Eine weitere Sonate für Violine und Klavier folgte, doch zum Abschluss des auf sechs Werke angelegten Zyklus ist es nicht mehr gekommen: Debussy starb im März 1918 an jener Krebserkrankung, die 1915 ausgebrochen war. Vielleicht spiegelt sich, trotz aller spielerischen Heiterkeit, auch das Wissen um die eigene Endlichkeit in dieser Sonate, über die er selbst sagte: „Sie ist furchtbar traurig. Und ich weiß nicht, ob man darüber lachen oder weinen soll? Vielleicht beides zusammen?“

Tatsächlich tauchen Vortragsanweisungen wie „mélan co lique ment“ oder „dolce e tristamente“ an unvermuteten Stellen der Partitur auf. Auch wenn Debussy sein frisch vollendetes Werk launig als „so schön, dass ich mich fast entschuldigen muss“ bezeichnete, so ist der Schleier der Rokoko- Grazie keinesfalls ein ungetrübter. Vordergründig versteht sich die Sonate als Reverenz an Jean-Philippe Rameau und François Couperin, die Debussy auch aus politischen Gründen zum nationalen Vorbild erhob – vom germanischen Über-Wagner sollte sich die Ars Gallica im Ersten Weltkrieg schließlich nicht erdrosseln lassen, und als „Musicien français“ bezeichnete sich Debussy kämpferisch auf dem Titelblatt der Notenausgabe. Pastorale und menuett artiger Mittelsatz greifen die alten Traditionen auf; auch das tänzerische Finale wird von der wiederkehrenden Pastorale beschlossen. Doch Tonalität und Metrik erodieren in diesem wie improvisiert wirkenden, flexiblen Strom der Ornamente. Hier hatte Debussy vom freien Zeitempfinden fernöstlicher Musik gelernt, die ihm auf der Pariser Weltausstellung 1889 einen unvergleichlichen Eindruck beschert hatte und tief in seine Ästhetik eingesunken war. Und so spontan die Tonkaskaden einander zu folgen scheinen, so klar definiert sind sie bei genauerem Hinsehen als streng behandelte motivische Einheiten.

Metallische Brillanz und dunkle Schattenklänge: Matthias Pintschers NUR

Eine glückliche Konstellation von „guten Sternen“ sei es gewesen, die über der Komposition von NUR stand, erklärt Matthias Pintscher in einem Interview mit Thomas May: Seit 20 Jahren sei er immer wieder nach einem Klavierkonzert gefragt worden. Doch bislang habe er „nie auch nur ansatzweise darüber nachgedacht, weil ich mich nicht in der Lage sah, für dieses Repertoire etwas hinzuzufügen.“ Tatsächlich finden sich bislang nur wenige Werke für Klavier in Pintschers Katalog, schon gar nicht unter seinen etlichen Kompositionen für Soloinstrument plus Ensemble oder Orchester. Der Respekt vor dem, was auf diesem Feld bereits gesagt wurde, schien mithin sehr groß. Doch im einsamen Geschäft des Komponierens können auch äußere Faktoren auf fruchtbaren Boden fallen. Ein solcher ist Pintschers Freundschaft mit dem New Yorker Naturwissenschaftler und Unternehmer Paul Sekhri, dessen Passion für die Musik und speziell für das Klavier sich in einer umfangreichen mäzenatischen Tätigkeit niederschlägt. Schon Pintschers Solostück NOW I für das Lucerne Festival, geschrieben 2015 zum 90. Geburtstag von Pierre Boulez, verdankt sich der Pianomanie Sekhris. Auch NUR, ein etwa 18-minütiges Werk für Soloklavier und Ensemble, entsprang nun Sekhris Mäzenatentum. Doch es sei, so Pintscher, nicht ohne die in den letzten Jahren sich intensivierende Verbindung zu Daniel Barenboim denkbar gewesen. Dessen Neugier, Ermutigung und die wiederholte Einladung in den Pierre Boulez Saal habe seinen Widerstand gegen das Klavier schmelzen lassen. Die Ideen kamen beim Skizzieren schneller als gedacht, und so ist NUR in nur wenigen New Yorker Urlaubswochen während des Sommers 2018 entstanden.

Pintscher definiert sich als „sehr spirituellen Menschen“ und beschäftigt sich als Jude intensiv mit den hebräischen Schriften und ihrer Sprache. Für dieses neue Werk wählte er als Titel ein Wort, dass sowohl im Hebräischen als auch im Arabischen eine Bedeutung trägt: Nur – „Feuer“ oder „Licht“. In verschiedenen Aggregatzuständen sei Feuer hier präsent, sagt Pintscher. Das Klavier erhebe sich „in großer metallischer Brillanz“ über den Schattenklang des Ensembles (wieder verwendet er die gedeckten Farben der Bassklarinette und des Kontrafagotts). Von einem herkömmlichen „Klavierkonzert“ kann trotz der traditionellen Dreisätzigkeit nicht die Rede sein. Der Komponist spricht von einer antiphonalen Interaktion zwischen dem metallenen Klang des Klaviers und dem dunklen Raum des Orchesters.

Wie aus der Ferne ruft das erste Horn, zart und ohne Eile. Eine geheimnisvolle, fast romantische Kantilene, die behutsam andere Instrumente mit ihren geräuschhaften Reaktionen in das Geschehen hineinzieht. Erst nach dieser kleinen Introduktion erobert sich das Klavier die Bühne – ganz alleine, den Impuls des Horns sanft aufgreifend, zu einer dichteren Textur verwebend und erstmals den dynamischen Pol des Fortissimo erklimmend. Damit zündet das Klavier wahrlich das Licht im Ensemble an: Kleinteilige, aufgeregte Figuren wandern zwischen den Gruppen hin und her, das Klavier tritt hinter die sich nun profilierenden Celli zurück, nimmt als gleichberechtigter Partner einen Dialog mit Celesta und Vibraphon auf. Über tiefen Liegetönen des Klaviers blitzen verschattete Arabesken der Bass- und Kontrabassklarinette und des Fagotts auf. Luftgeräusche und Überblasen der Bläser, am Steg oder auf dem Griffbrett gestrichene Töne der Streicher entspinnen ein feines Klangnetz, das den kristallenen Ton des Klaviers umhüllt. Wie Flammenzüngeln verbreitet sich dessen neuer, auf- und abschießender Impuls in den Streichern und mündet in einen kurzen kadenzartigen Abschnitt. Der Tonraum weitet sich nach oben: Hohe Akzentnoten verteilen sich vom Klavier aus über seine Mitstreiter. Ein im Klavierkorpus erzeugter Ton ruft zum ruhigen Ausklang des ersten Satzes auf. Nach einem schwebend-schattenhaften, durchgehend im zweibis fünffachen Pianissimo gehalteten Intermezzo schießt der dritte Satz mit einem abgerissenen sforzato-Akkord los. Diesmal ist es die Energie des Ensembles, die auf den Solisten übergeht. In unfassbar schnellen Figuren jagt er schließlich fort, bis wieder ein magischer Moment des in sich hineinlauschenden Stillstands erreicht ist. Die rasende Bewegung wird wieder aufgenommen und führt zu hämmernden Passagen. Wie einen Brandbeschleuniger wirft der Solist ein auskomponiertes fortissimo-Glissando in den Raum. Nach dieser Explosion scheint das Feuer zu verlöschen, doch einzelne Partikel flackern immer wieder auf. Noch einmal zerbirst das Klavier förmlich vor Energie und reißt das Ensemble mit, hin zu einem vehementen Schluss.

Bei der Konzeption von NUR habe er, sagt Matthias Pintscher, zwar nicht spezielle Aspekte des Klavierspiels von Daniel Barenboim hervorheben wollen. Doch drei seiner Charakteristika hätten ihn besonders inspiriert: „die unglaubliche Spontaneität des Moments und die Brillanz des Geistes“, aber auch die Fähigkeit zur „großen Schlichtheit, um sich selbst zuzuhören und einen Raum zu geben.“

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