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Alexander Melnikov
Auf Flügeln des Konzertes
Klaviere und Werke von Bach bis Schnittke
Wolfgang Stähr
Die Musik ist beides: flüchtig und für die Ewigkeit gebaut. Kaum ein anderes Werk treibt dieses Paradox dermaßen auf die Spitze wie Johann Sebastian Bachs Chromatische Fantasie und Fuge d-moll BWV 903. Ein Zeitgenosse Bachs, der Hamburger Musiktheoretiker Johann Mattheson, beurteilte die „Fantaisies“ als eine „gewisse Gattung der musicalischen Grillen“ und definierte sie nach ihrem inneren Widerspruch: „Ob nun gleich diese alle das Ansehen haben wollen, als spielte man sie aus dem Stegreife daher, so werden sie doch mehrentheils ordentlich zu Papier gebracht; halten aber so wenig Schrancken und Ordnung, daß man sie schwerlich mit einem andern allgemeinen Nahmen, als guter Einfälle belegen kan.“ Bachs Chromatische Fantasie wäre demnach Simulation und Dokument in einem: Wer sie spielt, erweckt beim Publikum den Anschein, er extemporiere, während er doch genauestens dem Notentext folgt, der exemplarischen Aufzeichnung einer Bachschen Improvisation. Jedenfalls begründete Bach eine „Gattung“ schriftlich fixierter, modellhaft überlieferter und im Unterricht behandelter Musik, die erst in der Generation seiner Söhne aufblühen oder wild wuchern sollte: die „freie Fantasie“ für Klavier, deren Erfolgsgeschichte bis zu Beethoven, Schubert und Liszt reicht. Was sie auszeichnet: metrische Ungebundenheit, frei schweifende Modulationen, Läufe, Passaggi, Arpeggien, Instrumentalrezitative und starke, auf Schmerz und Klage fixierte Affekte – dies und noch mehr findet sich ausnahmslos schon in Bachs prototypischer Fantasie. Da eine Entstehungszeit im oder um das Jahr 1720 angenommen wird, ist viel darüber spekuliert worden, ob Bach die Fantasie als „Tombeau“ auf den Tod seiner ersten Frau Maria Barbara komponiert habe (wie später Carl Philipp Emanuel Bach Fantasien zum Gedenken an seinen Vater und seinen Bruder Wilhelm Friedemann schuf). Und könnte die Fuge danach als Remedium, Rückkehr in die Ordnung und Akt der Trauerarbeit verstanden werden?
Zwischenfrage: Von welchem „Klavier“ ist hier eigentlich die Rede? Der Name Klavier – oder in der zeitgenössischen Orthographie „Clavier“ (vom mittellateinischen clavis, „Taste“) – bezeichnete, als Johann Sebastian Bach lebte und wirkte, rundweg alle besaiteten Tasteninstrumente, sei es ein Cembalo, Clavichord, Spinett, Virginal, Lautenklavier oder später das Hammerklavier, ja selbst die Orgel konnte mit diesem Sammelbegriff gemeint sein – man denke etwa an den dritten Teil der Bachschen Clavierübung, der fast exklusiv aus Orgelmusik besteht. Der Grund für diese vereinheitlichende Terminologie lag in der Ausbildungs- und Berufspraxis, die noch keine Trennung von Organisten und „Pianisten“ kannte. Wer bei einem Organisten in die Lehre ging, erlernte das gesamte Spektrum der „Claviere“. Aber ein Organist musste damals ohnehin auch die anderen Tasteninstrumente beherrschen: Als städtischer Bediensteter sollte er bei festlichen Zeremonien des Rates mitwirken und am Cembalo gemeinsam mit den Stadtpfeifern musizieren; und dass ein Hoforganist auch in der fürstlichen Kapelle und der höfischen Kammermusik als Continuospieler am „Flügel“ benötigt wurde, wissen wir von Johann Sebastian Bach in Weimar.
Fragmente und Seelendramen
Dort wurde vor 305 Jahren, am 8. März 1714, Carl Philipp Emanuel Bach geboren, als zweitältester (überlebender) Sohn des nachmaligen Thomaskantors Johann Sebastian Bach. „In der Komposition und im Clavierspielen habe ich nie einen andern Lehrmeister gehabt, als meinen Vater“, berichtete Emanuel, der 30 Jahre als Hofcembalist in der königlich-preußischen Kapelle Friedrichs des Großen spielte und weitere 20 Jahre als städtischer Musikdirektor der fünf Hauptkirchen und Kantor am Johanneum in Hamburg wirkte. Zum Vorboten und Pionier einer neuen Epoche der Musik aber wurde C. P. E. Bach durch die hemmungslose Subjektivität seiner Improvisationen und Kompositionen. Stundenlang konnte er wie in Trance am Klavier sitzen und seinen wechselnden Stimmungen nachspüren, impulsiv und traumverloren. Eines seiner letzten Werke, eine Fantasie in fis-moll aus dem Jahr 1787, überschrieb er mit dem Titel „C. P. E. Bachs Empfindungen“. „Mich deucht, die Musik müsse vornemlich das Herz rühren, und dahin bringt es ein Clavierspieler nie durch blosses Poltern, Trommeln und Harpeggiren, wenigstens bey mir nicht“, bekräftigte Bach.
Und die zeitgenössischen Musiker folgten ihrem Idol, dem „Originalkomponisten“ C. P. E. Bach, selbst die berühmtesten Kollegen – auch Wolfgang Amadeus Mozart, der ihm mit seiner Fantasie in c-moll KV 396 nachzueifern scheint. Doch geht weder die Werkbezeichnung noch die Tempoangabe „Adagio“ auf Mozart selbst zurück, ja das Stück erweist sich ohnehin zu einem beträchtlichen Teil als die Arbeit eines anderen Komponisten, des Österreichers Maximilian Stadler, der als Nachlassverwalter und musikalische Autorität Mozarts Witwe mit Rat und Tat zur Seite stand. Seine „Fortsetzungsgeschichte“, die c-moll-Fantasie, publizierte er 1802 in Wien mit einer Widmung an Constanze Mozart. Das autographe Fragment, das er um Durchführung und Reprise zu einem Sonatensatz ausbaute, umfasst nur 27 Takte (die Exposition), deren letzte fünf ebenso überraschend wie überflüssig um eine Geigenstimme aufgestockt sind. Wollte Mozart möglicherweise (wie Emanuel Bach bei der Zweitfassung seiner fis-moll-Fantasie) ein Klavierwerk nachträglich zum Klavier-Violin-Duo umfunktionieren? Maximilian Stadler jedenfalls verzichtete auf die Geigentakte und veröffentlichte den Satz in jener rein pianistischen Auslegung, in der er sich auch im aktiven Repertoire etablieren konnte. Wann Mozart das Fragment der c-moll- Fantasie begann und beiseitelegte, ist völlig ungewiss: wahrscheinlich in Wien, vielleicht 1782.
1784, so viel steht fest, in einem schier unfassbar schaffensreichen Jahr, vollendete Mozart in Wien die Sonate c-moll KV 457. Nicht alle Musik, die er für Tasteninstrumente schuf, ist von Grund auf pianistisch erfunden. Diese Sonate vor allem sprengt die Grenzen der Gattung. Sie verzehrt sich geradezu in leidenschaftlichem Feuer und dramatischer Energie. Doch damit nicht genug. Im Mai 1785 komponierte Mozart noch eine c-moll-Fantasie für Klavier KV 475, die er der Sonate voranstellte: Beide erschienen zusammen im Wiener Verlag Artaria als „Fantaisie et Sonate Pour le Forte-Piano [...] Oeuvre XI“. Trotzdem herrscht unter Pianisten keineswegs unwidersprochen die Ansicht, man müsse diese Kompositionen untrennbar als Einheit auffassen und aufführen. Artur Schnabel etwa, Edwin Fischer oder Alfred Brendel waren vielmehr der Meinung, die Sonate werde von der vorangehenden Fantasie erdrückt und in ihrer Wirkung gemindert. Und wirklich – bei allem Für und Wider der Argumente – kommt allein schon das Erlebnis der Fantasie mit ihren unberechenbaren Wechselfällen der kontrastierenden Tempi, der Takt- und Tonarten, ihren widerstreitenden, bis zum Extrem getriebenen Affekten dem Besuch einer abendfüllenden Oper gleich. Stünde nichts anderes auf dem heutigen Programm als Mozarts c-moll- Fantasie, wäre der Klavierabend zwar kurz, sozusagen „früh vollendet“, aber so gehaltvoll, wie ein Konzert überhaupt nur vorstellbar ist. Ein Seelendrama in 176 Takten.
Quasi una Fantasia
1829 unternahm der junge Felix Mendelssohn eine Reise nach Schottland, eine literarische Pilgerfahrt auf den Spuren von Sir Walter Scott, Ossian und der „Ancient Poetry“, zu den Originalschauplätzen der historischen Romane, sagenhaften Epen und altschottischen Balladen. Diese Unternehmung sollte, mittelbar zumindest, in die Musikgeschichte eingehen, da zwei Kompositionen Mendelssohns hier ihren Anfang nahmen: die „Schottische“ Symphonie und die Hebriden-Ouvertüre. Nicht ganz so berühmt und vielleicht auch etwas weniger „schottisch“ fiel hingegen die „Sonate écossaise“ für Klavier aus, deren Entstehungszeit – vor, während oder nach der Reise in die Highlands? – passend zur schottischen Landschaft im Nebel liegt. Als das Werk schließlich 1834 ans Tageslicht kam, unter der Opuszahl 28, hatte es Mendelssohn von der Sonate in eine Fantasie umgetauft und sich damit bewusst (und selbstbewusst) in die Nachfolge der „Sonata quasi una Fantasia“ gestellt, einer Hybridform, die Beethoven mit seinen beiden Klaviersonaten op. 27 erprobt hatte. In Mendelssohns Écossaise überspielt der rhapsodische Gestus der freien Fantasie die Leitlinien der Sonatenform, verstanden als Satzmodell und Zyklus. Der Anschein der Improvisation lenkt die Aufmerksamkeit, jedenfalls beim ersten Hören, fort von der motivisch-thematischen Feinarbeit, die in und zwischen den Sätzen waltet, um stattdessen romantische Vorstellungen von keltischen Barden und mythischen Sängern wachzurufen. Aber wie „schottisch“ klingt sie nun, die Fantasie- Sonate? Folkloristische, genrehafte oder balladeske Züge lassen sich leicht hineininterpretieren in diese Musik, und doch traf Mendelssohns Schwester Fanny wohl ins Schwarze, als sie sagte, dieses Stück sei zuallererst typisch „à la Felix“.
Höllisches Spektakel
Die Erfolgsgeschichte des Pianoforte nahm mittlerweile ihren Lauf, unaufhaltsam. Das höfische Cembalo und das häusliche Clavichord gehörten bald der Vergangenheit an, der Hammerflügel eroberte die neue Zeit, die Ära der transzendentalen Virtuosität. Der technische Fortschritt erschloss dem Instrument einen unerhörten Ausdrucksradius: Durch die Repetitionsmechanik mit doppelter Auslösung, durch vielfach vergrößerte Hammerköpfe, ungleich stärker gespannte Saiten und die Bauweise mit gusseisernem Rahmen wandelte sich das Clavier des 18. Jahrhunderts grundlegend zum modernen Konzertflügel mit allen Vorzügen der Genauigkeit, Zuverlässigkeit und saalfüllenden Lautstärke. Doch wurden diese Eigenschaften bald auch als Nachteil empfunden und in deutlich kulturkritischer Absicht beklagt. Nach einem Auftritt des sagenumwobenen Alexander Dreyschock, des „Hannibal der Oktaven“, in Paris prägte Heinrich Heine den Kalauer: „Er macht einen höllischen Spektakel. Man glaubt nicht einen Pianisten Dreyschock, sondern drei Schock Pianisten zu hören.“ Ohnehin war Heinrich Heine überzeugt, in den „Triumphzügen der Klaviervirtuosen“ den erschreckenden „Sieg des Maschinenwesens über den Geist“ erkennen zu müssen: „Die technische Fertigkeit, die Präzision eines Automaten, das Identifizieren mit dem besaiteten Holze, die tönende Instrumentwerdung des Menschen, wird jetzt als das Höchste gepriesen und gefeiert.“
Doch es gab eine Ausnahmeerscheinung: „Bei Chopin vergesse ich ganz die Meisterschaft des Klavierspiels, und versinke in die süßen Abgründe seiner Musik“, schwärmte Heine, der dem polnischen Komponisten im gemeinsamen Pariser Exil begegnet war. Frédéric Chopin „ist nicht bloß Virtuose, er ist auch Poet, er kann uns die Poesie, die in seiner Seele lebt, zur Anschauung bringen, er ist Tondichter, und nichts gleicht dem Genuss, den er uns verschafft, wenn er am Klavier sitzt und improvisiert“. Aber täuschen wir uns nicht: Chopins ausgefeilte und streng geprüfte Klavierwerke wurden mitnichten aus dem Moment geboren, sie wurden nicht in einsamer Nacht erdacht, mit entrücktem Blick und verklärten Zügen, die Kerzen sind erloschen, bleiches Mondlicht scheint durch das Fenster, ein kühler Windstoß bauscht die Vorhänge … Ohnehin sollten wir uns hüten, Chopins Kompositionen allesamt und ausnahmslos zu durchscheinenden Pianissimo-Preziosen zu erklären, zu nächt lichen Séancen, zu fragilen Objekten einer musika lischen Porzellankunst. Frédéric Chopin gewann auch der umgrenztesten Form ungeahnte Monumentalität und packende Theatralik ab, namentlich in seiner 1841 entstandenen Fantasie f-moll op. 49, die gewiss nicht das Bild eines Komponisten verewigt, der mit zarten Händen sacht über die Tasten streicht. Chopins Fantasie ist alles in einem: große Oper, Freiluftkonzert, Zeremonie, Triumphund Trauermarsch, gebannt in die doppelt bis dreifach begründete Form eines Sonatensatzes mit langsamer Introduktion und Coda in der Art eines mit Variationen unterlegten Rondos.
Überwältigend, ja, aber Alexander Skrjabin spielt sie alle in Grund und Boden mit seiner apokalyptischen Fantasie h-moll op. 28, die er an der Wende zum 20. Jahrhundert schuf. Das Merkwürdige ist nur – er spielte sie überhaupt nicht, er vergaß sie gleich wieder. Als ihm Jahre später ein Freund dieses höllische Spektakel am Flügel vorführte, fragte er irritiert: „Was ist das? Klingt irgendwie ein wenig bekannt.“ Dieses Werk des russischen Klavierpropheten und messianischen Künstlers verlangt (und verschlingt) zweifellos „drei Schock Pianisten“. Freilich war Skrjabin gar kein Freund akustischer Gewaltakte. Als Ideal rühmte er vielmehr eine subtile „Nerventechnik“ – im Gegensatz zu der verhassten „materialistischen“ Kraftmeierei. Auch das stärkste Forte sollte noch weich tönend ans Ohr dringen. „Dieser Akkord muss klingen wie der Ruf eines glücklichen Sieges, nicht wie eine niederstürzende Kommode!“, predigte er seinen Schülern: „Liebevoll“ sollten sie die Tasten berühren.
Chaotisches Glockengeläut
Für Klavierschüler am großen Tor zur weiten musikalischen Welt, genauer gesagt, für die Teilnehmer des Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerbs schrieb Alfred Schnittke 1965 im Auftrag des sowjetischen Kulturministeriums seine Improvisation und Fuge: ein widerborstiges Stück, ein hintersinniger dodekaphoner Schocker (den übrigens kein einziger der Wettbewerbsteilnehmer zu spielen wagte). Die zwölf Töne werden am Anfang der Reihe nach und zugleich in gemeißelten Akkorden und brutalen Clustern angeschlagen. Die nicht übertrieben seriöse Fuge stellt danach das Spinnenbeinartige der Zwölftonthemen mit ihren Inter vallsprüngen heraus, klingt aber auch nach Bartóks „stile barbaro“ und den perkussiven Klavierattacken der „roaring Twenties“, als die Dodekaphonie noch eine neue, unerhörte Sache war (die sie in der Sowjetunion bis zu deren kläglichem Ende blieb). Für den Abgang wünschte sich Schnittke einen Klang wie „chaotisches Glockengeläut“, eine „Zerschlagung des Materials“. Gemeint ist das musikalische. Die Überlebenschancen des Konzertflügels – wir sind beim Steinway angekommen – stehen nicht schlecht.