Auf Flügeln des Konzertes Klaviere und Werke von Bach bis Schnittke
Wo l f g a n g S t ä h r
Die Musik ist beides: flüchtig und für die Ewigkeit gebaut. Kaum ein anderes Werk treibt dieses Paradox dermaßen auf die Spitze wie Johann Sebastian Bachs Chromatische Fantasie und Fuge d-moll BWV 903. Ein Zeitgenosse Bachs, der Hamburger Musiktheoretiker Johann Mattheson, beurteilte die „Fantaisies“ als eine „gewisse Gattung der musicalischen Grillen“ und definierte sie nach ihrem inneren Widerspruch: „Ob nun gleich diese alle das Ansehen haben wollen, als spielte man sie aus dem Stegreife daher, so werden sie doch mehrentheils ordentlich zu Papier gebracht; halten aber so wenig Schrancken und Ordnung, daß man sie schwerlich mit einem andern allgemeinen Nahmen, als guter Einfälle belegen kan.“ Bachs Chromatische Fantasie wäre demnach Simulation und Dokument in einem: Wer sie spielt, erweckt beim Publikum den Anschein, er extemporiere, während er doch genauestens dem Notentext folgt, der exemplarischen Aufzeichnung einer Bachschen Improvisation. Jedenfalls begründete Bach eine „Gattung“ schriftlich fixierter, modellhaft überlieferter und im Unterricht behandelter Musik, die erst in der Generation seiner Söhne aufblühen oder wild wuchern sollte: die „freie Fantasie“ für Klavier, deren Erfolgsgeschichte bis zu Beethoven, Schubert und Liszt reicht. Was sie auszeichnet: metrische Ungebundenheit, frei schweifende Modulationen, Läufe, Passaggi, Arpeggien, Instrumentalrezitative und starke, auf Schmerz und Klage fixierte Affekte – dies und noch mehr findet sich ausnahmslos schon in Bachs prototypischer Fantasie. Da eine Entstehungszeit im oder um das Jahr 1720 angenommen wird, ist viel darüber spekuliert worden, ob Bach die Fantasie als „Tombeau“ auf den Tod seiner ersten Frau Maria Barbara komponiert habe (wie später Carl Philipp Emanuel Bach Fantasien zum Gedenken an seinen Vater und seinen Bruder Wilhelm Friedemann schuf). Und könnte die Fuge 6