7 minute read

Pisaroni & Martineau

Freunde und Idole

Schubert-Lieder nach Goethe und anderen

Antje Reineke

Franz von Schlechta, Franz von Schober, Franz von Bruchmann und Matthäus von Collin, Johann Gabriel Seidl und Jakob Nikolaus Craigher de Jachelutta – viele der Dichter, die uns in der ersten Hälfte des heutigen Konzertabends begegnen, stammen aus Franz Schuberts weitläufigem Freundes- und Bekanntenkreis, und ihre Namen sind uns nur noch dank seiner Lieder ein Begriff. Schlechta etwa war Schubert schon seit Schülertagen verbunden, als beide, fast gleichaltrig, im Wiener Stadtkonvikt lebten. Von Beruf Jurist und Beamter, betätigte er sich auch als Journalist und engagierte sich in dieser Funktion für seinen Freund. Sieben seiner Gedichte setzte Schubert in Musik, darunter die beliebte Fischerweise und Des Sängers Habe. Ein Gegensatzpaar: lebenszugewandt das eine, von Weltschmerz erfüllt das andere. Mit ihrer einprägsamen Melodie, lebhaften Bewegung und wellenartigen Klavierfiguren entspricht die Fischerweise ganz der heiteren Unbekümmertheit ihres Protagonisten. Erst die Hirtin, die in der letzten Strophe ins Spiel kommt, bringt den jungen Mann auch rhythmisch durcheinander. Des Sängers Habe dagegen verbindet Künstler- und Todesthematik und ist voller Kontraste: energische Entschlossenheit – melodisch unruhig in punktiertem Rhythmus und harmonisch spannungsreich – wechselt mit lyrischen Momenten beim tröstlichen Gedanken an die Musik. Der Tod ist mit symbolisch absteigenden Linien assoziiert. Der Totentanz am Ende – sehr leise, die Singstimme oft auf Tonwiederholungen zurückgenommen – bleibt ein nächtlicher Spuk; der Blick richtet sich nicht ins Jenseits.

Auch Schobers Schatzgräber verfolgt unbeirrt ein selbstgestecktes Ziel, und dieses „rastlose“ Tun verdeutlicht eine barock anmutende, unruhig geführte Basslinie, die vor allem zu Beginn wieder symbolisch abwärts führt. Schober zählte seit 1815 zu den engsten Freunden des Komponisten. Er wird als lebensfroher, hedonistischer Mensch beschrieben, der sich nach einem abgebrochenen Jurastudium als Dichter, Librettist (Schuberts Alfonso und Estrella), Schauspieler und Zeichner versuchte und der literarischen Romantik zugeneigt war. Über die Jahre teilten die beiden Freunde mehrfach eine Wohnung, zuletzt von Februar 1827 bis September 1828, kurz vor Schuberts Tod.

Seine Freundeskreise, deren Anfänge wie im Fall von Schlechta bis in die Jugend zurückreichen, waren für das Leben und die musikalische Laufbahn Schuberts von entscheidender Bedeutung. Die verschiedenen Gruppen, denen er angehörte und deren Zusammensetzung sich über die Jahre immer wieder änderte, hatten durchaus unterschiedliche Ausrichtungen. Gemeinsam aber war allen die Liebe zur Kunst – wobei weniger die Musik als Literatur und Philosophie im Mittelpunkt standen. Überhaupt finden sich unter Schuberts Weggefährten mehr Dichter und Maler als Musiker. Die Gedichte, die er vertonte, reflektieren, was im Freundeskreis gelesen und diskutiert wurde. Er sei überzeugt, bemerkte Schuberts langjähriger Freund Joseph von Spaun, „dass das Zusammenleben mit diesem Kreise für Schubert viel vorteilhafter gewesen sei, als wenn er in einem Kreise von Musikern […] gelebt hätte“.

Ein großer Teil dieser Freunde entstammte der bildungsbürgerlichen Mittelschicht oder dem Kleinadel; viele arbeiteten als Regierungs- oder Verwaltungsbeamte. Damit öffneten sich Schubert in gesellschaftlicher Hinsicht Türen, die ihm als Sohn eines Grundschulleiters nicht unbedingt offengestanden hätten. Einige Freunde unterstützten ihn zudem bei seinen Bemühungen um Veröffentlichungen – auch finanziell, denn die ersten Publikationen, eine Reihe von Liederheften, erschienen auf eigene Rechnung. Andere, wie etwa Collin, organisierten private Konzerte seiner Werke, um ihn in der Wiener Gesellschaft bekanntzumachen.

Die Lieder der ersten Konzerthälfte entstanden allesamt in den 1820er Jahren und sind typisch für die Restauration, die Zeit nach dem Wiener Kongress zwischen 1815 und 1830 also, in der ein ausgesprochen repressives politisches Klima herrschte. Die „bedeutende geistige Erhebung“ der deutschen Befreiungskämpfe, wie Schuberts Freund Johann Chrisostomus Senn formulierte, war der Obrigkeit suspekt. Schubert hatte 1820 miterlebt, wie Senn verhaftet wurde. Der ebenfalls bei der Festnahme anwesende Bruchmann, der seit dem Frühjahr 1819 zum engeren Freundeskreis zählte, geriet drei Jahre später seinerseits in Schwierigkeiten: Er hatte in Erlangen Vorlesungen von Friedrich Wilhelm Schelling gehört, obwohl es österreichischen Studenten verboten war, an deutschen Universitäten zu studieren.

An die Leier, Bruchmanns Nachdichtung eines anonymen Gedichts aus der Anakreon-Nachfolge, lässt sich vor diesem Hintergrund als Ausdruck der „politischen Schlafsucht“ der Epoche lesen. Die bei Schubert in einem dramatischen Rezitativ ansetzenden, von vollen, martialisch punktierten Akkorden begleiteten Heldengesänge weichen zum Leidwesen des Sängers unweigerlich der lyrischen Schlichtheit von Liebesliedern. „Barden, die nur noch von Liebe und nicht von Heldentaten singen, sind auch Sinnbilder für die Paralyse der Kriegsfreiwilligengeneration und für die zwiespältigen Gefühle, die mit dem Rückzug auf die elysischen Felder der Poesie verbunden waren“, schreibt der Germanist und Kritiker Michael Kohlhäufl. (Eine andere Lesart des Gedichts verweist mit Blick auf homophile Tendenzen im Freundeskreis auf das im Geschlecht unbestimmte Objekt dieser Liebe.)

Inhaltlich schließen hier Lied eines Kriegers – das ursprünglich im Wechsel zwischen Solobass und einstimmigem Männerchor gestaltet ist – sowie Lied des gefangenen Jägers aus Walter Scotts The Lady of the Lake an. Bei dem Jäger handelt es sich um Malcolm Graeme, einen jungen Clanchef und den Geliebten der Titelheldin Ellen Douglas. Scotts Epos endet glücklich für das Paar. Malcolms Lied, dessen Polonaisenrhythmus seine innere Unruhe vermittelt und zugleich Reminiszenz an sein vergangenes aktives Leben ist, vermag auf diesen Ausgang jedoch noch nicht zu hoffen. Es endet verlöschend in Moll. In Scotts seinerzeit beliebte Geschichte sind 14 Lieder eingeflochten, von denen Schubert 1825 sieben vertonte (darunter auch Ellens Gesang III, nach seinem Text besser bekannt als „Ave Maria“).

Themen wie die Sinnlosigkeit menschlichen Strebens, soziale Isolation und Tod bestimmen den ersten Programmteil. Vor allem sind es die bitteren Töne des Weltschmerzes, die uns schon bei Schlechta und Schober begegnen und die auch Im Jänner 1817 nach einem Gedicht des Norddeutschen Ernst Schulze (1789–1817) sowie Craighers Totengräbers Heimwehe prägen. Beginnend in absoluter Trostlosigkeit, richtet dieses letztgenannte Lied als einziges den Blick zuversichtlich ins Jenseits. Erneut verwendet Schubert hier die Symbolik von absteigenden Linien und Sprüngen als Ausdruck für Tod und Grab, während Aufwärtsbewegungen für das Ziel der Ewigkeit stehen – zuletzt noch im weiten Tonraum des Nachspiels.

Düster und illusionslos präsentiert sich auch Collins Geschichte vom Zwerg. Durch Tremolofiguren mit einer leichten Wellenbewegung schafft Schubert eine musikalische Analogie zu den unscharfen Konturen über dem dämmrigen See, während ein an Ruderschläge erinnerndes Motiv aus drei kurzen und einer längeren Note die Bewegung vorantreibt. Es scheint gleichzeitig auch das Schicksalhafte der Ereignisse zu symbolisieren, eine Assoziation, die – ob beabsichtigt oder zufällig – durch die Ähnlichkeit mit dem berühmten Hauptmotiv aus Beethovens Fünfter Sinfonie noch verstärkt wird.

Versöhnlichere Töne schlägt der damals populäre Wiener Schriftsteller Johann Gabriel Seidl mit Am Fenster an. Einer vergangenen Zeit bitterer Einsamkeit und Verzweiflung stellt er eine Gegenwart gegenüber, in der das Band der Freundschaft den Menschen auch bei räumlicher Trennung Halt bietet. Das Gedicht ist insofern typisch für das literarische Biedermeier, das dem Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit mit einem Rückzug ins Private und der Betonung des Positiven begegnete. In Der Einsame sieht der pommersche Dichter Karl Lappe die Idylle des eigenen Heims gar als Schutz vor „dem Schwarm der lauten Welt“ – wenngleich die in Schuberts leichter, heiterer Gestaltung zur Schau getragene Zufriedenheit in Details wie der Betonung von „Schweigen“ und „ganz allein“ zuletzt doch feine Risse erhält.

Schuberts Drei Gesänge für Bassstimme D 902 von 1827 sind dem bekannten Sänger Luigi Lablache gewidmet, der während seiner langen Laufbahn in Uraufführungen von Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi mitwirkte. Seine Karriere führte ihn quer durch Europa, und 1823 und 1827 auch ans Kärtnertortheater in Wien. Lablache war mit ernsten wie komischen Partien erfolgreich, und entsprechend kombiniert Schubert zwei Texte von Pietro Metastasio – aus der Opera seria Attilio Regolo und dem Oratorium Gioas re di Giuda – mit einem aus einer unbekannten Opera buffa (zu Schuberts Lebzeiten ebenfalls Metastasio zugeschrieben). Der 1698 in Rom geborene Dichter gilt als die herausragende Persönlichkeit der Opera seria des 18. Jahrhunderts, und seine Werke wurden von allen bedeutenden Komponisten seiner Zeit und bis ins 19. Jahrhundert hinein vertont. Am Ideal des griechischen Dramas orientiert, ist seine Sprache einfach, geradlinig und knapp, dazu immer mit Blick auf die musikalische Umsetzung konzipiert. Schubert wählte für seine ausgesprochen virtuosen Metastasio-Vertonungen die traditionelle, zu seiner Zeit bereits aus der Mode gekommene Da-capo-Form, in der der Anfangsteil am Ende verändert wiederkehrt. Der Affektgehalt ist gegensätzlich, um ganz unterschiedliche darstellerische Facetten des Sängers herauszustellen: L’incanto degli occhi spricht von Liebe, Il traditor deluso von Angst und Verzweiflung.

Metastasio wirkte von 1730 bis zu seinem Tod im Jahr 1782 als kaiserlicher Hofdichter in Wien, wo er auch dem jungen Antonio Salieri Deklamationsunterricht gab. Salieri seinerseits war Schuberts Kompositionslehrer. Die Vertonung von Metastasios Pensa che questo istante entstand 1813 vermutlich als „Hausaufgabe“ des 16-jährigen Komponisten.

Kein Dichter hat Schubert intensiver beschäftigt als Johann Wolfgang von Goethe, den er im Oktober 1814 für sich entdeckte. Wie „Feuerfunken“ seien Goethes Gedichte in Schuberts Seele gefallen, erinnert sich sein Freund Eduard von Bauernfeld, hätten „aber auch darin etwas“ angetroffen, „was Feuer fing. […] Wahrlich, der beste Eindruck, den ein Kunstwerk hervorbringen kann, ist – wieder ein Kunstwerk“. Insgesamt 75 Sololieder Schuberts basieren auf Texten Goethes, einige davon, wie z.B. Am Flusse, vertonte er sogar mehrfach. In seiner thematischen und formalen Vielfalt, von der bereits die knappe Auswahl des heutigen Abends zeugt, war Goethes Werk nicht allein für den jungen Schubert, sondern für viele Liedkomponisten des 19. Jahrhunderts ein unendlicher Quell der Inspiration.

In Schäfers Klagelied, komponiert im November 1814, schlüpft der Sänger in die allseits beliebte Rolle des einfachen, naturverbundenen Menschen. Goethe schrieb das Gedicht auf eine Volksliedmelodie, und entsprechend ist der Charakter des Textes. Schubert dagegen gestaltet jede Strophe individuell und entwirft so ein psychologisch stimmiges Portrait. Schon die erste, durchaus idyllische Strophe nimmt durch ihren Mollcharakter die Klage des Titels auf. In der zweiten wird der letzte Vers von den vorigen abgerückt, um die Verwirrung des Schäfers zu unterstreichen. Die Bewegung der Klavierfiguren nimmt allmählich zu, bis sich in der vierten Strophe das Gewitter in rasch repetierten Akkorden entlädt. Kontrastierend dazu gestaltet Schubert die emotionale Wirkung verlorener Liebe. Die letzten Strophen greifen musikalisch auf die ersten zwei zurück – der Schäfer scheint in einem ewigen Kreislauf des Verlustschmerzes gefangen.

Der Beginn des Gedichts Geheimes, das dem West-östlichen Divan entnommen ist, lehnt sich formal an die arabische Form des Ghasel an. Ganymed dagegen ist eine Hymne in freien Rhythmen, metrisch ungebunden und statt in Strophen in Abschnitte ganz unterschiedlicher Länge gegliedert. Schubert vertonte den Text 1817 zu einer Zeit, als er vermehrt Themen aus der Antike wählte. Das inhaltlich verwandte Grenzen der Menschheit, das Goethe mit Ganymed und Prometheus zusammenstellte, folgte 1821. Wie Ganymed von der Naturbetrachtung des Anfangs zur pantheistischen Vereinigung des Jünglings mit dem „alliebenden Vater“ Zeus fortschreitet, so ist auch die Komposition linear angelegt, folgt mit einer Reihe von Wechseln des Bewegungscharakters den verschiedenen Stationen des Textes und endet in einer anderen Tonart als es begonnen hat. Dabei gliedert Schubert mitunter anders als Goethe. So fasst er die Verse „Daß ich dich fassen möcht’ / In diesen Arm!“ mit dem Beginn des folgenden Abschnitts, „Ach, an deinem Busen / Lieg’ ich“, zusammen: beides Bilder körperlicher Nähe. Der Ausruf „Ach“ wird dadurch freilich zur Nebensache. Stattdessen setzt Schubert eine Zäsur, bevor er sich – auch tonmalerisch – Morgenwind und Nachtigall zuwendet.

Als Lyrik im Sinne eines unmittelbaren, subjektiven Gefühlsausdrucks oder Stimmungsbilds begegnen uns die Gedichte Am Flusse und Auf dem See, beides Werke des jungen Goethe. Letzteres verdankt seine Inspiration einer Fahrt auf dem Zürichsee im Jahr 1775. Das stimmungsvolle Naturbild beginnt als Ausdruck spontanen persönlichen Erlebens, wendet sich im kürzeren zweiten Abschnitt der Vergangenheit zu und kehrt schließlich mit einer bildhaften, weniger unmittelbaren Betrachtung in die Gegenwart zurück.

Der Text des Erlkönig – vielleicht Schuberts bekanntestes Lied – wurde durch eine dänische Volksballade angeregt und entstammt ursprünglich Goethes Singspiel Die Fischerin. (Der „ellerkonge“ des Originals ist der Elfenkönig, der Bezug auf die Erle beruht auf einer Verwechslung.) Die beiden äußeren, erzählenden Strophen rahmen das Drama, das sich im Dialog entspinnt. Die Beteiligten sind dabei in ihrer musikalischen Ausdrucksweise klar unterschieden, und es wiederholt sich mehrfach dasselbe Schema: Dreimal spricht der Sohn vom Erlkönig und der Vater gibt eine natürliche Erklärung. Dreimal spricht der Erlkönig und das Kind reagiert mit einem Angstschrei, bis seine Furcht auf den Vater übergreift und er keine Beruhigung mehr anbieten kann. Der Klavierpart aus rasch repetierten Oktaven und aufwärtsfahrenden Läufen fungiert dazu als doppelte Formel für den nächtlichen Sturm und das Vorwärtsdrängen des Reiters wie für die emotionale Dimension allmählich zur Panik gesteigerter Angst. Die Verführungskraft des Erlkönigs liegt in den sanften, Ruhe verheißenden Tönen, die er dieser Szene entgegensetzt.

Interessanterweise ist mindestens eine Gelegenheit bezeugt, bei der Schubert (der selbst über eine Gesangsausbildung verfügte) und sein Freund Albert Stadler die Ballade mit verteilten Rollen aufführten. Schubert verkörperte den Vater. Es sei, berichtet Stadler, ein „Versuch (natürlich nur unter uns)“ von „eigentümlicher Wirkung“ gewesen.

This article is from: