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Boulez Ensemble XVIII
Echos und Nachklänge
Werke von Janaček, Brahms und Kareem Roustom
Kerstin Schüssler-Bach
Klingende Naturphilosophie: Janáčeks Concertino
Was für ein merkwürdiger Beginn: Ganz allein spielt das Klavier in stampfenden Vierteln ein tonleiterartiges Motiv, das durch die Einfügung chromatischer Schritte aber doch nicht simpel klingt. Eine Achtelschleife, dann ein Quintfall. Das Ganze dreimal störrisch wiederholt, nur vom Horn unterbrochen, das die Achtelschleife wie einen fernen Ruf aufnimmt. Dieser hartnäckige Anlauf wird fortgesetzt, bis sich die Motivik endlich in einem lyrischen Feld auflöst. Leoš Janáček, der große Individualist aus Mähren, gibt seinem 1925 entstandenen Concertino eine höchst eigenwillige Färbung. Das Klavier steht im Mittelpunkt, doch jeder Satz stellt ihm eine andere Instrumentenkombination zur Seite. Typisch für Janáček sind die kurzgliedrigen Motive, die der Sprache abgelauscht scheinen. Seine lebenslange Bemühung um die exakte rhythmische und melodische Wiedergabe der tschechischen Sprache gipfelte in seinen Opern. Janáček notierte auf seinen Spaziergängen aber auch den Gesang der Vögel, das Schlagen der Wellen, das Rauschen des Windes: für ihn war dies die „Musik des Lebens“, und sie floss in seine Werke ein als Stimme der Natur.
Nur ein Jahr vor dem Concertino erlebte seine Oper Das schlaue Füchslein ihre Uraufführung – eine pantheistische Feier des göttlichen Funkens in allen Lebewesen. Diese naturphilosophischen Gedanken führte Janáček im Concertino fort, und obwohl seine Erläuterungen nicht als Hinweis auf Programmmusik missverstanden werden sollten, sind sie in ihrer Plastizität doch zum hörenden Verfolgen dieses Stücks hilfreich (das ursprünglich als Klavierkonzert konzipiert wurde und den Titel „Frühling“ tragen sollte). Den ungewöhnlichen ersten Satz nebst bockigem „Anlauf-Motiv“ bringt Janáček mit dem zornigen Verdruss eines Igels in Verbindung, der einst von ihm daran gehindert wurde, sein weiches Nest an einem Baum aufzusuchen. Für die Triller und aphoristischen Tanz-Motive der Klarinette im zweiten Satz erinnerte sich Janáček an ein geschwätziges Eichhörnchen, das nun im Käfig eingesperrt sei und „den Kindern zum Spaß“ tanze. Im rasenden Accelerando von Klarinette und Klavier kommen endlich die übrigen Instrumente hinzu.
Alle Musiker sind dann auch im dritten Satz beteiligt. Nach akkordischen Spreizungen schlägt das Klavier sanftere, arpeggio-artige Töne an, in einer zauberischen Nachtstimmung, wie sie dem Schlauen Füchslein sehr verwandt ist. Das Klavier verliert sich in einer träumerisch-virtuosen Kadenz. Dann wiederholt sich der bizarre erste Teil, über den Janáček sehr drollig schreibt: „Anmaßend stierten die weit aufgerissenen Augen des Käuzchens, der Eule und des übrigen kritischen Nachtvölkchens in die Saiten des Klaviers.“
Ein der slawischen Volksmusik abgelauschtes Thema bildet den Kern des letzten Satzes, der mit einem prägnanten, auf- und abfahrenden Motiv im Klavier beginnt, begleitet von hitzigen Trillern der Violinen. Sie weiten sich am Schluss zu einem ganzen Trillerfeld, das zu einem dritten Motiv im Klavier erklingt. Nach einem kurzen solistischen Sinnieren treibt das Klavier alle Beteiligten in eine Presto- Coda mit der ausgelassenen Steigerung des Tanzmotivs. „Am Schluss“, so Janáček, „scheint alles um einen Groschen zu zanken wie im Märchen. Und das Klavier? Jemand muss doch alles ordnen.“
Der „ordnende“ Klavierpart war dem tschechischen Pianisten Jan Heřman auf den Leib geschrieben, ein hervorragender Interpret von Janáčeks Klaviersonate 1.X.1905. Doch bei der Uraufführung des Concertino im Februar 1926 in Brno spielte dann die Pianistin und Klavierpädagogin Ilona Štěpánová-Kurzová, die das Werk nach weiteren Aufführungen in Prag und Wien auch im Dezember desselben Jahres in Berlin interpretierte.
Auf den Zauberpfaden des Hörnerschalls: Brahms’ Horntrio
Kein Zufall, dass die Echorufe im ersten Satz von Janáčeks Concertino dem Horn anvertraut sind: Es steht als Instrument, das mit Jagd und Wald assoziiert wird, der Natursphäre besonders nahe. Und so wie es in Janáčeks pantheistischen Kosmos hineinführt, beruft sich Brahms auf den Topos des romantischen Klangs par excellence: das Waldhorn, das mit seinem sehnsuchtsvoll-dunklen Singen in eine ferne Welt lockt (und von Brahms gegenüber dem modernen, voluminöseren Ventilhorn bevorzugt wurde). Ob titelgebend in der Gedichtsammlung Des Knaben Wunderhorn, aus der auch Brahms einige Zeilen vertonte, oder als Signal in den Ouvertüren Carl Maria von Webers, ob als kecker Begleiter von Wagners Siegfried oder als geheimnisvoller Bote in Gestalt von Mahlers Posthorn – der Ruf des Horns bringt den Menschen zurück zur Natur. Dieses „Zurück“ impliziert oft auch eine (leicht wehmütige) Ahnung der Erinnerung, wie sie der 32-jährige Brahms stärker auskostete als der 71-jährige Janáček, obwohl auch dieser sich mit dem Concertino bewusst in „eine jugendliche Stimmung“ versetzte.
Brahms aber stand immer noch am Anfang seiner Karriere, als er 1865 sein Trio für Horn, Violine und Klavier komponierte – noch vor dem Deutschen Requiem, das ihm schließlich zum Durchbruch verhalf. Und wie dort soll er auch im Horntrio eine Erinnerung an seine im Februar 1865 verstorbene Mutter eingeflochten haben, die das Hornspiel ihres Sohnes besonders geliebt hat (Brahms beherrschte neben Cello und Klavier auch dieses Instrument). Max Kalbeck, der erste Brahms-Biograph, vermutet, dass der trauervolle Gestus des Adagio als „eigentliche Totenklage“ zu verstehen sei. Einen entsprechenden Hinweis hat der Komponist selbst allerdings nicht gegeben.
Worum wir mit Sicherheit wissen, ist die Entstehungszeit: Den Sommer 1865 verbrachte Brahms wieder in Lichtental bei Baden-Baden – in der Nähe, aber eben nicht im Haus Clara Schumanns, die sich zwei Jahre zuvor im mondänen Kurort niedergelassen hatte. Brahms wohnte in einem einfachen Quartier des unscheinbaren Vororts, einem Häuschen auf halber Höhe, das die Zeiten überdauert hat und heute als authentische Brahms-Stätte besichtigt werden kann. Dort, umgeben von den sanften Hügeln der Ausläufer des Schwarzwalds, fand er im Mai 1865 an einer Marienkapelle zwischen den Tannen den Anfang seines Horntrios: „Eines Morgens ging ich spazieren und wie ich an diese Stelle kam, brach die Sonne hervor und sofort fiel mir das Thema ein“, berichtete er seinem Komponistenkollegen Albert Dietrich. Diese Naturinvokation mündete in ein seelenvoll-wiegendes, die Tonika Es-Dur seltsam aussparendes Hauptthema, das beantwortet wird von einem schwärmerisch-sehnsüchtigen Seitengedanken – Brahms verbleibt in der Atmosphäre des In-sich-Hineinhorchens auf den Zauberpfaden des Hörnerschalls. Das anschließende Scherzo übt sich in staccato-Munterkeit und Jagdsignal-Motivik, doch der Humor erscheint ein wenig getrübt, vor allem im as-moll-Trio. Im verwandten es-moll steht das schwermütige Adagio, dessen Zwiegesang von Horn und Violine über den elegisch präludierenden, gebrochenen Akkorden des Klaviers besonders stimmungsvoll wirkt. Wie stets bei Brahms sind die einzelnen Sätze motivisch miteinander verbunden, und so greift das kraftvolle Rondo-Finale im flotten Sechsachtel-Rhythmus einen Gesang aus dem Adagio auf. Auch hier mischen sich wieder Jagdsignale dazu, und Kalbeck sah eine Verbindung zu dem niederrheinischen Volkslied Dort in den Weiden steht ein Haus.
Zum Ausklang jener Sommermonate, im September 1865, lernte auch Clara Schumann das „reizende Trio“ kennen. Nach einigen Probedurchläufen fand die öffentliche Uraufführung im November desselben Jahres in Zürich statt, mit Brahms am Klavier, dem Dirigenten und Geiger Friedrich Hegar und dem Hornisten Anton Gläss. Die zauberische Melancholie des Stücks erschloss sich nicht gleich – Clara Schumann notierte: „Die Leute verstanden dieses wahrhaft kühne und äußerst interessante Werk nicht, und dies obwohl der Kopfsatz zum Beispiel sehr reich an einnehmenden Melodien ist, und der Schlusssatz vor Leben strotzt. Auch das Adagio ist wunderschön, doch ist es in der Tat schwer verständlich, wenn man es zum ersten Mal hört.“
Inspiriert von Mozart: Kareem Roustoms Violinkonzert Nr. 1
Im ersten Satz des Konzerts für Violine und Kammerorchester von Kareem Roustom singt das Horn eine expressive Melodie – fast in der Tradition der oben beschriebenen romantischen Sehnsuchtskantilene. Dazu aber spielen die Streicher eine arabische „Sharqi“-Improvisation: kurze, mit Pausen durchsetzte Phrasen, die den Raum zwischen den notierten Tonhöhen ausnutzen, mit „flötenartigem“ Klang verfremdet durch das Spielen am Steg des Instruments. So lässt Roustom die musikalischen Welten, die ihn selbst prägen, miteinander in Dialog treten.
Der syrisch-amerikanische Komponist, 1971 geboren, kam mit seiner Familie schon als Jugendlicher in die USA. Sein aktives Interesse an der Musik wurde durch die Gitarre geweckt, heute tritt er auch als Interpret an der arabischen Laute Oud in Erscheinung. Auch stilistisch kennt Roustom keine Grenzen – er ist sowohl in der klassischen Musik Europas und des Nahen Ostens wie in Kompositionen für Film und Fernsehen zu Hause. Die Liste seiner Auftraggeber reicht vom Lucerne Festival und dem Kronos Quartet über das Philadelphia Orchestra bis zu den Pop-Queens Shakira und Beyoncé.
Roustom verkörpert auf ideale Weise die Idee, die auch hinter der Barenboim-Said Akademie steht: Musikerinnen und Musiker tauschen sich über Kontinente und Landesgrenzen hinweg miteinander aus und gewinnen aus den kulturellen Unterschieden ein gemeinsames künstlerisches Substrat. Daniel Barenboim brachte bereits Roustoms Orchesterwerk Ramal zur Uraufführung, und eine weitere Aufführung in Buenos Aires sorgte 2014 für die Inspiration zum Violinkonzert. In den Proben mit dem West-Eastern Divan Orchestra hörte Roustom nämlich auch der Arbeit an Mozarts Klavierkonzert B-Dur KV 595 zu. In dessen erstem Satz feilte Barenboim an einer chromatischen Phrase in den Violinen, die die arabischen Musiker an den Maqam (die traditionelle Tonskala) „Hijaz“ erinnerte – was eine kurze spontane Improvisation auslöste. Dieses Erlebnis zwischen den musikalischen Welten steht also gewissermaßen Pate für das Violinkonzert, dessen Sätze jeweils auf einem anderen Segment der „Hijaz“-Phrase aus Mozarts Klavierkonzert basieren.
Dass Mozart oder Beethoven es mit der „alla turca“- Musik bei allem Interesse nicht ethnographisch korrekt nahmen – und nehmen konnten –, sieht Roustom als Chance einer liebevollen Korrektur der Eurozentristik: „Auf gewisse Weise teile ich mit ihren Seelen, was ich über diese Kultur und Musik weiß. Ein demütiges ‚danke‘ an sie“, sagt der Komponist.
Schon in dem kurzen, wirbelnden, mit „Intrada“ bezeichneten Eröffnungsabschnitt des ersten Satzes („Fragments“) erinnert das Glissando der Streicher an Musizierpraktiken aus dem arabischen Kulturraum. Sogleich führt Roustom auch den „Sharqi“-Stil ein: die notierten Werte sollen durch breiteres Vibrato und Triller sowie Portamento befreit und belebt werden. Die Solovioline setzt mit einer ausdrucksvollen, lyrischen Melodie ein, deren kleinschrittige Intervalle wiederum auf „orientalisches“ Kolorit verweisen. Mit Figurationen und Doppelgriffen kommt das spielerischvirtuose Moment dazu. Einem energischen, wuchtigen Abschnitt folgt ein „doloroso“-Kommentar der Violine, die wieder die zarten Ornamente aufnimmt und das Orchester mehr und mehr antreibt. Ein arabisches „Angebot“ an Mozart nennt Roustom die „Hijaz“-ähnliche Phrase aus Mozarts Klavierkonzert, die – um eine Quinte nach oben transponiert – das melodische und harmonische Herzstück bildet. Zudem orientiert sich die rhythmische Struktur des ersten Satzes am türkischen Neunachtel-Rhythmus „Aqsaq“.
Zum zweiten, mit „Hymn“ überschriebenen Satz wurde Roustom angeregt durch eine Aufnahme mit Musik syrischorthodoxer Christen aus der Stadt Sednaya, nördlich von Damaskus. Dort befinden sich berühmte Klöster, die er mit seiner Familie einst besuchte, aber auch ein berüchtigtes Militärgefängnis, in dem das Assad-Regime Tausende von Zivilisten auf brutalste Weise foltern und töten ließ – und noch lässt. Er wollte, so Roustom, die Idee des Glaubens ohne spezifische religiöse Konnotation ausstellen. Die Violine behält als Stimme des bewahrenden Glaubens das Tempo bei, während der orchestrale Untergrund als „Außenwelt“ sich zunehmend instabil verhält. „Wie ein Gebet“ beginnt sie ihren einsamen Gesang, begleitet nur von schwebenden Klängen des Vibraphons. Die Trompete ruft schließlich zur Kadenz des Solisten, in der technische Schwierigkeiten wie Linke-Hand-Pizzicato, Doppelgriff-Passagen, Flautando- und Bariolage-Effekte (rascher Saitenwechsel) gefordert werden. Mit Arpeggien gleitet die Violine durch ein schwebendes Orchesternachspiel.
Ist schon die Form des langsamen Satzes am „Schwestersatz“ aus Mozarts KV 595 orientiert (AB – Kadenz – A), so greift Roustom im finalen „Rondo & Round“ beherzt auf Mozarts Rondoform zurück, wandelt sie jedoch individuell ab: Den beiden wiederkehrenden Teilen A und B sind zwei verschiedene Themen zugeordnet. Teil A wird mit jeder Wiederholung kürzer, während sich B immer weiter ausdehnt. Die rasch wechselnden, synkopischen Rhythmen assoziieren wieder tänzerische Vorbilder aus dem Nahen Osten. In irrwitzig schnellen Figuren jagt die Violine dahin, oft mit repetitiven Mustern. Ganz am Schluss, verrät Roustom, taucht noch ein nordafrikanischer Rhythmus auf. So ist sein Violinkonzert „Weltmusik“ im besten Sinne, klanglich fantasievoll durch einen farbigen Schlagzeugapparat unterstützt. Die Violine spielt Kareem Roustom selbst nicht, doch schon während des Kompositionsprozesses gab es einen engen Austausch mit Michael Barenboim. Und nicht zuletzt konnte Roustom eine weitere beratende Stimme hinzuziehen: „Meine Frau ist Geigerin, und ich lerne immer von ihr.“ An seinem zweitem Violinkonzert schreibt er bereits.