10 minute read
Brahms und das Streichquartett
„Respekt vor der Druckerschwärze“
Brahms und das Streichquartett
Michael Kube
Mitunter ist der Komponist selbst sein schärfster Kritiker. So umfasst das von Johannes Brahms in Druck gegebene kammermusikalische Schaffen zwar nicht weniger als 24 gewichtige Werke nahezu aller Gattungen und Be setzungen, vom Streichquartett bis zum Streichsextett, vom Klaviertrio bis zum Klavierquintett, von Violin- und Cellosonaten bis zu Werken mit Klarinette und Horn. Dass einst aber noch weit mehr Werke existierten, die der überaus strengen Selbsteinschätzung nicht standhielten und von Brahms vernichtet wurden, ist nicht nur dokumentarisch durch Hinweise auf konkrete Partituren belegt – schon in den frühen Hamburger Jahren gelangten einige Werke unter dem Pseudonym Karl Würth zur Aufführung –, sondern auch durch entsprechende Mitteilungen aus dem persönlichen Umkreis. So berichtet Max Kalbeck in seiner Biographie, Brahms habe seinem Jugendfreund Alwin Cranz später anvertraut, dass er vor seinem Opus 51 bereits „über zwanzig Streichquartette und mehrere hundert Lieder komponiert hatte.“ Wie penibel er diese frühen Versuche dann kassierte, geht aus einer an gleicher Stelle überlieferten Bemerkung hervor: „Es ist nicht schwer, zu komponieren, aber es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen.“
Diese radikale Sorgfalt dem eigenen Schaffen gegenüber ist unter anderem jener Bürde geschuldet, die Robert Schumann dem jungen Komponisten 1853 mit seinem überschwänglichen Essay Neue Bahnen auflud. Unter dem unmittelbaren Eindruck einer mehrtägigen persönlichen Begegnung in Düsseldorf wurde Brahms darin als musikalischer Heilsbringer apostrophiert: „Er trug, auch im Aeußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: das ist ein Berufener.
Am Clavier sitzend, fing er an wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Clavier ein Orchester von wehklagenden und lautjubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Symphonien, – Lieder, deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde, obwohl eine tiefe Gesangsmelodie sich durch alle hindurchzieht, – einzelne Clavierstücke, theilweise dämonischer Natur von der anmuthigsten Form, – dann Sonaten für Violine und Clavier, – Quartette für Saiteninstrumente, – und jedes so abweichend vom andern, daß sie jedes verschiedenen Quellen zu entströmen schienen.“ Als einziges eigenständiges Kammermusikwerk aus diesen Jahren gelangte das Klaviertrio op. 8 an die Öffentlichkeit – doch auch in diesem Fall von ernsthaften Skrupeln begleitet. So schreibt Brahms im Juni 1854 in einem Brief an Joseph Joachim: „Das Trio hätte ich auch gern noch behalten, da ich jedenfalls später darin geändert hätte.“ Dass Brahms das Werk nach mehr als 35 Jahren grundlegend zu einer zweiten Fassung überarbeitete, es (wie er notierte) „noch einmal geschrieben“ und „die Haare ein wenig gekämmt und geordnet“ hat, zeigt eindrucksvoll, wie ernst es ihm mit derartigen Ankündigungen war. Bereits Anfang der 1880er Jahre hatte er hinsichtlich aller anderen, in seiner Heimatstadt verbliebenen Kompositionen tabula rasa gemacht und Kalbeck darüber anschaulich berichtet: „Die Kisten mit den alten Skripturen standen lange in Hamburg. Als ich vor zwei oder drei Jahren dort war, ging ich auf den Boden – die ganze Kammer war aufs schönste mit meinen Noten tapeziert, sogar die Decke. Ich brauchte mich nur auf den Rücken zu legen, um meine Sonaten und Quartette zu bewundern. Es machte sich sehr gut. Da hab’ ich alles heruntergerissen – besser, ich tu’s, als andere! – und auch das übrige mitverbrannt.“
Zu dieser Vorsicht kommt bei Brahms der mitunter lähmende Respekt vor den tradierten musikalischen Gattungen. Dies betrifft neben der Symphonie vor allem das Streichquartett und den mit ihm seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert verbundenen hohen ästhetischen wie kompositionstechnischen Anspruch. So scheint Brahms an den beiden dem befreundeten Chirurgen Theodor Billroth zugeeigneten Quartetten op. 51 (1873 erschienen) gleich mehrere Jahre gearbeitet zu haben, während ihm das nur wenig später nachfolgende Quartett B-Dur op. 67 (1876 erschienen) offenbar vergleichsweise leicht von der Hand ging. Jedenfalls be richtet er dem Physiologen Theodor Wilhelm Engelmann, dem dieses Werk gewidmet ist, mit selbstreflektierendem Humor: „Ich gebe nächstens wohl ein Streichquartett heraus u. brauche vielleicht einen Mediziner dazu (wie zu den ersten). […] Es handelt sich um keine Zangengeburt mehr, sondern nur um das Dabeistehen.“
Dass Brahms sich in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten an kein weiteres Streichquartett mehr wagte, mag vor diesem Hintergrund verständlich erscheinen. Vielmehr suchte er die Erweiterung mit einer zweiten Viola zum Streichquintett (op. 88 und op. 111) oder wandte sich Besetzungen mit dem ihm vertrauten Klavier zu. So entstanden zwischen 1879 und 1889 drei Sonaten für Violine und Klavier, zwei Klaviertrios und eine Sonate für Violoncello und Klavier. Vollkommen neue klangliche Ansätze traten schließlich durch die späte Bekanntschaft mit Konrad Mühlfeld und der Klarinette hervor – alles Werke, die keine so große Mühe mehr bedeuteten. Doch in jungen Jahren, so bekannte Brahms gegenüber Kalbeck ebenso scherz- wie ernsthaft, habe er vor allem eines gehabt: „Respekt vor der Druckerschwärze“.
Wolfgang Amadeus Mozart Streichquartett D-Dur KV 575
Ende März 1789 erhielt Mozart von seinem Schüler und Freund, dem Fürsten Carl Lichnowsky, das Angebot, ihn auf einer Reise nach Berlin und Potsdam an den preußischen Hof zu begleiten – letztlich auch, um sich dort König Friedrich Wilhelm II. vorzustellen. Der Monarch war ein begeisterter Cellist, der erst zwei Jahre zuvor dem in Madrid residierenden Luigi Boccherini in absentia den Titel eines Preußischen Hofkomponisten verliehen hatte (dieser hatte für ein ansehnliches Salär eine bestimmte Anzahl Streichquartette und Streichquintette zu liefern). Vor diesem Hintergrund wird sich auch Mozart durch den Besuch am Hof eine vergleichbare Anstellung und zumindest eine Verbesserung seiner wirtschaftlichen Lage erhofft haben und beabsichtigte, sechs gleichsam „maß geschneiderte“ Quartette für den König zu komponieren sowie sechs leichte Klaviersonaten für dessen älteste Tochter Prinzessin Friederike Charlotte Ulrike. Wieder in Wien, war bereits nach kurzer Zeit das erste Quartett in D-Dur fertig und wurde im eigenhändigen Werkkatalog mit dem Zusatz „für Seine Mayestätt dem König in Preußen“ eingetragen. Die weitere Arbeit ging jedoch nur noch schleppend voran: Erst im Frühjahr 1790 lagen die beiden anderen Werke vollendet vor, die interessanterweise keine Widmung mehr tragen. Mozart hatte offenbar den Plan oder die Hoffnung auf eine Anstellung aufgegeben – oder vielleicht aufgeben müssen. Als k.k. Kammer-Compositeur führte Mozart einen Wiener Hoftitel, und noch immer bestand die Rivalität zwischen Österreich-Ungarn und Preußen, die zwei Jahrzehnte zuvor im Siebenjährigen Krieg einen Höhepunkt erreicht hatte. Man wird Mozart in Wien möglicherweise nahegelegt haben, wie unmöglich es wäre, zusätzlich einen preußischen Titel zu führen. Das beachtliche spieltechnische Vermögen des Monarchen reflektierte Mozart komposi torisch jedenfalls unmittelbar in seinem Streichquartett D-Dur. Außergewöhnlich ist nicht nur der vielfache Wechsel des Violoncellos in den melodieführenden Diskant, sondern auch die Stellung im formalen Verlauf, wenn es etwa im Kopfsatz das Seitenthema, im Finale gar den Hauptgedanken exponiert.
Arnold Schönberg Streichquartett D-Dur
Wie keine andere Besetzung durchzieht das Streichquartett Arnold Schönbergs gewichtiges Œuvre – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert vergleichbar etwa dem ungebrochenen schöpferischen Interesse, das auch Béla Bartók, Paul Hindemith, Darius Milhaud und Ernst Toch dieser traditionsreichen Gattung entgegenbrachten. Ihnen allen galt das Quartett nicht nur als kompositorische Herausforderung, sondern durch die hier notwendige Konzentration der Mittel als Katalysator für satztechnische und harmonische Experimente. Angeregt durch Werke von Mozart und Beethoven machte sich Schönberg, der sich mit strengster Disziplin vor allem autodidaktisch schulte, früh an die Komposition eigener Quartette. „Die vier Streichquartette, die ich veröffentlicht habe, haben wenigstens fünf oder sechs Vorläufer. Das Verlangen so viele Streichquartette zu schreiben, ist allmählich entstanden“, eröffnete er seine 1936 niedergeschriebenen Notes on the Four String Quartets. Von diesen frühen Werken hat sich neben einem älteren Presto in C-Dur und einem Scherzo in F-Dur lediglich das vier Sätze umfassende Streichquartett D-Dur aus dem Jahr 1897 vollständig erhalten. Dabei handelt es sich keineswegs um ein Jugendwerk, vielmehr dokumentiert die Partitur mit ihrem Esprit Schönbergs auf allerhöchstem Niveau stehendes handwerkliches Vermögen, mehr aber noch den Stand der Gattung am Ende des 19. Jahrhunderts – ablesbar an den deutlich zu hörenden Brahms-Bezügen im Intermezzo, aber auch an der frischen Themenbildung (beispielsweise im Kopfsatz durch das mit seiner aufsteigenden Sexte erstaunlich nach Dvořák klingende Hauptthema). Vergleichbar etwa dem Streichquartett C-Dur op. 2 von Paul Hindemith aus dem Jahr 1915 markiert die Komposition eine entscheidende Situation in der schöpferischen Biographie: nämlich die sichere Anverwandlung und Reflexion einer gewichtigen Gattung und ihrer Tradition, aus der dann die ersten Schritte auf dem weiter zu beschreitenden Weg resultieren.
Johannes Brahms Streichquartett a-moll op. 51 Nr. 2
Dass noch bei Brahms zwei Streichquartette ein Opus bilden, mag anachronistisch anmuten. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts bestand ein solches „Werk“ (also eine Sammlung) in der Regel aus zwölf einzelnen Kompositionen (Concerti oder Sonaten); später reduzierte sich der Umfang auf das halbe Dutzend (etwa bei Haydns Streichquartetten), das in der Folge in zwei Hefte à drei Werke aufgeteilt wurde, bevor schließlich nur noch drei Werke pro Opus übrigblieben (so noch bei Beethovens Streichquartetten op. 59). Die Idee eines enzyklopädisch umfangreichen Vorrats war damit der Individualität jedes einzelnen Werkes gewichen, die sich auch in der jeweils eigenen Opuszahl abbilden sollte. Dass Brahms die beiden Quartette op. 51 (wie auch später noch die beiden Klarinettensonaten op. 120) zusammenfasste, überrascht insofern, ist jedoch durchaus nachvollziehbar. Die Werke beziehen sich jeweils aufeinander, wenngleich eher abstrakt auf einer diskursiven Ebene als konkret anhand von motivisch-thematischem Material. Dass Brahms jedenfalls die historische Perspektive mitdachte, zeigt ein Brief vom 24. Juni 1869 an seinen Verleger Fritz Simrock: „Übrigens hat Mozart sich gar besonders bemüht, sechs schöne Quartette zu schreiben [gemeint sind die Haydn gewidmeten], so wollen wir uns recht anstrengen, um ein und das andre passabel zu machen.“ Brahms’ Anstrengungen gipfelten indes in Werken, die auf den ersten Blick keinesfalls als leicht oder gar eingängig zu bezeichnen sind. Die konzentrierte Motivik wie auch ihre konsequente Ausarbeitung haben einen Tonsatz zur Folge, dessen kompositorisches Niveau nicht nur den hohen Anforderungen der Gattungsästhetik vollkommen gerecht wird, sondern darüber hinaus mit seinen technischen Verfahren, vor allem der fortwährenden entwickelnden Variation des zugrunde liegenden Materials, das Tor zur Musik des frühen 20. Jahrhunderts weit aufstieß. Nicht ohne Grund sprach Arnold Schönberg in einem Vortrag anlässlich des 100. Geburtstags von Brahms als dem Fortschrittlichen – mit besonderem Verweis auf den langsamen Satz des Streichquartetts a-moll.
Wolfgang Amadeus Mozart Divertimento für Streicher F-Dur KV 138
Im kaum überschaubaren kompositorischen Schaffen Mozarts findet sich auch eine bedeutende Anzahl von Divertimenti für unterschiedliche Besetzungen: für Bläserensemble (als Freiluftmusiken), in gemischter Formation oder auch nur für Streicher. Bei den meisten dieser Werke steht der lockere Ton im Vordergrund – eine Vorgabe, die Heinrich Christoph Koch in seinem Musikalischen Lexikon von 1802 erläuterte: „Divertimento. Der Name einer Gattung der Tonstücke für zwey, drey, vier oder mehr Stimmen, die bey der Ausführung nur einfach besetzt werden. Die verschiedenen Sätze, aus welchen ein solches Tonstück bestehet, sind weder polyphonisch gesetzt, noch weitläuftig ausgearbeitet […]. Sie haben mehrentheils keinen bestimmten Charakter, sondern sind bloß Tongemälde, die mehr auf die Ergötzung des Ohres, als auf den Ausdruck einer bestimmten Empfindung […] Anspruch machen.“ Um so erstaunlicher ist, dass Mozarts dreisätzige Divertimenti KV 136–138 auch als „Salzburger Symphonien“ bekannt geworden sind, unterscheiden sie sich doch in Charakter und Umfang deutlich von den ebenfalls im Jahr 1772 entstandenen, tatsächlich als Symphonie bezeichneten Werken. Ob es sich bei dem Divertimento F-Dur KV 138 um ein Auftragswerk handelt wie so oft bei Kompositionen dieser Art, ist nicht mehr zu ermitteln. Vielleicht diente es als Tafelmusik oder zur Abendunterhaltung am Hof des Salzburger Erz bischofs Hieronymus Colloredo, möglicherweise wurde es auch nur im Haus der Familie Mozart zum Zeitvertrieb im geselligen Kreis gespielt. Diese Funktion erfüllt das Stück jedenfalls bestens, ohne auch nur im Ansatz banal zu erscheinen.
Johannes Brahms Streichquartett B-Dur op. 67
Im Gegensatz zu den beiden früheren Quartetten entstand Brahms Streichquartett op. 67 ohne größere Vorarbeiten und vergleichsweise rasch zwischen Sommer und November 1875. Es ist dem Mediziner Theodor Wilhelm Engelmann gewidmet, der sich für die später auf dem Titelblatt gedruckte Zueignung in freundschaftlich scherzhaftem Ton bedankte: „Brauche ich ja nun doch mir um meine Unsterblichkeit weniger Sorge zu machen!“ Uraufgeführt wurde das Werk am 30. Oktober 1876 in der Berliner Singakademie durch das Joachim-Quartett. Leichter gefügt und bisweilen gar heiter gelöst, spielt Brahms mit der formalen Klarheit und Schlichtheit dieses Streichquartetts auf klassische Modelle an. So erinnert das Hauptthema des Kopfsatzes mit seinem „à la chasse“-Charakter an Mozarts so genanntes „Jagd-Quartett“ (KV 458). Doch schon im neunten Takt bricht sich der Brahmssche Tonfall Bahn: Das dem Satz zugrunde liegende Sechsachtel-Metrum wird in einen Dreivierteltakt verwandelt. Der zweite, langsame Satz bleibt mit seiner klaren Anlage der Thematik und der (dreiteiligen) Form hingegen übersichtlicher. Der kontrastierende Mittelteil führt zwei gegensätzliche Satzmodelle zusammen: Einer rhythmisch pointierten, kontrapunktisch durchgearbeiteten, fast barock anmutenden Ebene wird ein gleichsam aus der Ferne kommendes, lyrisches Thema entgegengesetzt. Beim dritten Satz handelt es sich weder um ein Scherzo im üblichen Sinn noch um einen Vertreter des eher idyllischlyrischen Tonfalls Schumannscher Prägung; der einem Nachtstück ähnliche Duktus dieses Satzes mag Arnold Schönberg wohl zum Intermezzo in seinem frühen D-Dur- Streichquartett inspiriert haben. Das Finale ist als Variationsfolge angelegt und beginnt betont harmlos. Doch bereits im vierten Takt setzt ein harmonischer Auflösungsprozess ein; die Tonika am Ende des Themas wird nur mit Mühe erreicht. In die letzten Variationen nimmt Brahms dann Motive des Kopfsatzes auf, so dass die sich satzübergreifende thematische Einheit das Werk zyklisch rundet.
Anton Webern Fünf Sätze für Streichquartett op. 5
„Ich verstehe unter ‚Kunst‘ die Fähigkeit, einen Gedanken in die klarste, einfachste, das heißt ‚fasslichste‘ Form zu bringen“, schrieb Anton Webern im August 1928 in einem Brief an die befreundete Hildegard Jone. Und in der Tat: sowohl in seinem zahlenmäßig schmalen gedruckten Œuvre als auch im umfangreichen Frühwerk sucht man Werke von erheblicher Aufführungsdauer vergebens. Weberns künstlerisches Credo gewinnt noch mehr an Bedeutung, bedenkt man die in den Kompositionen realisierte radikale Verdichtung des musikalischen Materials auf rhythmischer, motivischer und dynamischer Ebene. Die bevorzugte durchsichtige kammermusikalische Faktur erweist sich dabei als adäquat zur angestrebten Konzentration der Gedanken. Sie steht allerdings den symphonisch dimensionierten Entwürfen und Charakteren der „musikalischen Moderne“ der Jahrhundertwende ebenso entgegen wie in den 1920er Jahren den von unbändiger Motorik getriebenen Bewegungsmodellen der Neuen Sachlichkeit. Weberns Streben nach Intensivierung des musikalischen Augenblicks und aphoristischer Kürze erreichte 1909 in den Fünf Sätzen für Streichquartett einen ersten Höhepunkt. Die extreme Verknappung des musikalischen Verlaufs befremdete jedoch noch mehr als Jahrzehnt später: bei der Präsentation des Werkes auf dem Musikfest der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) 1922 in Salzburg kam es zu einem Skandal samt handfester Schlägerei, so dass das Stück am folgenden Tag vor einem Kreis geladener Gäste wiederholt werden musste. Webern berichtete Alban Berg begeistert über diese Aufführung durch das Amar-Quartett, dem Paul Hindemith am Bratschenpult als spiritus rector vorstand: „Was mein Quartett anbelangt: Aufführung (Hindemith) sehr gut. Wirklich als Musik gespielt.“ In seinem Vorwort zu den zwei Jahre später veröffentlichten Bagatellen op. 9, die Webern 1911/13 zunächst als Ergänzung zu den Fünf Sätzen konzipiert hatte, warb Schönberg geradezu emphatisch für die gedrängte Tonsprache: „[…] einen Roman durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken: solche Konzentration findet sich nur, wo Wehleidigkeit in entsprechendem Maße fehlt.“
Johannes Brahms Streichquartett c-moll op. 51 Nr. 1
Zwölf Jahre liegen zwischen jenem schicksalhaften Treffen 1853 in Düsseldorf, bei dem Brahms Schumann seine Kompositionen vorlegte (darunter auch ein Streichquartett in h-moll), und dem Hinweis in einem Brief von Joseph Joachim auf Brahms’ erneute schöpferische Auseinandersetzung mit der Gattung Streichquartett. Der Komponist muss im Laufe des Jahres 1865 mit dem Freund seine Pläne besprochen haben, erkundigte sich doch Joachim am 26. Dezember nach dem Fortgang der Arbeit. Tatsächlich dauerte es dann weitere acht Jahre, bis im Herbst 1873 die beiden mit op. 51 bezeichneten Quartette nach mehreren Revisionen im Druck erschienen – und dies wohl nur, weil Brahms am Ende die Geduld mit sich selbst verlor. An seinen Verleger Fritz Simrock bekannte er am 17. Juni 1873 freimütig: „Ich gebe mir alle Mühe und hoffe immer, mir soll ein Großes und fürchterlich Schweres einfallen – und immer geraten sie klein und erbärmlich! Ich kann nicht darauf warten.“ Kaum mag man freilich diesen Worten Glauben schenken angesichts des Feuers und der Kraft, die aus den motivisch miteinander verbundenen Ecksätzen des c-moll-Quartetts hervortreten. Schon das Hauptthema des ersten Satzes weist mit seinen ausgreifenden Anläufen, den harschen Abbrüchen und den nachklingenden Liegetönen einen symphonischen Gestus auf, der so auch das Finale bestimmt. Dazwischen liegen zwei Binnensätze, die gänzlich andere Welten aufspannen: eine innige, in weiten Bögen atmende Romanze und ein im Tempo gebremstes, nachdenkliches Intermezzo, das noch weit mehr als die gewichtigen Ecksätze einen tieferen Einblick in Brahms’ musikalische Ausdruckssphären gewährt. Dass die Zeitgenossen betonten, wie schwer die Werke zu verstehen seinen, mutet heute kaum mehr verständlich an – vielmehr können sie in eben jener doppelten Weise empfunden werden, wie dies schon Brahms-Biograph Max Kalbeck im Hinblick auf die sich ergänzenden Aspekte beschrieben hat: als „Seelengemälde“ wie auch als „vollkommene Musterstücke ihrer Gattung.“