10 minute read

Wege und Wegmarken

Wege und Wegmarken

Beethovens Streichquartette

Michael Kube

Die Streichquartette Ludwig van Beethovens stellen innerhalb der Gattungsgeschichte einen zentralen Markstein dar – in zweierlei Hinsicht: Sie markieren zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Weiterentwicklung der bis dahin von Haydn und Mozart dominierten Gattung und zogen so die Zeitgenossen in ihren Bann; zugleich übten sie nachhaltigen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Kammermusik in den folgenden Jahrzehnten aus und entfalteten vielfach erst im 20. Jahrhundert ihre Wirkung. Beethoven, der mit der Komposition und Herausgabe seiner ersten Quartett-Sammlung (op. 18) sichtlich zögerte und sich entgegen einem weit verbreiteten Usus mit drei als op. 1 veröffentlichten Klaviertrios der breiten musikalischen Öffentlichkeit präsentierte, war sich im Alter von knapp 30 Jahren des binnen kürzester Zeit zur Norm avancierten hohen Anspruchs an Satztechnik und Ausdruck eines Streichquartetts vollauf bewusst. Dem Verlangen nach ästhetisch herausragenden Werken kam er charakteristischerweise zunächst mit Kompositionen nach, die unüberhörbar bei den beiden großen Meistern des Genres anknüpfen, während er im Klaviertrio und in der Klaviersonate schon längst Neuland betreten hatte. Beethoven war damit Teil einer Entwicklung und zugleich eines Aufschwungs, den die junge Gattung Streichquartett um 1800 in verschiedene Richtungen nahm. Diese betreffen zunächst den Aufführungsort, der nicht mehr ausschließlich

dem Salon des Adels oder der bürgerlichen „guten Stube“ zugeordnet werden kann. Vielmehr drängte das Streichquartett in den öffentlichen Konzertsaal – erstmals wohl in aller Deutlichkeit abzulesen an den für London bestimmten Quartetten op. 71 und op. 74 von Joseph Haydn, die Anforderungen und „Spielregeln“ reflektieren, wie sie die Darbietung vor einem größeren und damit nicht mehr durchweg musikalisch erfahrenen Publikum mit sich brachte. Parallel dazu lässt sich – zumindest in Wien – ein erhöhter „Bedarf“ an spielbaren Werken feststellen, so dass man von einer regelrechten Mode sprechen kann. In der habsburgischen Hauptstadt erschienen zwischen 1800 und 1828 in einer beeindruckenden Kontinuität mehr als 400 Werke von insgesamt fast 70 Komponisten, hinzu kommen noch zahlreiche Arrangements aus Opern und anderen Werken der Kammermusik.

Die musikgeschichtliche Situation war mithin durch zwei sich wechselseitig verstärkende Momente bestimmt: zum einen durch den unverkennbaren Wunsch der Komponisten, sich mit der Gattung und ihren jungen Traditionen schöpferisch auseinander zusetzen, zum anderen durch die musikliebende Gesellschaft, die privat leichtgewichtigere Quartette „konsumierte“ und doch an der Präsentation anspruchsvoller Werke in öffentlichen Konzerten teilhaben wollte. Dieses Vexierspiel war den Zeitgenossen durchaus bewusst. Bereits Johann Friedrich Reichardt, selbst Komponist und eloquenter Autor, schildert in seinen autobiographischen Berichten von einer Reise nach Wien in den Jahren 1808/09 einen Quartettabend eben unter diesen Aspekten; aufgeführt wurden ein Werk von Haydn, eines der Haydn gewidmeten Streichquartette von Mozart und ein Werk aus Beethovens Opus 18: „Es war mir sehr interessant, in dieser Folge zu beobachten, wie die drei das Genre so jeder nach seiner individuellen Natur, weiter ausgebildet haben. Haydn erschuf es aus der reinen hellen Quelle seiner lieblichen, originellen Natur. An Naivität und heiterer Laune bleibt er daher auch immer der einzige. Mozarts kräftigere Natur und reichere Phantasie griff weiter um sich und sprach in manchem Satz das Höchste und Tiefste seines inneren Wesens aus; er setzte auch mehr Wert in künstlich durchgeführte Arbeit und baute so auf Haydns lieblich-phantastisches Gartenhaus seinen Palast. Beethoven hatte sich früh schon in diesem Palast eingewohnt und so bleibt ihm nur, um seine eigene Natur auch in eigenen Formen auszudrücken, der kühne, trotzige Turmbau, auf den so leicht kein zweiter etwas setzen soll, ohne den Hals zu brechen.“

Gespielt hatte an diesem Abend das nach dem Primarius Ignaz Anton Schuppanzigh benannte und für seine gründlich ausgearbeiteten Interpretationen hochgeschätzte Schuppanzigh-Quartett. Aufführungen wie diese stellten jedoch nur einen Teil der Aktivitäten des Ensembles dar, das gleichermaßen den Konzertsaal wie den Salon bediente. So nahm im Jahre 1808 der musikbegeisterte und enthusiastisch die Quartettkunst fördernde Graf Rasumowsky das Quartett in seine Dienste und versah es mit einer Pension auf Lebenszeit. Die solchermaßen für die Entwicklung der Gattung besonders förderlichen Umstände (zumal Beethoven für Proben seiner eigenen Werke auf das Ensemble zugreifen konnte) änderten sich, als am Silvesterabend des Jahres 1814 das Palais des Grafen ein Raub der Flammen wurde. Bereits wenige Wochen später gab das Ensemble sein Abschiedskonzert, und Schuppanzigh brach zu einer mehrere Jahren währenden Reise auf, die ihn bis nach Russland führte.

Umso auffälliger ist der Bruch, den Beethoven nur wenige Jahre darauf zum Spätwerk hin vollzog – etwa in dem Sinne, wie es die mit dem Komponisten befreundete Fanny Giannatasio del Rio 1816 in ihrem Tagebuch notiert. Als sie Beethoven ihre Bewunderung für sein bisheriges Schaffen gestand, soll dieser vor sich hingesprochen haben: „Mir schweben ganz andere Dinge vor.“ Wie anders Beethoven dann konzipierte und gestaltete, lässt sich durch einen Blick auf die gewichtigsten Werke der folgenden Jahre ermessen: dazu zählen die „Hammerklaviersonate“, die „Diabelli-Variationen“, die Missa solemnis und die Neunte Symphonie – und eben auch die letzten fünf Streichquartette. Sie alle nötigen bis heute nicht nur tiefen Respekt ab, sondern stecken auch voller musikalischer Herausforderungen. So geht es in den Quartetten um eine subjektiv geprägte Aussage, realisiert in einer strengen Charakterisierung jedes einzelnen Satzes und bestimmt durch die äußerste Beschränkung des zugrunde liegenden thematisch-motivischen Materials. Dahingehend äußerte sich etwa auch der mit Beethoven befreundete Geiger Karl Holz – mit einer Bemerkung, die kompositorische Prinzipien benennt und von Beethovens Seite offenbar unwidersprochen blieb: „Ihre Stücke haben durchaus den eigentlich ausschließlichen Charakter. Ich möchte den Unterschied zwischen den Mozart’schen und Ihren Instrumental-Compositionen so erklären: zu einem Ihrer Stücke könnte ein Dichter nur ein Werk schreiben; zu einem Mozartschen könnte er aber 3 bis 4 analoge schreiben.“ Für Mozart ließe sich dies mit dem Schlagwort der „Einheit in der Vielfalt“ der Gedanken bezeichnen; bei Beethoven geht es um die „Vielfalt in der Einheit“, den Gestaltenreichtum weniger Motive. Auch wenn Beethoven nach Abschluss seiner „mittleren“ Quartette offenbar schon längere Zeit wieder an die Komposition eines Streichquartetts gedacht hatte, konkretisierten sich seine Pläne erst, als die erforderliche aufführungspraktische Infrastruktur wiederhergestellt war und ein konkreter Auftrag vorlag. Im April 1823 kehrte Schuppanzigh nach Wien zurück, bildete eine neue Quartett-Formation und bemerkte anlässlich seines ersten Besuchs bei Beethoven, gewissermaßen launig an alte Zeiten erinnernd: „Auf dem Lande werde ich ihn besuchen, da wollen wir zusammen ein neues Quartett komponieren.“ Den entscheidenden Anstoß zur Komposition des Es-Dur-Quartetts op. 127 dürfte jedoch ein Brief des Fürsten Nikolai Galitzin gegeben haben, in dem dieser Beethoven um „un, deux ou trois nouveaux Quatuors“ bat. Umso enttäuschender verlief dann die Uraufführung zwei Jahre später, am 6. März 1825 in Wien. Aufgrund verschiedener unglücklicher Umstände stand am Ende nicht der erhoffte Erfolg, sondern Unverständnis. Beethovens Neffe Karl berichtete seinem Onkel: „Es geschahen viele Störungen. Erstlich gings nicht recht zusammen, dann sprang dem Schuppanzigh eine Saite, was auch viel beytrug, da er nicht einmahl eine 2te Violine bey der Hand hatte.“ Bereits am 23. März kam es zu einer weiteren Aufführung, nun durch das konkurrierende Böhm-Quartett. Dabei wurde das Werk gleich zweimal hintereinander gespielt, außerdem stand mehr Zeit zur Vorbereitung zur Verfügung. Neffe Karl bemerkte dazu unter Verweis auf Schuppanzigh: „Ich weiß aber, daß es bloß dadurch nicht durchaus verständlich wurde, weil die Primstimme so schlecht ging. Steiner [ein Wiener Verleger] sagte bey der Probe [des Böhm-Quartetts] jetzt erst fasse er es vollkommen, und begreife gar nicht, wie das ein und dasselbe Quartett sey, was Schuppanzigh gespielt habe.“

Noch im März kam es zu einer klärenden Aussprache zwischen Beethoven und Schuppanzigh über die sprichwörtlich „vergeigte“ Uraufführung. So tragisch das Schicksal eines ertaubten Komponisten auch sein mag, so hat dieser Umstand doch dazu geführt, dass uns weite Teile der Unterhaltungen quasi im Originalton überliefert sind – jedenfalls all jene Beiträge, die Beethovens Gesprächspartner in seine Konversationshefte eintrugen. Im Fall dieser Unterredung hatte sich der hochverdiente Primarius für die misslungene Aufführung zunächst zu rechtfertigen: „Es ist wahr, daß wir es zu bald gemacht haben, und es nicht gegangen ist, wie es seyn sollte, jedoch hat es nicht nur allein an mir gefehlt, sondern an uns allen 4.“

Später dann heißt es, im Ton bereits gelassener, mit Blick auf die Konzertdarbietungen und über die Anforderungen der Komposition: „Die öffentlichen Quartetten gehen so gut zusammen, als es nur möglich ist. Mechanische Schwierigkeiten sind ja nicht darinn, nur die Originalität macht es schwer, welche man im ersten Augenblik nicht fassen kann.“

Diese „Originalität“ schließlich macht Beethovens späte Streichquartette zu einem Sonderfall in der Musikgeschichte – den Werken wurde gleichermaßen Unverständnis wie tiefer Respekt entgegengebracht. Von Anfang an waren die Rezensionen beherrscht von der Diskussion um die immensen Schwierigkeiten, die sich bei der ersten Konfrontation mit diesen klingenden Ausnahmeerscheinungen einstellten und sich erst allmählich, nach näherer Beschäftigung und mehrfachem Hören auflösten. So heißt es Ende 1825 über das neue Quartett op. 132 bereits relativierend: „Was unser musikalischer Jean Paul hier gegeben hat, ist abermals gross, herrlich, ungewöhnlich, überraschend und originell, muss aber nicht nur öfters gehört, sondern ganz eigentlich studirt werden. […] Wie das zuletzt vor diesem erschienene Quartett (in Es) Anfangs lau aufgenommen, dann erst begriffen, erkannt, und nun den geschätztesten Meisterwerken beygezählt wurde, so wird es wohl auch diesem neusten gehen.“ Zugleich gaben die Werke Anlass, erstmals über das noch vergleichsweise neue Kritikerwesen umfassend zu reflektieren. So schreibt Friedrich Rochlitz, Herausgeber und Redakteur der in Leipzig erscheinenden Allgemeinen musikalischen Zeitung im Sommer 1828 einleitend über das Quartett op. 131: „Wir erklären uns darüber, obgleich diess keine Recension jenes Quartetts (eher eine, des Recensenten) abgibt.“

Überblickt man die fünf späten Streichquartette, so ergeben sich in jedem Werk immer wieder neue Konstellationen – hinsichtlich der Disposition der Sätze insgesamt, der formalen Anlage der einzelnen Sätze, der zugrunde liegenden diatonischen Skalen sowie der Harmonik, des Ambitus und der Klanglichkeit. Es entspricht der damit verbundenen Individualisierung, der Schärfung des Profils einer jeden Partitur, dass Beethoven diese Werke nicht nur mit einer eigenen, separaten Opuszahl versah, sondern die Quartette auch an verschiedenen Orten bei jeweils anderen Verlagen erscheinen ließ: op. 127 bei Schott in Mainz, op. 130 in Paris bei Schlesinger und op. 131 bei Artaria in Wien. Damit war grundsätzlich auch die Bündelung einzelner Kompositionen zu einer Sammlung von drei oder gar sechs Werken endgültig aufgegeben. Dennoch wurden dem Fürsten Galitzin die drei Werke op. 127, op. 132 und op. 130 (so die chronologische Reihenfolge) zugeeignet – nicht jedoch die Streichquartette cis-moll op. 131 und F-Dur op. 135, die Beethoven trotz größter Verdichtung des Materials und harter Arbeit in den Skizzen gewissermaßen in einem fort schuf, mit der Konsequenz, dass manche Motive sich auf einen Archetypus zurückführen lassen und damit die Kompositionen als Gruppe – wenn auch eher subkutan als ohrenfällig hörbar – untereinander in vielfacher Weise in Beziehung stehen und damit einen größeren Zusammenhang konstituieren.

Unter gattungsgeschichtlichen Aspekten lassen sich an Beethovens spätem Quartettschaffen zwei Tendenzen ausmachen, die nur auf den ersten Blick gegensätzlich erscheinen, jedoch voneinander nicht zu trennen sind: Da ist zunächst die weitreichende Abkehr von etablierten Formmodellen wie auch von der mittlerweile konventionellen viersätzigen Disposition; dies ist leicht zu erkennen an der Gliederung und den Satzüberschriften. So gibt es in op. 127 vordergründig noch eine viersätzige Ordnung, die freilich nach innen mit einem eigentümlich gegliederten Kopfsatz und hochkomplexen Charaktervariationen neu gestaltet wird. In den drei folgenden Streichquartetten erweitert Beethoven den Zyklus gar auf fünf, sechs, sieben Sätze, um in op. 130 mit dem ursprünglichen Finale der Großen Fuge alle bestehenden formalen, satztechnischen und harmonischen Grenzen hinter sich zu lassen. Die zweite grundlegende Tendenz betrifft die Erweiterung des Spektrums der Satzcharaktere, mit der sich für die Gattung Streichquartett nun auch neue Horizonte eröffneten. Historisch realisiert sich hierin das allgemein aufkeimende Bewusstsein über Kompositionen der Vergangenheit (freilich nicht im Sinne des Klassizismus à la Felix Mendelssohn Bartholdy). In Beethovens späten Streichquartetten haben vielmehr ganz unterschiedliche Modelle und Verfahren Eingang gefunden, die vielfach der Vokalmusik verpflichtet sind (etwa Rezitativ und Arie, Lied, Hymne und Choral). Satztechnisch ist es der mehrfache Rekurs auf den Kontrapunkt, der sich prägend auswirkt – ein Kontrapunkt, der nicht mehr nur als ein Verfahren unter vielen anderen das Gleichgewicht der vier obligaten Stimmen mitbestimmt und regelt, sondern in verschiedener Weise selbst zum abstrakten Thema wird, sei es in Anlehnung an seine strenge Ausformung in der „klassischen Vokalpolyphonie“ oder – in rhythmisch provozierender Gestalt – etwa an Johann Sebastian Bachs Klavierwerke.

Am Ende erscheint es nur konsequent, wenn Beethoven nach all den beschrittenen neuen Wegen, nach den Werk um Werk auf verschiedenen Ebenen vollzogenen Innovationen sich wieder der Konvention versichert, sich gleichsam auf die äußeren Stützen der Gattungstradition zurückzieht: Die letzte seiner vollendeten Kompositionen, das Streichquartett F-Dur op. 135, ist wieder regulär viersätzig angelegt. Auch dem Umfang nach kann es den älteren Mustern der Gattung an die Seite gestellt werden, zudem wirkt der Tonfall vergleichsweise entspannt. Satztechnisch präsentiert sich indes ein Minimalismus, der die zuvor gewonnenen kompositionstechnischen Erfahrungen im Detail reflektiert.

This article is from: