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Offene und geheime Kommunikation
Offene und geheime Kommunikation
Musik für Ensemble mit und ohne Flöte
Anne do Paço
Ein vielschichtiges Netz aus offenen und geheimen Beziehungen spannt sich über das heutige Konzert – Spuren und Wege der Kommunikation zwischen Interpreten und Komponisten, zwischen Komponisten und Komponisten und natürlich zwischen der Musik, den Musikern und Hörern in einem besonderen, in seiner Architektur auf Kommunikation angelegten Saal. Daniel Barenboim hat sich immer wieder für das Schaffen Elliott Carters eingesetzt und ihn gar zur Komposition seiner einzigen, an der Staatsoper Unter den Linden uraufgeführten Oper What Next? angeregt. Dem Italiener Luca Francesconi gilt derzeit Barenboims besonderes Interesse – und so, wie man die Klassiker des Repertoires ja auch immer wieder neu hört, schenkt uns das Boulez Ensemble heute Abend die Gelegenheit, erneut in die faszinierenden Klanglabyrinthe von Francesconis Daedalus vorzudringen, das vor fast genau zwei Jahren im Pierre Boulez Saal uraufgeführt wurde. Den Solopart hatte bereits zur Premiere Emmanuel Pahud gespielt, ebenso wie in dem Flötenkonzert, das Carter dem Ausnahmemusiker auf den Leib komponierte. Daedalus entstand aber auch in Memoriam Pierre Boulez und mit Bezug auf dessen Dérive 2 – eine Partitur, die Boulez wiederum Carter zum Geburtstag widmete. Verbindungen also, wohin man schaut. Vervollständigt wird das Programm von zwei meisterhaften Jugendwerken Ludwig van Beethovens und Dmitri Schostakowitschs.
„Ich konnte mich nie im Leben über fehlendes Interesse an meiner Musik in meinem Heimatland beklagen. […] Aber hier, versteht ihr, wurde im Laufe von drei Wochen sozusagen unter meinem, wie man so sagt, kritischen Blick mein ganzes Musikleben vorgestellt.“ Mit sichtlicher Erregung berichtete Dmitri Schostakowitsch im Sommer 1962 vom renommierten Edinburgh Festival, dessen damaliger Leiter George Lascelles, Earl of Harewood, den sowjetischen Komponisten als Composer in Residence eingeladen hatte und aus dessen Œuvre nicht nur Hauptwerke präsentierte, sondern auch Partituren, denen selbst Schostakowitsch seit Jahrzehnten nicht mehr begegnet war: „Da Lord Harewood […] auch meine sozusagen kindlichen Werke zur Aufführung brachte, solche von der Art der Zwei Stücke für Streichoktett op. 11, versteht ihr, die ich sozusagen schon eine Ewigkeit nicht mehr gehört habe, denen habe ich sozusagen einfach zugehört, mit großer Freude, versteht ihr?“ Diese Freude, die Schostakowitsch bei der Wiederbegegnung mit einer 40 Jahre alten Komposition erlebt zu haben scheint, überträgt sich beim Lesen dieser Zeilen direkt – und man ahnt bereits, dass die Partitur, von der hier die Rede ist, womöglich doch nicht so „kindlich“ ist. Im Hinblick auf ihre Besetzung stehen die Zwei Stücke für Streichoktett singulär in Schostakowitschs Schaffen. Legte er später ein Streichquartett-Œuvre vor, das zum Bedeutendsten zählt, was für diese Besetzung im 20. Jahrhundert komponiert wurde, so hat ihn die Verdopplung des Quartetts zum Oktett nie mehr interessiert. Entstanden 1924/25 parallel zu seiner Diplomarbeit, der Symphonie Nr. 1, und am 9. Januar 1927 in einer Vereinigung des Glière- und des Stradivari-Quartetts im Moskauer Mozart-Saal uraufgeführt, lässt das Werk aber bereits Grundthemen und Ausdruckscharaktere erkennen, die Schostakowitsch immer wieder aufgreifen sollte.
Das erste Stück in der düsteren Tonart d-moll hebt an voller Pathos wie ein barockes Orgelpräludium, und in der Tat hatte Schostakowitsch eine Hommage an Johann Sebastian Bach im Sinne. Doch schon im Nachsatz – nach einem figurativen Solo der ersten Violine, die auch im weiteren Verlauf immer wieder die Führung übernimmt – entweicht das Leben aus diesem so kraftvollen Beginn in einem fragilen chromatischen Abgang. Starke Kontraste – in der Dynamik, im Wechsel zwischen Statik und Bewegung sowie schwärmerischen Klanginseln und dann wieder gespenstisch fahlen Passagen – prägen das gesamte Prélude. Das folgende g-moll-Scherzo gehört dagegen zu jenen für Schostakowitsch so typischen bitterbösen Grotesken, in denen die Ironie ihre Seele an den Sarkasmus verloren hat und deren irreale Lustigkeit alle Tragik negiert.
Schostakowitsch widmete seine Komposition einem engen Freund, dem Dichter Wladimir Kurtschawow, der kurz zuvor an Tuberkulose verstorben war – einer Krankheit, mit der sich auch Schostakowitsch einige Jahre zuvor infiziert hatte. Durch die Uraufführung seiner Ersten Symphonie im Mai 1926 war der Komponist über Nacht berühmt geworden. Doch er kämpfte mit einer Orientierungslosigkeit, die nicht nur mit den finanziellen Sorgen seiner Familie nach dem Tod des Vaters verbunden, sondern von grundsätzlicher, existentieller Natur war, wie er selbst schrieb: „Ich könnte laut schreien vor Schrecken. Zweifel und Probleme, all diese Finsternis ersticken mich.“ Dies alles mag auf den dunklen Tonfall von Prélude und Scherzo eingewirkt haben.
Ein labyrinthisches Klangabenteuer
Um den Minotaurus, ein gefährliches Ungeheuer mit dem Kopf eines Stieres und dem Körper eines Menschen, gefangen zu halten, entwarf Daedalus im Auftrag des kretischen Königs Minos das berühmte Labyrinth, aus dem Daedalus selbst fast nicht mehr herausfand. Doch eigentlich existiert in einem Labyrinth nur ein Weg – kreuzungsfrei, ohne Sackgassen, aber voller Umwege, die nicht von außen nach innen führen, sondern uns dem Zentrum durch ein kompliziertes Hin und Her von Richtungswechseln näherbringen, einem ständigen Pendeln zwischen Peripherie und Mittelpunkt. Der Struktur eines Labyrinths muss man sich anvertrauen, falsche Entscheidungen sind in ihr nicht möglich. Ein Irrgarten hingegen gibt das Prinzip des einen Weges auf für ein verwirrendes Spiel mit dem Orientierungsvermögen. Seit der Renaissance wurden solche, meist aus Hecken gepflanzten Anlagen zur Unterhaltung gebaut. Die Gefahr eines wirklichen Sich-Verirrens geht von einem Irrgarten nicht aus. Im übertragenen Sinne wurde er aber zum Symbol der Angst, aus den Wirrnissen und Sackgassen des Lebens keinen Ausgang mehr finden zu können.
Der mythologische Baumeister Daedalus gab der im Auftrag der Daniel Barenboim Stiftung entstandenen und am 26. Januar 2018 im Pierre Boulez Saal uraufgeführten Komposition für Flöte,
Klarinette, Schlagzeug, Klavier, Violine und Violoncello seinen Namen. Ihr Schöpfer, der Italiener Luca Francesconi, sieht in den Strukturen eines Labyrinths „den Versuch, eine Ordnung im Chaos der Welt zu etablieren“ und wählte als Vorlage für den Formverlauf seines Werkes den berühmten, im 17. Jahrhundert als 1.200 Quadratmeter großes Heckenlabyrinth gebauten Irrgarten im Park von Hampton Court Palace in der Nähe von London. Die sechs Instrumente versteht Francesconi als Protagonisten eines Klangabenteuers mit zunächst unbekanntem Ausgang. Der Flöte kommt eine Führungsrolle zu. Als eine Art „spiritual leader“ eröffnet sie die Komposition mit der Freiheit, Ungebundenheit und Sinnlichkeit eines „dionysischen Fauns“, so der Komponist, um sich mit den anderen Instrumenten dann – zu einer „kleinen Armee“ formiert – auf einen Weg zu machen, auf dem man sich immer wieder verrennt, auf Sackgassen und Hindernisse trifft, sich der Anziehungskraft des labyrinthischen Zentrums aber nicht entziehen kann. Annäherung und Entfernung vom Mittelpunkt spiegeln sich im Tempo, den Tonhöhen und Klangcharakteren wider: Steigt die Musik in rasendem Presto in geradezu eisige Flageolett-Höhen auf, so bewegt sie sich an der Peripherie des Labyrinths; nähert sie sich seiner Mitte, so wird sie dunkel, schwerfällig und langsam. Im Zentrum erwartet die sechs Instrumentalisten schließlich kein mythologisches Ungeheuer, sondern – so Francesconi – die ungeheure Sogkraft eines „schwarzen Lochs“ und damit ein Abgrund, in dem sich etwas auftut, was für den Menschen außerhalb des Begreifbaren, real Erfahrbaren liegt. Die Musik zerfällt in eine Art „Urzustand“. Einen Weg zurück gibt es nicht. Was bleibt, ist ursprüngliche Materie.
Ist die Imagination einer labyrinthischen Struktur auch für den Hörer ein starkes Bild für ein vielschichtiges Spiel der Klänge, die Francesconi voller Verspieltheit, aber auch Wildheit kaleidoskopartig zu immer neuen Mustern fügt, so erschließt sich eine weitere Ebene der Komposition durch das reine Hören kaum, sondern bedarf des Hintergrundwissens: Geschrieben im Gedenken an Pierre Boulez, entspricht Daedalus in seiner Besetzung derjenigen von Boulez’ Dérive 1 aus dem Jahre 1985. In einem Interview mit Carlo Maria Cella erläutert Francesconi außerdem, dass er, um sich der übermächtigen Vaterfigur der Avantgarde anzunähern, ein „Fragment“ entwarf, das ein Zitat aus dem die Periodizität erforschenden Ensemblestück Dérive 2 zu sein scheint, in Wahrheit aber eine Fälschung ist. „Diesen ‚falschen‘ Boulez schicke ich in das Labyrinth“, und was dort dann stattfindet, ist „eine Dekonstruktion“. Dem eine
Generation nach Boulez 1956 in Mailand geborenen, u.a. bei Azio Corghi, Karlheinz Stockhausen und Luciano Berio ausgebildeten Francesconi wird das Labyrinth damit auch zu einer „Metapher für den Zustand, in dem sich die Komponisten in den letzten beiden Generationen befanden“.
Aus gutem Anlass
Die Entstehung von Beethovens Trio für Klavier, Flöte und Fagott WoO 37 hat möglicherweise einen autobiographischen Hintergrund: die schwärmerische Verliebtheit des 15-jährigen Komponisten in Anna Maria Wilhelmine von und zu Westerholt-Gysenberg. Beethoven war ihr Klavierlehrer und pflegte darüber hinaus einen engen Kontakt zu ihrer Familie, in der auf hohem Niveau musiziert wurde. Anna Marias Vater war ein ausgezeichneter Fagottist, ihr Bruder Wilhelm spielte Flöte. Die Vermutung liegt also nicht fern, dass die ungewöhnliche Besetzung des Trios auf die WesterholtGeysenbergs zugeschnitten gewesen sein könnte. Den Charakter einer zärtlichen Romanze hat das Stück allerdings ganz und gar nicht, auch wenn im Adagio äußerst empfindsame Töne angeschlagen werden.
Wen auch immer der Komponist als Interpreten im Auge hatte: Es müssen hervorragende Musiker gewesen sein. Der Klavierpart ist von einer weitgriffigen Faktur bestimmt. Blockartig gebaute Passagen, in denen alle drei Instrumente unisono geführt werden oder Flöte und Fagott gemeinsam dem Klavier gegenüberstehen, wechseln mit durchlässiger gesetzten Abschnitten, in denen die Flöte eine schwebende Virtuosität und das Fagott große Beweglichkeit entfaltet. Der langsame Satz basiert auf einer reich ausgezierten siebentaktigen Kantilene, die die Grundlage für phantasierendes Musizieren voller Vorhalte, Seufzermotive und Doppelschläge bildet. Ohne Pause folgt zum Abschluss ein 16-taktiges Thema mit acht virtuosen Variationen.
Musik als beredte Sprache
Der Amerikaner Elliott Carter investierte viel Zeit in die Entstehungsprozesse seiner Werke, so dass sein Gesamtschaffen trotz eines langen und bis zum Schluss äußerst produktiven schöpferischen Lebens überschaubar blieb. Mehr als 30 Kompositionen entstanden erst nach seinem 80. Geburtstag – und jede davon ist ein Meisterwerk. Im Zentrum von Carters Ästhetik steht die Befreiung der Form von tradierten Schemata sowie das Fragen nach den Grundbedingungen von Kommunikation: Kommunikation der einzelnen Stimmen und mit ihnen ihrer Interpreten untereinander, aber auch Kommunikation mit dem Hörer durch eine Musik, die sich als beredte Sprache begreift. Den Weg dorthin fand Carter in der völligen Abgeschiedenheit, als er sich 1950 für ein Jahr in die Wüste Arizonas zurückzog und dort abseits der großen Städte mit seinem ersten Streichquartett eine Komposition für ein Publikum der Zukunft schuf. Das Flötenkonzert ist eine Partitur aus Carters allerletzten Lebensjahren. Elena Bashkirova, der das Stück auch gewidmet ist, hatte Carter um ein neues Werk für das Jerusalem International Chamber Music Festival gebeten. Emmanuel Pahud brachte es dort am 9. September 2008 unter der Leitung von Daniel Barenboim zur Uraufführung. Zuvor hatte Carter jahrzehntelang um die Querflöte einen Bogen gemacht, schien sie ihm für die „scharfen Attacken“, die für seine Musik so typisch sind, doch nicht geeignet. Nun aber fand er sich „mehr und mehr von den schönen Qualitäten der verschiedenen Register des Instrumentes und seiner außergewöhnlichen Agilität fasziniert“ und schrieb eine Partitur, in welcher die für Carter so typische komplexe Vielschichtigkeit, der atonale Biss und eine scharfkantige Virtuosität transparenter und von einer geistreichen Verspieltheit durchtränkt erscheinen. Eine fein ziselierte, ein eindeutiges Metrum außer Kraft setzende Rhythmik erzeugt Schwebezustände von einer silbern funkelnden Atmosphäre, und wenn die Orchesterflöte der Soloflöte als Echo folgt, entsteht ein Konzertieren, das sich auch als amüsante Unterhaltung begreift. Eine Art Concertino-Gruppe ist aus Harfe, Klavier und Schlagzeug formiert. Immer wieder kommt es aber auch zu schroffen Klangballungen, mit denen das Ensemble geradezu Schläge gegen die Flöte austeilt. Der Mittelteil wiederum ist von langen, gesanglichen Kantilenen geprägt, mit denen sich die Flöte wie eine nachdenkliche Beschwörerin durch ihre verschiedenen Register „schlängelt“, während die übrigen, zu einem filigranen Klangteppich verwobenen Instrumente sich nur mit spärlichen Kommentaren zu Wort melden. Wie Carters Oper What Next? endet auch das Flötenkonzert mit einem Fragezeichen: völlig überraschend entschwindet das Soloinstrument, das Ensemble verwirrt über diesen unvorhersehbaren Abgang zurücklassend. Auf krachende Akkordschläge und ein sich ins Fortissimo steigerndes Crescendo folgt nur noch Stille.
Anders als viele seiner Zeitgenossen, die, einer postmodernen Ästhetik verpflichtet, bekannte Themen, Formen und Stile in ihre kompositorischen Texturen einweben und damit Assoziationsräume öffnen, ist Carter in seinen Werken stets ganz bei sich. Nichts gibt es dort, das dem Zuhörer Vertrautheit vermittelt, nirgends findet sich ein „Déjà vu“ für die Ohren – vielleicht ist es das, was die Auseinandersetzung mit dem Schaffen dieses Komponisten so anspruchsvoll und zugleich aufregend macht.