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Häfen des Lebens
Lieder von Liebe, Tod und Meer
Cora Bethke
The whole world’s life is a chant to the sea-tide’s chorus
Are we not as waves of the water, notes of the song?
Das Leben der ganzen Welt ist ein Gesang zu der Wellen Chor Sind wir nicht wie Wellen des Wassers, Töne des Liedes?
Algernon Charles Swinburne, In Guernsey (1883)
Die Sopranistin Patricia Petibon ist bekannt für ihre unkonventionellen Konzertprogramme. In dramaturgisch ausgeklügelten Spannungsbögen kombiniert sie, meist gemeinsam mit ihrer Pianistin Susan Manoff, Musik unterschiedlicher Epochen und Stile, Sprachen und Kontinente, musiziert sie Neues wie Vertrautes. Zur Konzeption des heutigen Programms erläutert die Sängerin: „Die Liebe, der Tod, das Meer sind die Anlaufhäfen einer Reise, auf die wir alle uns während unseres kurzen Lebens einlassen. Gleich einem Belugawal durchfurchen wir die Wellen mit einem melancholischen und poetischen Blick, die Odyssee unserer Seelenzustände befragend: das Meer, das uns tröstet, das Meer, das uns in die Arme schließt oder uns gegen die Klippen wirft und unseren Kummer in Schaum aufgehen lässt. Wie Odysseus das Ufer hinter sich lässt, um das Unbekannte zu umfangen, versenken wir uns in eine klingende Inkarnation, einfach und nostalgisch, auf der Suche nach dem Sinn. Für die, die wir geliebt haben, für die, die uns verlassen haben, die wir lieben und lieben werden, für die, die wir in den Tiefen unserer Herzen tragen.“
Ferruccio Busonis Transkription von Bachs „Ich ruf’ zu Dir, Herr Jesu Christ“ eröffnet als instrumentaler Prolog den Abend. Die Konzert-Reise beginnt dann mit der Kreuzigung Jesu auf Golgotha: Samuel Barbers The Crucifixion ist Teil seiner Hermit Songs op. 29, zehn Lieder nach gälischen und lateinischen Texten aus dem 8. bis 13. Jahrhundert, die von anonym gebliebenen irischen Mönchen und Gelehrten verfasst wurden. Jesus und seine um ihn trauernde Mutter versinnbildlichen in diesen Versen die erste, allumfassende Liebe: Maria als Symbol der Mutterliebe schlechthin, Jesus als sichtbar gewordene, den Tod überwindende Liebe Gottes – der dennoch, zutiefst menschlich, mit seiner Mutter mitleidet.
Es schließen sich zwei Werke des 1961 geborenen französischen Komponisten Nicolas Bacri an. In All Through Eternity, das seinen Three Love Songs op. 96 entnommen ist, wird die Gesangsstimme, von einer einmaligen expressiven Steigerungsentwicklung abgesehen, mit großer Ruhe geführt und bildet gleichsam ein musikalisches Abbild des unvergänglichen Ewigen. A la mar entstammt dem 2010 komponierten Liederzyklus Melodías de la Melancolía, den Bacri Patricia Petibon gewidmet hat. Ein ungewöhnliches „Moderato ipnotico“ setzt der Komponist dem Lied als Vortragsbezeichnung voran, in dem die Sängerin, am Meer Zuflucht suchend, ihrer Melancholie mit regelrechten Schmerzensschreien Ausdruck verleiht. Erik Satie war ein Meister der Clownerie und des Bizarren. Musikalisch schlug sich dies unter anderem in skurrilen Werktiteln und Vortragsbezeichnungen nieder. Doch der Komponist pflegte seine Exzentrik in allen Lebensbereichen: So schloss er sich erst der Rosenkreuzerbewegung unter Sâr Péladan an, nur um einige Jahre später eine eigene Kirche zu gründen. Zwar war er selbst das einzige Mitglied seiner „Église metropolitaine d’art de Jésus conducteur“, dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, ihm unliebsame Menschen – wie etwa Musikkritiker – mit viel Getöse zu exkommunizieren. Von seinen Avant-dernières pensées („Vorletzte Gedanken“) aus dem Jahr 1915, einer Dreiergruppe von kurzen Klavierstücken, die jeweils einem anderen Komponistenkollegen zugeeignet sind, erklingen im heutigen Konzert das Claude Debussy gewidmete Idylle und die für seinen Schola-Cantorum-Lehrer Albert Roussel geschriebene Méditation. 1912 hatte Satie begonnen, mit Worten unterlegte Klavierwerke zu komponieren. Der Text zu Idylle beginnt mit den Zeilen: „Was sehe ich? Der Bach ist ganz nass…“, wozu die linke Hand fortwährend eine viertönige, wellenförmig aufsteigende Figur wiederholt. Auch in Méditation finden wir ein solches Ostinato, hier sind es schnelle, ein Quartintervall umspielende Achtel in der Oberstimme. In der dem Klavierstück unterlegten „Handlung“ geht es um einen Dichter, der in einem alten Turm eingesperrt ist und an dem ein Windzug der Inspiration vorbeizieht …
Zu den bekanntesten Werken des heutigen Abends gehören fraglos die beiden Lieder von Gabriel Fauré, Au bord de l’eau und Les Berceaux. Es handelt sich um Vertonungen von Versen René-François Sully Prudhommes, der als erster Autor überhaupt 1901 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Im Alter von 30 Jahren komponierte Fauré Au bord de l’eau über die (scheinbare) Unvergänglichkeit der Liebe. In ihrer leicht abgedunkelten cis-moll-Melancholie wurde diese zu einer seiner beliebtesten „mélodies“ überhaupt. Im ruhigen Sechsachteltakt zeichnet Fauré im Wechselgesang von Stimme und Klavier musikalische die Strömung des Flusses nach. So wie das Wasser sich stets wieder am tiefsten Punkt sammelt, so erdet sich die Gesangslinie nach jedem wellenartigen Aufschwung wieder zum Grundton hin. Im nach Dur aufgehellten Schluss beschwört die Sängerin ein letztes Mal die Unvergänglichkeit der Liebe, den schwebenden Schlusston festhaltend, während die Achtel im Klavier weiterfließen – eine Anspielung womöglich nicht nur auf die stete Fortbewegung des Wassers, sondern auch auf die des Lebens.
Vielleicht dachte Fauré bei der Komposition des Liedes 1875 an Marianne Viardot, die Tochter der berühmten Sängerin Pauline Viardot, in die er damals schon seit einiger Zeit verliebt war. Zwei Jahre später sollte er sich zwar mit ihr verloben, doch schon wenige Monate darauf löste Marianne die Verbindung und heiratete einen anderen Komponisten, Alphonse Duvernoy, mit dem sie bereits vor dem Intermezzo mit Fauré einmal verlobt gewesen war. Les Berceaux entstand während einer Reise nach Deutschland im Jahr 1879, in deren Verlauf Fauré unter anderem Köln, Bonn und München besuchte. Reisende Männer sind auch Thema des Liedes, denn nach dem Gedicht von Sully Prudhomme ist es deren Bestimmung, auf Schiffen die Welt zu entdecken, während es das Schicksal der Frauen ist, zurückzubleiben an den Wiegen ihrer Kinder. Kunstfertig zeichnet die Klavierstimme das Schaukeln von Booten und Wiegen nach. Wie eine einzige große Wellenbewegung steigert sich der meditative Beginn zu einem emotionalen Ausbruch, woraufhin Ruhe – und vielleicht Resignation – zurückkehren.
Obgleich der 1901 in Valencia geborene spanische Komponist und Pianist Joaquín Rodrigo als Kleinkind in Folge einer DiphterieErkrankung das Augenlicht verlor, gelang ihm eine außerordentliche Musikerkarriere: In jungen Jahren nahm er Geigen- und Klavierunterricht, später kamen Theoriestudien hinzu, bevor er 1927 nach Paris zog und bei Paul Dukas an der École normale de musique Komposition studierte. Rodrigo arbeitete als Musikkritiker, er war langjähriger Professor für Musikgeschichte in Madrid, erhielt zahlreiche Auszeichnungen und wurde im Alter von 90 Jahren vom spanischen König in den Adelsstand erhoben. Seine berühmteste Komposition ist das Concierto de Aranjuez für Gitarre und Orchester. Das Lied Adela entstammt seiner Sammlung Doce canciones españolas aus dem Jahr 1951. In zwei lakonischen, im Volkston gehaltenen Strophen erzählt es vom bitteren Liebesschmerz der über die Untreue ihres Geliebten untröstlichen Adela.
Der vielseitige bretonische Komponist Yann Tiersen, der 2020 seinen 50. Geburtstag feiert, ist mit drei Klavierwerken im heutigen Programm vertreten. Einem breiten Publikum bekannt wurde er vor allem durch seine Filmmusik zu Le fabuleux destin d’Amélie Poulain (Die fabelhafte Welt der Amelie) aus dem 2001. Der ebenfalls aus der Bretagne stammende Jean Cras – zu Lebzeiten insbesondere für seine 1922 an der Opéra comique in Paris uraufgeführte Oper Polyphème gefeiert – ist heute nahezu unbekannt, überstrahlt vom Dreigestirn Fauré, Debussy und Ravel. Cras vereinte mehrere Talente und war nicht nur Komponist, sondern auch Konteradmiral bei der französischen Marine, Wissenschaftler und Philosoph. Studiert hatte er bei Henri Duparc, der ihm auch später freundlich verbunden blieb. La Rencontre ist eines von drei „chansons bretonnes“ auf eigene Gedichte, die er 1932 komponierte. Es erzählt von einem von der See zurückgekehrten Mann, der sich auf den ersten Blick in eine junge Frau verliebt, die ihm am Meeresufer begegnet.
10 Ein Sprung über den atlantischen Ozean bringt uns nach Argentinien zu der schwermütigen Samba Alfonsina y el mar. Sie ist eine Hommage von Ariel Ramírez an die legendäre, 1938 gestorbene argentinische Dichterin, Journalistin und Lehrerin Alfonsina Storni. Berühmt wurde das Lied vor allem in der Interpretation von Mercedes Sosa.
Zeitlebens schrieb Storni gegen zugewiesene Geschlechterrollen und die Diskriminierung von Frauen an. Als alleinerziehende Mutter eines unehelichen Kindes hatte sie am eigenen Leib erfahren müssen, welches Ausmaß diese annehmen konnte. Der künstlerische Durchbruch gelang ihr in der Männerdomäne der Literatur, ihr Name wurde bekannt, ihr Werk mit Ehrungen bedacht. Kaum vorstellbar, welche Kraftanstrengung sie diese Karriere gekostet haben muss, nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass sie auf Einkommen aus wechselnden Brotberufen angewiesen blieb. Im Alter von 46 Jahren, nach einer schweren und nicht überwundenen Krebserkrankung, suchte Alfonsina Storni den Freitod im Atlantik.
„Ein Gedicht in Musik zu setzen, muss ein Liebesakt sein, und niemals eine Vernunftehe“, sagte Francis Poulenc einmal. „Wenn ich ein Gedicht ausgewählt habe, das ich erst mehrere Monate später vertone, untersuche ich es in all seinen Aspekten. Stammt es von Apollinaire oder Éluard, achte ich sehr auf die Anordnung auf der Seite, die Leerstellen, die Seitenränder. Ich rezitiere das Gedicht häufig laut für mich. Ich höre es mir an, schaue mir die Probleme an, unterstreiche die schwierigen Stellen im Text mit Rot. Ich notiere mir, wo geatmet wird, versuche den innewohnenden Rhythmus durch eine Zeile zu erfassen, nicht unbedingt durch die erste. Dann versuche ich, es in Musik zu setzen, wobei ich auf die wechselnde Dichte der Klavierbegleitung achte. Wenn ich auf eine Schwierigkeit mit der Prosodie stoße, verzweifle ich nicht. Manchmal warte ich tagelang, bis ich das Wort vergesse und ein neues Wort darin sehe.“
Das Gedicht Sanglots von Guillaume Apollinaire stellte für den Komponisten wohl eine besondere Herausforderung dar. Apollinaire verzichtet nicht nur auf Satzzeichen, er lässt zudem zwei verschiedene Erzählebenen sich überlappen, was das Verständnis der surrealistische gefärbten Verse zusätzlich erschwert. Poulencs meisterliche Vertonung ist Frucht seiner intensiven, vom Wort geleiteten Arbeitsweise. Struktur und Gehalt des Gedichts werden den Hörenden unmittelbar zugänglich gemacht. Diese Klarheit, in Verbindung mit dem tief empfundenen, aber unsentimentalen lyrischen Gestus machen das Lied zu einer der berührendsten Kompositionen Poulencs.
Auf Enrique Granados und seine Zeitgenossen übten die Gemälde von Francisco Goya eine starke Anziehungskraft aus. Sie sahen in ihnen das authentische spanische Leben des ausgehenden 18. Jahrhunderts in seiner vielfarbigen, facettenreichen Atmosphäre verewigt. Insbesondere die Darstellung der so genannten Majas (und, in der männlichen Version, der Majos) faszinierte Künstler in dieser Zeit: So wurden Frauen der Unterschicht bezeichnet, die mit Charme, Temperament und einem unter dem Rock versteckten Messer ausgestattet waren. Großen Aufwand betrieben sie mit ihrer farbenprächtigen, aufwändig zusammengestellten Kleidung. Granados’ Faszination für die Majas inspirierte ihn zu einer Liedsammlung von Tonadillas im „alten Stil“. Unter Tonadilla verstand man im 18. Jahrhundert szenische Intermezzi zwischen den Akten eines Bühnenwerks, mit dem Begriff konnten aber auch einfache Lieder gemeint sein, was bei den heute zu hörenden Werken von Granados der Fall ist. ¡Ay! Majo de mi vida, El mirar de la maja und De aquel majo amante faszinieren durch die Tiefe des Ausdrucks bei gleichzeitiger Einfachheit der Mittel.
Granados verlor sein Leben 1916 unter tragischen Umständen. Dabei hatte das Jahr für ihn besonders vielversprechend begonnen: Er war mit seiner Frau nach New York gereist, wo im Januar an der Metropolitan Opera seine Oper Goyescas uraufgeführt wurde. Es folgte ein glanzvoller Galaabend im Weißen Haus in Washington. Die Rückreise per Schiff nach England verlief ohne Zwischenfälle – entgegen aller Befürchtungen, die das Ehepaar Granados vor der Abreise geäußert hatte, schließlich befand man sich mitten im Ersten Weltkrieg. Am 24. März 1916 wollten die beiden mit der Kanalfähre von Folkstone nach Dieppe übersetzen. Auf der Überfahrt wurde das Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert. Zwar konnten zahlreiche Passagiere gerettet werden, doch zu den etwa 50 Todesopfern zählten auch Granados und seine Frau, die in den Fluten ertranken. Spanien hatte eine seiner wichtigsten musikalischen Stimmen verloren.
Mit Worten irischer Geistlicher begann der heutige Liederabend, mit einer traditionellen irischen Melodie klingt das Konzert aus: dem berühmten Danny Boy in einem Arrangement von Laurent Levesque. Der Text stammt aus der Feder von Frederic Weatherley, der die Verse 1913 auf die Melodie der traditionellen Londonderry Air dichtete. Die über den Tod hinaus beständige Liebe ist das Motiv des Liedes, das in unzähligen Bearbeitungen um die Welt ging. „Und ich werde in Frieden schlafen, bis du zu mir kommst“: versöhnlicher und hoffnungsfroher Abschluss einer bewegten Reise durch das menschliche Seelenleben.
Cora Bethke studierte Musikwissenschaft, Gesang und Italienisch in Bristol, Reading und Venedig. Sie leitet das Künstlerische Betriebsbüro der Hofer Symphoniker, für die sie auch Programmhefttexte schreibt und Konzerteinführungen gestaltet.