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Über Spiegel und andere Phänomene

Klavierwerke aus drei Jahrhunderten

Meike Pfister

„Konzerte sind heutzutage eine ernste Sache.“ So schreibt der Pianist Alfred Brendel in seinem Essay Gibt es eigentlich lustige Musik? und diagnostiziert weiterhin: „Musik hat, bei den meisten Interpreten und dem überwiegenden Teil des Publikums, nichts zu lachen.“ Dass Künstler ebenso wie Hörende auf diese Weise etwas verpassen und es in der Musikgeschichte genügend Werke gibt, bei denen gelacht werden darf und soll, führt er im Anschluss aus. Robert Schumanns Humoreske, die das Programm des heutigen Abends beschließt, hält diesbezüglich allerdings nicht, was der Titel verspricht. Der romantische Humorbegriff des Komponisten überträgt sich in diesem Werk laut Brendel „nicht als etwas Komisches, sondern als Sprunghaftigkeit, Laune, Caprice.“ Was Schumann innerhalb der Humoreske im Kleinen durch ein freies und phantasievolles Reihen unterschiedlichster Episoden verwirklicht, reflektiert William Youn in der Gesamtkonzeption seines vom Bild des Spiegels inspirierten Konzertprogrammes: Neben Mozarts berühmte A-Dur-Sonate stellt er nicht nur Rebecca Saunders’ 200 Jahre später entstandenes Mirror, Mirror on the Wall, sondern auch Ravels Miroirs und Miniaturen aus Griegs Lyrischen Stücken, um schließlich bei einem der umfangreichsten einsätzigen Klavierwerke des frühen 19. Jahrhunderts, der Humoreske, anzukommen.

„Freu Dich mein Herz! Denk an kein Schmerz!“ Mozarts Klaviersonate A-Dur KV 331

Mozarts Sonate eröffnet das Konzert mit einem Thema, das sich durch vollendete achttaktige Symmetrie und Geschlossenheit auszeichnet. Doch konterkariert der Komponist mit zwei sforzatoAkzenten bewusst die Harmonie des sanft sich wiegenden Sicilianos. Ob es tatsächlich das Lied „Freu Dich mein Herz! Denk an kein Schmerz!“ aus der Ostracher Liederhandschrift war, das ihm hier als melodische Vorlage diente, mag dahingestellt bleiben. Die darin besungene Einheit von Schmerz und Freude jedenfalls benennt ein Merkmal Mozartscher Musik, das in diesem Thema besonders deutlich zutage tritt.

In sechs Variationen wandelt sich der Charakter des Themas vom Graziösen ins Erhabene. Statt eines langsamen Satzes, der in Mozarts Klaviersonaten üblicherweise an zweiter Stelle steht, folgt ein ausgedehntes Menuett – womöglich sah der Komponist den lyrischen Aspekt eines langsamen Satzes schon im Kopfsatz ausreichend integriert. Ganz und gar den Geschmack des zeitgenössischen Wiener Publikums spiegelt der mit „Alla turca“ überschriebene dritte Satz. Der „türkische“ Stil war damals nicht nur musikalisch sehr beliebt (manche Fürstenhöfe unterhielten sogar eine eigene Janitscharenkapelle), sondern zeigte sich ebenso in Interieur, Kleidung und Kaffeekonsum des modebewussten Bürgertums. Wohl nicht zufällig fällt die Entstehung der Sonate im Jahr 1783 mit den ausgiebigen Feierlichkeiten rund um das 100 Jahre zurückliegende Ende der Türkenbelagerung Wiens zusammen. Der Wechsel von Dur und Moll, die Einfachheit der Melodik und Harmonik, die stilisierten Trommel- und Piccoloflötenklänge sowie die wuchtigen Klangballungen nehmen Bezug auf die Kriegsmusik der Janitscharen, welche laut Mozarts Zeitgenossen Christian Daniel Schubart „auch feigen Seelen den Busen hebt.“

„Stille ist nicht stumm“ Rebecca Saunders’ Mirror, Mirror on the Wall

Die unmittelbar ins Ohr gehenden, sanglichen Themen Mozarts begegnen in Rebecca Saunders’ Mirror, Mirror on the Wall einem bewussten Verzicht auf Melodie. Das Stück entstand 1994 während ihres Studiums in Karlsruhe bei Wolfgang Rihm, zu einer Zeit, in der sich Saunders zugunsten der Erforschung einzelner Töne und ihrer Klangfarben radikal von Melodiebildungen distanzierte. Als sie in blaauw für Trompete solo aus dem Jahr 2004 zum ersten mal wieder eine Melodie schrieb, fühlte es sich „befreiend“ und wie eine „mutige Tat“ an, so die Komponistin, „weil ich 15 Jahre darauf gewartet hatte. Es hat dann Spaß gemacht.“ Der Titel Mirror, Mirror on the Wall ist nicht programmatisch, sondern als assoziativer Impuls zu verstehen. Ausgangspunkt beim Komponieren ist für Saunders – 1967 in London geboren und mittlerweile in Berlin beheimatet – immer die physische Präsenz des Klanges. In Mirror, Mirror reizt sie die akustischen Möglichkeiten des Klaviers bis in die Extreme aus. Als verbindendes Element wirkt eine immer wieder auftauchende Linie aus zwei sich reibenden Tönen, die sich durch die verschiedenen tanzartigen Teile zieht (von denen einer ganz konkret mit „Waltzing“ überschrieben ist). Das Stück diente laut Saunders auch als Übung im Verzicht auf die Bespielung des Klavierinnenraums, einem in der zeitgenössischen Klaviermusik häufig verwendeten Mittel. Weglassen und Reduzieren zählen bis heute zu den Säulen ihrer kompositorischen Überzeugung. Wesentlich geprägt wurde sie diesbezüglich von den literarischen Werken Samuel Becketts: „Beckett wägt jedes Wort und seinen Schatten, sein Echo ab. […] seine zutiefst reduzierte, beinahe skelettartige Prosa ist erbarmungslos direkt und doch höchst fragil. Diesen Aspekt seines Schreibens fand ich hypnotisierend. Ich fing an, zunächst unbewusst, Klangfragmente zu suchen, mit dem Potenzial, fragil, flüchtig und unglaublich leise zu sein, und, obwohl immer noch sehr labil, auch brutal und direkt zu werden.“ Ebenso große Bedeutung wie den Klängen als solchen kommt dementsprechend den Zwischenräumen zu, der Stille, denn „die Stille ist nicht stumm, sie ist voller Erwartungen, Geräusche, gewollter und nicht gewollter Resonanzen.“

Naturalistische Spiegelungen Maurice Ravels Miroirs

Anders als Rebecca Saunders setzt Maurice Ravel die Titelüberschriften innerhalb seines fünfteiligen Zyklus Miroirs (Spiegel) aus dem Jahr 1905 auf naturalistische Weise in Musik um. Mit Une Barque sur l’océan (Ein Schiff auf dem Ozean) und Alborada del gracioso (Morgenständchen eines Narren) hat William Youn die pianistisch anspruchsvollsten Stücke daraus ausgewählt. Ersteres zeigt Ravels impressionistisches Gesicht: ob ruhig wogend, gischtsprühend oder sanft gekräuselt erscheint das Wasser in virtuosen Klangkaskaden, immer wieder neue Gestalten werden in Form von in sich kreisenden Melodiefragmenten angedeutet.

Eine völlig andere Klangsprache spricht Ravel in Alborada del gracioso. Seine unvergleichliche Fähigkeit, verschiedenartigste Tonfälle und Stile präzise zu erfassen – sei es die Musik alter Meister, Jazz, hebräische, fernöstliche oder wie in diesem Fall spanische Folklore – und dabei stets als er selbst erkennbar zu bleiben, stellt er hier einmal mehr unter Beweis. Unter einer Alborada verstand man ursprünglich einen mittelalterlichen Gesang, mit der sich ein Ritter in den Morgenstunden von seiner heimlichen Geliebten verabschiedete. Ravel zieht das Genre ins Absurde, indem er das Ganze einem Narren in den Mund legt – hörbar in den langsameren, einstimmigen Abschnitten im Mittelteil des Stückes.

„… wie Konfekt, mit Schnee gefüllt“ Edvard Griegs Lyrische Stücke

Während Ravel die meiste Zeit seines Lebens in Paris verbrachte und sich mit seinem dandyhaften Auftreten in der Großstadt offensichtlich zuhause fühlte, wurde Edvard Grieg mit dieser Stadt nie warm: „Übermorgen verlassen wir Paris und ich freue mich darüber, denn ich passe nicht für alle diese Visitenkartenmenschen! Die Formalitäten hier sind unglaublich. Wenn ich noch länger hier bliebe, würde ich keinen natürlichen Ton, keine Harmonie mehr erfinden können! Das klingt übertrieben, aber ich sage Dir, nicht nur der Mensch, sondern auch der Künstler hängt mit dem Klima zusammen!“ Grieg war als Mensch wie als Künstler zeitlebens eng mit seinem Heimatland Norwegen verbunden. Als erster norwegischer Komponist überhaupt errang er europaweiten Erfolg. Ganz der von Deutschland ausgehenden Romantik verpflichtet und insbesondere von Schumann inspiriert, sah sich der 1843 in Bergen geborene Grieg mit derselben Herausforderung konfrontiert wie fast alle seine Kollegen im 19. Jahrhundert: Wie kann ein Komponist schreiben in der Nachfolge der Klassiker, vor allem Beethovens? Insbesondere in Bezug auf die großen Formen wie Sonate und Symphonie spricht der Musikwissenschaftler Peter Gülke gar von einem Trauma Griegs. Weniger durch Traditionen vorbelastet und freier in der formalen Gestaltung war das sogenannte Charakterstück, ein meist für Klavier komponiertes kurzes Werk mit mehr oder weniger deskriptivem Titel. Nicht nur befreite die Beschäftigung mit dieser Gattung Komponisten wie Schumann, Mendelssohn oder Grieg vom übermächtigen Schatten Beethovens, sie bediente gleichzeitig die zunehmende Nachfrage des am Klavier dilettierenden Bürgertums nach Musik für den Hausgebrauch. Die am heutigen Abend erklingenden Werke – Sommerfugl (Schmetterling), Småfugl (Vöglein) und Bækken (Bächlein) – sind in diesem Zusammenhang allerdings weniger geeignet, handelt es sich doch um drei der virtuosesten unter Griegs insgesamt 66 Lyrischen Stücken. Claude Debussy beschrieb die zwischen 1867 und 1901 in zehn Heften herausgegebenen Kompositionen als „Konfekt, mit Schnee gefüllt, süß und schön, dabei herrlich luftig und kühl erfrischend“. In ihrer Gesamtheit stellen sie innerhalb von Griegs Schaffen gleichwohl ein kompositorisches Schwergewicht dar, in ihrer Idee vergleichbar mit dem Zyklus Lebensfries seines Landsmannes und Zeitgenossen Edvard Munch: „Es ist als eine Reihe zusammengehöriger Bilder gedacht“, erklärte der Maler zu diesem Werk, „die gesamthaft ein Bild des Lebens geben wollen. Durch den ganzen Fries hindurch zieht sich die weitgeschweifte Strandlinie, hinter welcher das ewigbewegte Meer brandet; unter Baumkronen atmet das vielfältige Leben mit seinen Sorgen und Freuden. Der Fries ist als ein Gedicht von Leben, von der Liebe und vom Tod empfunden.“

„Gemütlich und witzig“ Robert Schumanns Humoreske

Dass der Humor in Schumanns Humoreske nicht im geläufigen Sinn des Wortes zu verstehen ist, spiegelt sich nicht zuletzt in einer Äußerung des Komponisten, der das Stück als „wenig lustig und vielleicht mein Melancholischstes“ bezeichnete. Die Gattung der Humoreske, die auch im Schaffen Griegs oder Max Regers eine Rolle spielt, lässt sich ihrem Wesen nach nicht definieren, da gerade die individuelle Freiheit des Komponisten in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung ist. Ebenso wie das Charakterstück, dem sich Schumann eng verbunden fühlte, kann auch die Humoreske als eine romantische Reaktion auf den klassischen Formenkanon und den dadurch bedingten Rezeptionsdruck angesehen werden. Gleichzeitig verstanden die Romantiker aber Beethovens späte Sonaten und Symphonien auch als Verkörperungen des musikalischen Humors, da sich diese Werke durch ein phantasievolles und geistreiches Spiel mit gängigen Normen auszeichnen. Die Fähigkeit dazu wiederum gilt als ein Wesensmerkmal des Genies, weshalb diese beiden Begriffe im 19. Jahrhundert zusammenrücken. Nach Jean Paul definiert sich der Humor durch eben jene Doppelnatur aus Phantasie und Geist. Und auch Schumanns Beschreibung, die den Humor als eine Mischung aus „gemütlich und witzig“ charakterisiert, fußt auf Jean Paul. Offensichtlich befand sich Schumann beim Schreiben der Humoreske in einem Rausch der Phantasie – oder eben des „Gemütes“. 1839 berichtete er an Clara, die er im darauffolgenden Jahr gegen den Widerstand ihres Vaters endlich heirateten konnte: „… die ganze Woche saß ich am Klavier und komponierte und schrieb und lachte und weinte durcheinander: dies findest Du nun alles schön abgemalt in meinem op. 20, der ,großen Humoreske‘, die auch schon gestochen wird. […] Zwölf Bogen in 8 Tagen fertig geschrieben – nicht wahr, da verzeihst Du mir, daß ich Dich habe ein wenig warten lassen.“ Das 20-minütige Werk erweckt den Eindruck, als habe Schumann seinem Schaffensrausch am Ende selbst Einhalt geboten. An die Stelle eines organisch sich ergebenden Schlusses tritt ein „Beschluss“, den sich der Komponist geradezu abgerungen zu haben scheint: „…manchmal ist es mir, als könnte ich immer fort spielen und nie zu einem Ende kommen“. Dennoch gestaltet sich dieser Beschluss introvertiert, wie ein gedankenverlorenes Reflektieren oder Nachsinnen. Ohne die abrupt einsetzende Coda käme auch er womöglich nie zum Ende.

Meike Pfister lebt als Pianistin, Musikwissenschaftlerin und Moderatorin in Berlin und ist hauptsächlich an der Universität der Künste und der Philharmonie Berlin sowie an der Elbphilharmonie in Hamburg tätig.

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