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Giselle und Meister

Musik von Pierre Boulez

Paul Griffiths

Die erste Hälfte des heutigen Konzerts lässt drei Jahrzehnte an uns vorüberziehen, von Pierre Boulez’ explosiven Anfängen als Komponist bis zu seiner künstlerischen Reife – von dem Augenblick unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als er davon überzeugt war, dass Schönbergs Serialismus den Weg nach vorn weisen würde, bis zu einer Zeit, in der kreisende Harmonien, die nur im Geiste seriell waren, eine labyrinthische, eher spiralförmig als pfeilgerade verlaufende Zukunft entwarfen.

Wir beginnen am Anfang. Zu der Zeit, als er seine Sonatine für Flöte und Klavier schrieb, war Boulez gerade einmal 20 Jahre alt und stand am Beginn seiner Karriere. Obwohl im Jahr zuvor bereits ein Werk von ihm im Rundfunk gesendet worden war (Trois Psalmodies für Klavier) und obwohl er später seine in der Zwischenzeit geschriebenen Notations wieder hervorholen sollte, blieb diese Sonatine jahrzehntelang sein Opus 1 und verlangt geradezu danach, als gewaltsames Hervorbrechen einer neuen musikalischen Persönlichkeit interpretiert zu werden. Wo sie sich auf die Vergangenheit bezieht, tut sie dies nur, um zu widersprechen. Ihre Ausdrucksmittel sind im Wesentlichen die eines eleganten französischen Klassizismus, von dem sich Boulez so weit wie möglich distanziert. Und obwohl die einsätzige Form von Schönbergs Erster Kammersymphonie inspiriert war (die Boulez im Dezember 1945, unmittelbar bevor er zwei Monate lang an seiner Sonatine arbeitete, seinen Lehrer René Leibowitz hatte dirigieren hören), ahmt er den thematischen Entwicklungsstil, der Schönbergs Form erst ermöglichte, an keiner Stelle nach – mit Ausnahme des Scherzos. Das Stück ist im Grunde gar nicht themenbezogen, sondern sprunghaft motivisch, und seine Entwicklungsverläufe sind ihrem Charakter nach eher Weiterführungen, die durch schärfere und verdrehte Darstellung der gleichen Grundgedanken an Intensität gewinnen. Wie Boulez selbst andeutete, zeigt der Klaviersatz zwar, welche Bedeutung Schönbergs Drei Klavierstücke op. 11 zu dieser Zeit für ihn hatten, indem sie ihn zu schnellen Wechseln und zur Nutzung aller Mittel ermutigten, doch in ihrem flackernden Wechselspiel von Motiven – aus zwei, drei, fünf Noten – ist diese Musik in einer von Messiaen abgeleiteten Weise emphatisch gegen Schönberg gerichtet.

Gleichzeitig kritisiert das Stück implizit Messiaens Verfahren der blockweisen Zusammensetzung seiner Musik, indem es zeigt, dass auch das fragmentarischste Material über 510 Takte ununterbrochener Deklamation hinweg tragfähig ist. Vor allem aber wendet sich die Sonatine entschieden gegen Leibowitz, insofern sie darauf besteht, dass rhythmische Profile sich von ihrer üblichen Rolle bei der Gestaltung des melodisch-harmonischen Materials unabhängig machen können. In seinem 1947 erschienenen Buch Schœnberg et son école zeigte Leibowitz anhand seiner eigenen Flötensonate von 1944, wie konstante rhythmische Variation zusammen mit einem metrischen Gerüst die Polyphonie von Melodielinien bestimmen kann. Boulez konterte in seinem Artikel Propositions im darauffolgenden Jahr mit einem Zitat aus seiner Sonatine, um einen Kontrapunkt aus benachbarten rhythmischen Zellen vorzuführen, bei dem es kein zugrunde liegendes Metrum gibt, keine Verschmelzung mit irgendeiner Tonhöhenstruktur und keine Trennung der Linien, außer dass eine von ihnen der Flöte zugeordnet ist.

Boulez gewann die Idee der rhythmischen Struktur als grundlegendes Element von Messiaen und Strawinsky sowie aus der von ihm bewunderten afrikanischen und asiatischen Musik, auch wenn die Wirkung des Aufbaus aufgrund der fehlenden Verknüpfung von rhythmischer Figur und Intervallmuster häufig darin besteht, dass er ein Durcheinander von sprunghaften Linien hervorbringt, deren Form aus einem stetigen Crescendo hervorgehen muss. Doch der Absturz von Struktur ins Chaos – die Art und Weise wie systematische kompositorische Abläufe Unordnung erzeugen und einfache Motive bis zur Unkenntlichkeit herausgehämmert werden können – trägt wesentlich zur Wirkung des Werkes bei. Derartig stark verästelte Ausgestaltungen sprengen die kategorialen Grenzen: Polyphonie wird zur Wolke, die Unterscheidung zwischen Harmonie und Melodie löst sich in Arpeggierungen auf, der metrische Rhythmus wird zu einer konstanten Ungleichmäßigkeit oder, wie im Scherzo und im Finale, zu einem intensiven Pulsieren zerschlagen, und selbst die beiden Instrumente werden zusammengeschweißt, indem die Flöte vom Klavier verfolgt oder verdoppelt wird, was häufig zu einem Rollentausch führt und die Flöte zur Begleitstimme macht.

In ihrer Form kehrt die Sonatine die Reihenfolge der inneren Sätze bei Schönberg um. Die langsame, kapriziöse Einleitung (in der Schönbergs zentrale Quarte durch die bestimmende Figur einer großen Septime oder kleinen None ersetzt wird, die eine Quarte oder Quinte plus Tritonus enthält) führt zu einem kurzen, schnellen Satz hin, der durch die Vorstellung der Zwölftonreihe in Flötenmotiven eingeleitet wird, da Boulez die Schönbergsche Reihe bereits als Folge kleiner harmonisch-melodischer Einheiten neu konzipiert hatte. Dann folgt der langsame Satz, dessen Triller und Kaskaden ein direkter Vorgriff auf die 20 oder 30 Jahre später entstandenen Werke sind, die im heutigen Programm folgen. Das anschließende Scherzo (mit „avec humeur“ überschrieben, einzigartig in Boulez’ Schaffen) umkreist ein hüpfendes Thema und beinhaltet ein Trio, das wie ein verfrühter Versuch erscheint, das Werk zu beenden. Es folgt der dreifache rhythmische Kontrapunkt, auf den Boulez in seinem Essay aufmerksam gemacht hat, eine Klavierkadenz und schließlich das vom Klavier angeführte Finale. Der Schluss besiegelt den Charakter des Werkes als Beschwörungsformel im Geiste des einen selbstgewählten Mentors, dem der junge Boulez nicht widersprechen wollte: Antonin Artaud.

Drei Jahrzehnte später war Boulez natürlich nicht mehr der kühn-querköpfige Anfänger, sondern ein bedeutender Mann, der als Dirigent um die Welt reiste und kurz darauf die Leitung eines für ihn geschaffenen Forschungsinstituts in Paris übernehmen sollte. Noch vor dessen Eröffnung beteiligte er sich 1976 an einem Strauß musikalischer Gaben zum 70. Geburtstag des Schweizer Mäzens Paul Sacher, dessen Förderung er wie viele andere Komponisten genossen hatte. Mstislav Rostropowitsch sollte das Geschenk darbieten, das dementsprechend hauptsächlich aus Stücken für SoloCello bestand. Boulez jedoch verstärkte die Solostimme in seinem Messagesquisse (der Titel besteht aus den Worten für „Botschaft“ und „Skizze“) durch Hinzufügung sechs weiterer Celli.

Die Botschaft des Stücks setzt sich schlicht aus dem Nachnamen des Widmungsträgers zusammen, passend zu dessen Schweizer Herkunft in deutschen und französischen Notenbezeichnungen als Es–A–C–H–E–Ré geschrieben und außerdem in Form von Morsezeichen gespielt. Dieses Urmotiv, dessen Ausgangspunkt der Ton Es ist, verbindet das Stück mit dem „…explosante-fixe…“-Projekt, das aus Werken (darunter das Orchesterstück Rituel) besteht, die auf einer von Boulez fünf Jahre zuvor im Gedenken an Strawinsky verfassten Skizze basieren. Das Stück gleicht einer Folge von fünf Variationen über die rätselhafte Vorstellung des Sacher-Motivs am Anfang: Insgesamt gibt es also sechs Abschnitte für die sechs Buchstaben und aus demselben Grund sechs zusätzliche Musiker, die den Solisten vervielfältigen und verstärken.

Sachers Name wird zunächst von der Solistin in Flageolett-Tönen angestimmt, wobei jeder Ton von einem der anderen Spieler ausgehalten wird, sodass sich ein Sechstonakkord aufbaut. Im Verlauf der ersten Variation wird dieser sukzessive zugunsten von Morsebotschaften auf dem Ton Es zerlegt, während die Solistin die fünf Transpositionen des Themas spielt, die das Es enthalten, neu geordnet, so dass sie alle mit diesem Ton beginnen. Die zweite Variation ist ein mit Sacher durchsättigter polyphoner Satz in raschen, regelmäßigen Sechzehntelnoten, die durch einmütige Fortissimo-Stöße durchbrochen werden. Im Gegensatz zu dieser ungeduldig vorangetriebenen Toccata stehen trillernde Akkorde, die jeweils eine Transposition der Sacher-Figur darstellen, während die Solostimme ruhiger wird. (Ähnliche und für Boulez sehr typische Kontraste von pulsgebundener und nicht pulsgebundener Musik – „gekerbte Zeit“ und „glatte Zeit“, wie er es nannte – gab es bereits in der Sonatine.) Die vierte Variation besteht aus einer Solokadenz mit sechs jeweils auf Es endenden Strophen, und die letzte ist ein weiteres kurzes Perpetuum mobile, das so schnell wie möglich gespielt werden soll und erneut durch die Transpositionen wandert, die die Buchstaben des geehrten Namens enthalten. Im Jahr 2000 gab Boulez seine Zustimmung zu einer von Christophe Desjardins eingerichteten Version für Bratschen, die es erlaubt, das Stück zusammen mit dem bratschenbetonten Éclat/ Multiples in einem Programm zu spielen.

Bereits in der Sonatine gab es nicht nur ein Wechselspiel zweier unterschiedlicher Zeiterfahrungen, sondern auch einen klanglichen Gegensatz zwischen dem Gehaltenen (in diesem Fall von der Flöte) und dem Flüchtigen, das nur als Nachhall fortwirken kann. Boulez’ Interesse an Resonanzeffekten findet sich bestätigt durch Le Marteau sans maître, seine Dritte Klaviersonate, das zweite Buch der Structures für zwei Klaviere und vor allem durch Pli selon pli, in dem das Orchester so auf gestimmte Schlaginstrumente (einschließlich Klavier) ausgerichtet war wie zuvor auf Streicher. Für ein Konzert in Los Angeles anlässlich seines 40. Geburtstags brachte Boulez dann diesen Wesenskern seiner selbst vollständig zur Geltung in Éclat, dessen Titel etwas Plötzliches und Strahlendes suggeriert, einen Blitz, der später in Éclat/Multiples widerhallt und reflektiert wird. In Éclat steht einer gestimmten Schlagzeuggruppe mit neun Instrumenten – Klavier, Celesta, Harfe, Glockenspiel, Vibraphon, Mandoline, Gitarre, Cimbalom und Röhrenglocken – ein klangtragendes Sextett gegenüber, das aus Paaren von Holzbläsern (Altflöte und Englischhorn), Blechbläsern (Trompete und Posaune) und Streichern (Bratsche und Cello) besteht. Von den Schlaginstrumenten kam nur das Cimbalom noch nicht in Pli selon pli vor. Man kann es vielleicht als Reminiszenz an Strawinskys Renard betrachten, das zusammen mit den Gamelan-Elementen in den Partituren Messiaens und der serenadenartigen Mandoline und Gitarre bei Mahler, Schönberg und Webern eine Synthese aus Boulez’ Bezugspunkten ergibt und damit auch ein prägnantes Bild seiner selbst – als in seinen Gesten und seiner beweglichen Spielweise charakteristisches Ensemble. Die Instrumente eignen sich hervorragend für farbenreiche Einwürfe, glitzernde Triller und lange nachhallende Klänge, und sie tendieren dazu, extrem schnell aufzublitzen oder bewegungslos zu verharren, was beides kein Gefühl für Tempo vermittelt. Darüber hinaus überlässt ihre Musik Einzelheiten des Timings, der Reihenfolge und der Dynamik oft dem Dirigenten, der so gleichsam auf der vielmanualigen Tastatur dieser neun Instrumente improvisiert. Die Wirkung von Éclat besteht in weiten Teilen aus einer freien, fließenden Verkettung von leuchtenden Klangereignissen, doch in den äußeren Abschnitten findet sich in Bezug auf Ordnung und Richtung der umgekehrte Fall. Eine einleitende Klavierkadenz beginnt mit einer Kette von Grundakkorden (durchaus vergleichbar mit der Sonatine und Messagesquisse), von denen der letzte vom Bläser-Streicher-Sextett leise gehalten wird, und setzt sich fort mit einer Toccata in gleichmäßigen Notenwerten (wie sie auch in den beiden anderen Stücken zu finden ist). Dann übernimmt die gesamte Schlagwerkgruppe mit sprühenden Funken, worauf ein langsamer Mittelteil und weitere schnelle, flimmernde Klänge folgen, die das Sextett und mit ihm in einer lebhaften Jagd von StakkatoAkkorden einen entschlosseneren Rhythmus zurückbringt, dem sich die Schlagwerkgruppe wie erstaunt unterordnet.

Damit sind alle Voraussetzungen geschaffen. Was im weiteren Verlauf von Éclat/Multiples musikalisch geschieht, hat Boulez so beschrieben: „Die mannigfachen Widerspiegelungen der ursprünglichen musikalischen Visionen vermischen sich untereinander und erzeugen divergierende Perspektiven, wie sie etwa Paul Klee in einigen seiner Bilder vorschwebten.“ Die Idee bestand darin, dass jedes neue „Cahier“ („Heft“) des Werkes ein Instrument des Sextetts zu einem vollständigen Ensemble vervielfältigen und dieses zusätzlich durch einen Vertreter der bisher nicht repräsentierten Klarinettenfamilie ergänzen sollte. Im Jahr 1970 stellte Boulez das erste „Cahier“ vor, mit dem er durch Hinzufügung von neun Bratschen und einem Bassetthorn ein fast halbstündiges Werk schuf. Danach allerdings wurde die zentrale Konstellation von Solo-Schlagzeuggruppe und stützendem Orchester durch Répons übernommen. Mit Hilfe der zusätzlichen Bratschen setzt sich die rasche, sprunghafte Musik, mit der Éclat endete, fort. Doch die Energie verliert sich bald, und der Einsatz des Bassetthorns leitet über zu einer langsamen, weit gespannten Melodie, die von der Bläser-StreicherGruppe gespielt wird, zu der nach einer Weile verzierende Glissandi der Bratschen und klirrende Arpeggien des Schlagwerks treten. Auf diese Weise reflektieren sich die beiden Klangarten – wandelbar die eine, widerhallend die andere – über den Cantus firmus hinweg gegenseitig. Die Melodie – ein Gebilde aus Intervallen und harmonischen Spannungen, das zuerst im Mittelteil von Éclat umrissen wurde – und ihre Bestandteile werden dann zerlegt und neu konfiguriert zu einer rasch pulsierenden homophonen Einheit, durch deren Textur sich kontrapunktische Elemente zu weben scheinen, da sich die Instrumentierung mit jeder Achtelnote ändert. Das Tempo gerät jedoch bald ins Stocken, und die Melodie gewinnt wieder die Oberhand, in Form welcher Rückgriffe und Transformationen, welcher harmonischen Allianzen auch immer. Unterdessen prallen Ideen aufeinander, verschmelzen und breiten sich aus, und wir bleiben zurück mit der drängenden Frage, welchen Verlauf diese vielfältigen Konflikte nehmen würden, wenn die Musik immer weitere Kreise zöge.

Übersetzung: Sylvia Zirden

Paul Griffiths veröffentlichte 1978 das erste Buch über Pierre Boulez überhaupt. Zu seinen jüngsten Arbeiten zählen das Beethoven-Pasticcio O Freunde, nicht diese Töne!, ein Auftragswerk zur Eröffnung der „BTHVN 2020“-Feierlichkeiten in Bonn, und der im April dieses Jahres erscheinende Roman Mr. Beethoven.

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