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Zwischen Nachklängen und Vorahnungen

Beethovens Sonaten für Violine und Klavier

Michael Horst

Seit der Antike ist die Zahl Zehn Symbol für Vollkommenheit und göttliche Ordnung. Doch es führte sicherlich zu weit, wollte man die Reihe der zehn Violinsonaten Ludwig van Beethovens einer höheren Weisheit zuschreiben. Sie ist das eher zufällige Ergebnis einer Entstehungsgeschichte, die mit zwei Dreiergruppen ihren Ausgang nahm, mit einem Doppel-Opus fortgesetzt wurde und von zwei Einzelwerken gekrönt wird. Dabei markieren diese Violinsonaten weder Anfangs- noch Endpunkte: Als 1799 die erste Dreiergruppe op. 12 erscheint, hat Beethoven mit seinen Klaviertrios op. 1 und den Klaviersonaten op. 2 und op. 10 bereits sehr deutliche Spuren im Wiener Musikleben hinterlassen und seinen Anspruch als aufstrebender Komponist formuliert. Als 1812 seine zehnte Violinsonate op. 96 den Endpunkt in der Beschäftigung mit dieser Gattung markiert, liegen noch 15 schaffensreiche Jahre vor ihm – mit so außerordentlichen Werken wie den letzten fünf Klaviersonaten, mehreren Streichquartetten, der Neunten Symphonie und der Missa solemnis.

Insofern nimmt es vielleicht nicht wunder, dass die Violinsonaten bei der Gesamtschau auf das gewaltige Beethovensche Œuvre allzu leicht im Schatten anderer Werke stehen. Auch lassen sie sich kaum mit einfachen Schlagworten kategorisieren. „Ihre stilistische Haltung ist komplex“, notierte der legendäre ungarische Geiger Joseph Szigeti in seiner Abhandlung über Beethovens Violinwerke, „es

verbinden sich in ihnen – um die Extreme zu bezeichnen – Nachklänge des Galanten Stils mit der Vorahnung der heraufziehenden Romantik in einer einzigartigen Beethovenschen Synthese.“ Zweifellos ließen sich dazwischen noch verschiedene weitere Eigenschaften festmachen, die von „deutscher“ Innigkeit bis zu italienischer Kantabilität, von bedeutungsschwerem Pathos bis zur Präsentation instrumentaler Brillanz reichen.

Beethovens großes – und einziges – Vorbild in der Gattung der Violinsonate war Wolfgang Amadeus Mozart, dessen späte DuoKompositionen wie die große Es-Dur-Sonate KV 481 aus dem Jahr 1785 und die A-Dur-Sonate KV 526 von 1787 nur ein gutes Jahrzehnt zurücklagen. Wie Mozart konnte auch Beethoven auf fundierte Kenntnisse im Geigenspiel zurückgreifen, auch wenn er später dem Klavier den Vorzug gab und vor allem als improvisierender Tastenvirtuose das Publikum beeindruckte. Ersten Geigenunterricht erhielt er schon als junger Mann in Bonn, wo er bald darauf auch als Bratscher für die dortige Hofkapelle verpflichtet wurde. Aus der Wiener Zeit wird berichtet, dass Beethoven noch als 24-Jähriger seinen Freund, den berühmten Geiger Ignaz Schuppanzigh, um weitere Geigenlektionen gebeten habe. Und es waren nicht nur Mozarts Violinsonaten, denen Beethoven seine Reverenz erwies; für eine seiner kleineren Kompositionen für Violine und Klavier, die F-Dur-Variationen WoO 40, wählte er die Arie „Se vuol ballare“ aus Mozarts Figaro als Thema. Kaum überraschend ist es auch, dass Beethoven immer wieder „geigenfreundliche“ Tonarten wählte, die der Stimmung der vier Saiten entgegenkommen. Nicht weniger als drei Werke stehen in A-Dur, zwei weitere in G-Dur, dazu kommt die erste Sonate op. 12 Nr. 1 in D-Dur. Dennoch hielt der Komponist – vielleicht auch auf Wunsch der Verleger – an der überkommenen Rangordnung im Titel fest, die dem Tasteninstrument den Vorrang einräumt: „Tre Sonate per il Clavicembalo o Forte-Piano con un Violino“ lautet die Ankündigung für op. 12, und auch die drei Sonaten op. 30 werden, diesmal auf Französisch, als „Sonates pour le Pianoforte avec l’Accompagnement d’un Violon“ bezeichnet – eine höchst anspruchsvolle „Begleitung“ durch die Violine. Eine Veränderung bringt diesbezüglich erst die gewaltige „Kreutzer-Sonate“ op. 47, für die Beethoven einen höchst eigenwilligen Titel erfand: „Sonata per il Piano-Forte ed uno Violino obligato, scritta in uno stile molto concertante come d’un Concerto“ (Sonate für das Pianoforte und eine obligate Violine, geschrieben in einem sehr konzertanten Stil,

wie bei einem Konzert). Damit gehörte die althergebrachte Hierarchie, in der das Klavier unangefochten vor der Violine rangierte, ein für allemal der Vergangenheit an.

Als der 28-jährige Beethoven Anfang 1799 seine ersten drei Violinsonaten publizierte, hatte er sich mit der Sonatenform im kammermusikalischen Rahmen bereits ausführlich und auf sehr unterschiedliche Weise auseinandergesetzt – in den Klaviersonaten ebenso wie in den Streichtrios op. 3 und op. 9 oder den beiden Cellosonaten op. 5, die für den Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. komponiert wurden. Vielfalt prägt das Gesicht all dieser Werke, und Kontraste prägen auch die drei Violinsonaten op. 12. Vielleicht war es diese bewusst unangepasste Art, die kompositorischen Ideen immer wieder neu zu formen, die den Rezensenten der angesehenen Allgemeinen musikalischen Zeitung aus Leipzig seufzen ließ: „Es ist unleugbar, Herr van Beethoven geht seinen eigenen Gang, aber was ist das für ein bizarrer, mühseliger Gang! Gelehrt, gelehrt und immerfort gelehrt und keine Natur, kein Gesang!“

Dabei verfolgte Beethoven von Anfang an ein klares Konzept in der Strukturierung seiner Sonaten: die Kopfsätze gewichtig, die langsamen voll tiefer Empfindung und die Schlusssätze schwungvollgeradeheraus. Welten liegen dennoch zwischen dem energischen Unisono-Einstieg im straffen Viervierteltakt, mit dem die erste Sonate aus op. 12 sogleich volle Aufmerksamkeit einfordert, und der charmanten Einladung zum Zuhören, die in Nr. 2 in der absteigenden Klavierlinie im Sechsachteltakt zu erkennen ist. Den Mittelweg zwischen energiegeladenem Vorwärtsdrang und lyrischem Fantasieren zeigt schließlich der Beginn der Es-Dur-Sonate op. 12 Nr. 3. Allen drei Werken ist dabei das stürmische Temperament des jungen Komponisten schon auf den ersten Blick anzumerken: „Allegro con brio“, „Allegro vivace“ und „Allegro con spirito“ lauten die Vortragsangaben, mit denen die Aufmerksamkeit von Ausführenden wie Publikum gleichermaßen gefesselt wird.

In den ersten Violinsonaten wählt Beethoven durchgängig die Dreisätzigkeit, später tendiert er zur viersätzigen Anlage – zwei unterschiedliche Optionen, die wegweisend für die Dramaturgie der Violinsonate im 19. Jahrhundert werden sollten. Steht der langsame Satz allein in der Mitte? Oder wird sein Gewicht durch ein

nachfolgendes Scherzo ausbalanciert? In der Sonate a-moll op. 23 entscheidet sich Beethoven für eine bemerkenswerte Zwischenlösung, indem er kurzerhand beide Möglichkeiten miteinander vereint – unter der Spielanweisung „Andante scherzoso, più allegretto“. (Johannes Brahms sollte dies in seiner A-Dur-Violinsonate op. 100 als Vorbild dienen, in der er Adagio und Andante abschnittweise verschränkte). Für das Schwesterwerk, die Sonate F-Dur op. 24, wählte Beethoven dagegen bewusst die viersätzige Variante; dabei lässt das eingefügte Scherzo in seiner Asynchronität der Stimmen alle Merkmale Beethovenschen Humors erkennen. Einmal mehr unterstreicht der Komponist hier die Vielfalt in der Einheit, erschienen doch beide Sonaten zuerst unter der gleichen Opuszahl 23. War tatsächlich ein Fehler im Druck verantwortlich oder doch der schnelle Erfolg der zweiten Sonate: Als op. 24 hat die kurz darauf abgekoppelte „Frühlingssonate“ sich völlig emanzipiert und steht bis heute in der Popularität an der Spitze aller Beethovenschen Violinsonaten.

10 Nur eine kurze Zeitspanne liegt zwischen diesen beiden Werken und der Dreiergruppe op. 30. Doch es sind entscheidende Jahre für den Komponisten, der sich in Wien – und auch außerhalb Österreichs – innerhalb kürzester Frist fest etabliert hatte. Am 29. Juni 1801 schreibt der 31-Jährige an seinen Bonner Freund Franz Gerhard Wegeler: „Meine Kompositionen tragen mir viel ein und ich kann sagen, dass ich mehr Bestellungen habe, als es fast möglich ist, daß ich machen kann. Auch habe ich auf jede Sache 6, 7 Verleger, und noch mehr, wenn ich mir’s angelegen sein lassen will; man akkordiert nicht mehr mit mir, ich fordere und man zahlt. Du siehst, dass es eine hübsche Lage ist.“ In demselben mehrseitigen, sehr persönlichen Brief benennt der Komponist jedoch auch die großen Schwierigkeiten, die mit seinem zunehmenden Gehörleiden verbunden sind. Und dennoch scheint, darauf weist Konrad Küster in seiner Beethoven-Biographie von 1994 hin, diese depressive Stimmung in einer Art Trotzreaktion für künstlerische Höchstleistungen gesorgt zu haben.

Zu deren Ergebnissen zählen, neben den wegweisenden Klaviersonaten op. 31 und der Zweiten Symphonie, auch die folgenden Violinsonaten. Was Beethoven vor allem in der Sonate c-moll op. 30

Nr. 2, die unbestritten das ausdrucksstarke, machtvolle Zentrum dieser Dreiergruppe bildet, bereits verwirklicht hat, führt er in op. 47 konsequent weiter. (Die weitaus höhere Opuszahl der A-Dur-Sonate erklärt sich allein aus der sehr viel späteren Drucklegung und täuscht über die wahren Zusammenhänge hinweg.) Verständlicherweise konnte der (unbekannte) Rezensent der Allgemeinen musikalischen Zeitung nur mit dem Kopf schütteln: „Dies seltsame Werk, sag’ ich: denn seltsam ist es in der That; und genau genommen, haben wir noch nichts der Art – oder vielmehr, noch nichts, das die Gränzen dieser Art so weit ausdehnte und dann auch wirklich so ausfüllete.“ Die Grenzen werden hier wahrlich gedehnt: Nicht weniger als 599 Takte umfasst allein der erste Satz. (In den früheren Sonaten waren es meist etwa 250 Takte.) Von einer „bewussten Wendung gegen die Tradition“ spricht der Beethoven-Forscher Stefan Drees im Zusammenhang mit diesem Satz und weist auf „seine herben harmonischen Konstellationen und vielfältigen Brüche“ hin. Dabei blieb dem Komponisten bei der Fertigstellung nur wenig Zeit, so dass er selbst seinen Klavierpart bei der Uraufführung aus der Manuskript-Skizze spielen musste. Immerhin lag das Finale bereits komplett vor – war es doch ursprünglich als Schlusssatz für op. 30 Nr. 1 vorgesehen gewesen.

Ein äußerer Anlass – eine Seltenheit in Beethovens reifen Jahren – führte zur Entstehung dieser exzeptionellen, den konventionellen Rahmen der Zeit sprengenden Komposition. Dabei muss die Uraufführung am 24. Mai 1803 im Wiener Augarten ein spektakuläres Ereignis gewesen sein – vor allem aufgrund des prominenten Geigensolisten George Bridgetower. Der Musiker, Sohn eines aus der Karibik stammenden Vaters und einer deutsch-österreichischen Mutter, stand seinerzeit in den Diensten des Prince of Wales in London und wurde anlässlich eines Wien-Besuchs mit Beethoven bekannt gemacht. Dessen Hochachtung vor den geigerischen Fähigkeiten Bridgetowers ist durch Briefe überliefert, spiegelt sich vor allem jedoch in dem brillanten Violinpart der Sonate op. 47, in dem das Instrument sich einen wahren Wettstreit mit dem Klavier liefert. Die verzögerte Drucklegung, erst zwei Jahre später, blieb jedoch nicht ohne Auswirkungen: In der Zwischenzeit hatten sich Beethoven und Bridgetower anscheinend zerstritten, so dass die Widmung stattdessen an den großen französischen Geiger Rodolphe Kreutzer ging – der jedoch, glaubt man der Mitteilung von Hector Berlioz, die Sonate, die seinen Namen bis heute trägt, nie gespielt hat.

Bleibt, quasi als Epilog, das zehnte und letzte Werk, die Sonate G-Dur op. 96 von 1812. In ihr entdeckte der Rezensent der Allgemeinen musikalischen Zeitung wieder positive Anzeichen: „Fast scheint es, als ob dieser grosse Meister in seinen neuesten Werken wieder mehr zum Melodiösen und ,im Ganzen‘ mehr oder weniger Heiteren zurückkehrete […].“ In der Tat scheint die monumentale „Kreutzer-Sonate“ bereits weit zurückzuliegen; in den dazwischen liegenden neun Jahren ist Beethoven zu neuen ästhetischen Ufern aufgebrochen. Joseph Szigeti rühmt in der G-Dur-Sonate die „unerhörte Intimität des instrumentalen Dialogs, […] die ganz und gar undramatische Grundhaltung, fern von aller Emphase, etwas Schwebend-Statisches“ und wagt eine kühne Behauptung: „Hier öffnen sich für die Violinsonate neue Perspektiven, und wir glauben das Ziel zu erkennen, das Beethoven vorschwebte.“ Verfolgt hat der Komponist dieses Ziel nicht mehr – stattdessen widmete er seine ganze Energie anderen Gattungen wie dem Streichquartett und der Klaviersonate. Und auch insgesamt verblasste der Stern der Violinsonate mehr und mehr, während das Klavier zum dominierenden (Solo-)Instrument des neuen Jahrhunderts wurde. Die Zahl Zehn steht so doch für einen Endpunkt: Nach Beethoven hat kein namhafter Komponist mehr eine auch nur annähernd vergleichbare Anzahl von Werken in dieser Gattung geschaffen.

Der Berliner Musikjournalist Michael Horst arbeitet als Autor und Kritiker für Zeitungen, Radio und Fachmagazine. Außerdem publizierte er Opernführer über Puccinis Tosca und Turandot und übersetzte Bücher von Riccardo Muti und Riccardo Chailly aus dem Italienischen.

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