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Terror, Anarchie, Hypnose
Aus Anlass von Leoš Janáčeks Streichquartetten
Wolfgang Stähr
Eine Sonate ist eine Sonate ist … ein Konzert, eine Erzählung und ein Streichquartett. Und ihren berühmten Namen trägt sie zu Unrecht. Als Ludwig van Beethoven 1805 seine Violinsonate in A-Dur op. 47 veröffentlichte, hatte er sich einen langen, umständlichen und auskunftsfreudigen Titel für das Werk ausgedacht: „Sonata per il Piano-forte ed un Violino obligato, scritta in uno stile molto concertante, quasi come d’un concerto“. Fast wie ein Konzert: Diese kreuz und quer zu allen Traditionen erfundene, eigensinnig virtuose Sonate schrieb Beethoven ursprünglich für den in Wien gastierenden Geiger „Bridgetower aus Africa“, wie er in einer zeitgenössischen Kritik genannt wurde; ein Nachrichtenblatt kündigte ihn als „Sohn eines Mohren“ an, bei Beethovens phantasievollem Biographen Anton Schindler wurde er zum „americanischen Schiffscapitän“. Mittlerweile glaubt man ihn als das Kind, das musikalische „Wunderkind“, eines von den Antillen stammenden Vaters und einer europäischen Mutter identifizieren zu können. Geboren wurde George Augustus Polgreen Bridgetower jedenfalls im polnischen Bielsko-Biała. Gemeinsam mit Beethoven spielte er 1803 in Wien die Uraufführung der konzertanten A-Dur-Sonate, die deshalb vom Komponisten inoffiziell und im Scherz als „Sonata mulattica“ bezeichnet wurde, „composta per il Mulatto Brischdauer gran pazzo e compositore mulattico“.
Trotzdem ging das Stück nicht als „Bridgetower-Sonate“ in die Musikgeschichte ein, weil sich Komponist und Geiger am Ende überwarfen, angeblich wegen einer Frau. Mit der Widmung wurde stattdessen Rodolphe Kreutzer bedacht, ein hochbedeutender französischer Musiker mit Migrationshintergrund: ein Diener wechselnder Herren, also strenggenommen gar kein Diener. Er sah die Regenten kommen und gehen, die Throne wanken, die Köpfe rollen, und blieb selbst doch allzeit obenauf – von Marie Antoinette protegiert, nach der Revolution als Komponist von „Rettungsopern“ gefeiert, später in Napoleons Privatorchester aufgenommen und schließlich nach 1815 zum „maître de chapelle du roi“ und Leiter der Pariser Opéra ernannt. Die ihm gewidmete A-Dur-Sonate, die „Kreutzersonate“, hat der begnadete Violinvirtuose allerdings niemals öffentlich gespielt, er empfand das Werk, so heißt es, als „outrageusement inintelligible“, als „übertrieben unverständlich“. Ein Tadel, mit dem Beethoven zu seiner Zeit keineswegs selten konfrontiert wurde. Wie „seltsam“ erschien etwa dem Kritiker der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung diese Sonate: Er meinte in Beethovens Musik nicht bloß die „Laune des genialischen Mannes“ zu erkennen, sondern sogar „eine Art des ästhetischen oder artistischen Terrorismus“ feststellen zu müssen.
Die Musik erregt wie Gift
Und er blieb nicht der einzige, den Beethovens Opus 47 in Angst und Schrecken versetzte. „Oh, oh, fürchterlich ist diese Sonate!“, schreit der traurige Held in Lew Tolstois Erzählung Krejcerova sonata. Er beklagt ihre „schreckliche Wirkung“, nennt sie ein „furchtbares Werkzeug“ und fordert sogar ihr Verbot. Dieser fanatische Held, der seine Frau in einem pathologischen Anfall von Wahn und Eifersucht erdolcht, da er sich einbildet, sie habe die Ehe gebrochen – mit einem Geiger, mit demselben blasierten und parfümierten Musiker, mit dem sie Beethovens verderbenbringende „Kreutzersonate“ spielte. Nach ihr, dem skandalösen, „fürchterlichen“ Stück, benannte Tolstoi seine 1889 vollendete Geschichte, die das mörderische Ehedrama freilich nur als Exempel für die allgemeine moralische Verkommenheit der russischen Gesellschaft wählt, für die
Lasterhaftigkeit namentlich der oberen Zehntausend, deren Welt nichts anderes sei als „ein einziges großes Bordell“.
Tolstois Erzählung gleicht über weite Strecken einer wütenden, kompromisslosen Sittenpredigt, die in ihrem Rigorismus, ihrer unmenschlichen Strenge und Radikalität ebenso faszinierend wie abstoßend erscheint – und derart zwiespältig und polarisierend wirkte sie vom ersten Tag an. Mit Beethoven ging Tolstoi ohnehin hart ins Gericht. Über die Neunte Symphonie befand er: „Ich bin nicht imstande, mir eine Menge normaler Menschen vorzustellen, die irgendetwas von diesem langen, verworrenen und künstlichen Erzeugnis verstünden, ausgenommen kurze Fetzen, die in einem Meer des Unverständlichen untergehen.“ Da lauert schon wieder der alte Vorwurf – „outrageusement inintelligible“! Die „Kreutzersonate“ aber, sie provoziert in Tolstois gleichnamiger Erzählung den Mörder aus Eifersucht zu einer wahren Brandrede und Philippika –nicht nur gegen diese, vielmehr gegen jedwede Musik: „Man sagt, sie erhebe die Seele; das ist Unsinn, das ist nicht wahr. Ihre Wirkung ist fürchterlich, wenigstens für mich, aber durchaus nicht herzerfreuend. Sie erhebt die Seele nicht und erniedrigt sie nicht, sondern sie erregt wie Gift.“
Tolstoi lenkt die Gedanken seines Protagonisten über die Musik rasch ins Grundsätzliche, weniger ins Philosophische als ins Politische. „Die Musik zwingt mich, mein eigenes Ich, meinen eigentlichen Zustand zu vergessen, sie bringt mich in einen anderen, mir fremden Zustand; unter dem Einfluss der Musik kommt es mir vor, als ob ich fühle, was ich sonst nicht fühle, verstehe, was ich nicht verstehe, als ob ich etwas vollbringen könnte, wozu ich nicht imstande bin“, erklärt er. Und zieht sofort den politisch autoritären Schluss: „Deshalb wirkt die Musik auf mich so furchtbar, ja manchmal so entsetzenerregend. In China ist die Musik eine Staatsangelegenheit. So muss es auch sein. Darf man denn erlauben, dass jeder, der will, einen andern oder viele Menschen hypnotisiert und mit ihnen macht, was er will? Und in Sonderheit – darf denn jeder erste beste dahergelaufene, sittlich verkommene Mensch dieser Hypnotiseur sein?“
Tolstois skeptische und restriktive Überlegungen zur gefährlichen Wirkungsmacht der Musik waren weder neu, noch blieben sie folgenlos. Blickt man zurück in die Geschichte, in die Antike, so trifft man auf Platons Politeia, den Dialog über das Staatswesen, und auf dessen strenge Lehren vom Ethos der Musik: Nur solche Tonarten, Rhythmen und Instrumente dürfe der Staat fördern und
Ich erinnere mich, wie sie dann einander ansahen und wie das Spiel begann. Er griff die ersten Akkorde. Sein Gesicht nahm einen ernsten, strengen, sympathischen Ausdruck an, mit vorsichtigen Fingern tastete er über die Saiten. Das Klavier gab ihm Antwort. Und das Spiel fing an.
Lew Tolstoi, Die Kreutzersonate
überhaupt erlauben, die zu Tapferkeit oder Besonnenheit erzögen; die anderen, die zu Weichlichkeit, Faulheit oder Trunkenheit verführten, müssten zum Schweigen gebracht werden. Liest man aber Tolstois indirektes Plädoyer für eine dem „normalen Menschen“ angemessene und begreifliche Musik, so landet man prompt in einer späteren russischen Epoche, in der Sowjetunion mit ihrem staatlich verordneten Ideal der Volkstümlichkeit, mit ihrer Doktrin des „sozialistischen Realismus“. Ein Musiker, der dagegen verstieß, wurde gnadenlos als volksfremder Ästhet oder dekadenter Westler gebrandmarkt und angeprangert, seine Werke zensiert und verboten.
Der ganze Mensch, alles, alles
Aber die Musik behielt das letzte Wort: eine unbändig freie, ungezügelte, leidenschaftliche, elementare Musik. 1923 schuf der tschechische Komponist Leoš Janáček sein Erstes Streichquartett, dem er den Untertitel Aus Anlass von Tolstois Kreutzersonate gab. Es ging ihm damit jedoch nicht um eine Ehrenrettung Beethovens: Dessen Werke hätten ihn „niemals begeistert, niemals in die Welt der Ekstasen versetzt“. Nein, Janáček schrieb seine Musik für die aus Eifersucht ermordete Frau und gegen die Weltsicht eines blindwütigen und inhumanen Moralismus: „Ich dachte dabei an die arme Frau, die gequält, geprügelt und erschlagen wird.“ Und darin liegt zwar nicht die einzige, aber gewiss die höchste Würde der Musik: in dieser ungezwungenen Freiheit, in dieser unbeirrbaren Menschlichkeit, die Beethoven begründete und Janáček verteidigte, allen Eiferern zum Trotz.
Vor dieser temperamentvollen Musik versagen alle Titel und Thesen. Leoš Janáček, der mährische Meister? Seine Kompositionen klingen durchaus nicht meisterlich, sogar provozierend unvollkommen, weshalb sie bis in jüngste Zeit oftmals nur in geschönten und begradigten Fassungen gegeben wurden, von glättender Hand zivilisiert. Aber Janáčeks anarchische Kunst lässt sich nicht in Form bringen, jedenfalls nicht in westliche, klassische und gelehrte Formen. Wie die Moralbegriffe und gesellschaftlichen Konventionen musste dieser Komponist auch alle einengenden und einzwängenden
Regeln des traditionellen Tonsatzes aufsprengen. Wenn er seine Musik erfand, glich er einem Schamanen, der sich in ekstatische Ausnahmezustände steigert. Stundenlang saß er dann am Klavier, erzählt sein Freund, der Pianist Ludvík Kundera, und hämmerte besinnungslos in die Tasten. Janáček habe „so laut, als es überhaupt möglich war, und zumeist bei ständig durchgetretenem Pedal, mit den Fingern immer wieder ein und dasselbe Motiv von ein paar Tönen“ angeschlagen: „Aus der Verve, mit der er spielte, war herauszufühlen, wie stark er von dem Gefühlsinhalt des Motivs erregt und hingerissen wurde. Bei diesem Beginnen komponierte er nicht – er wollte sich nur durch das ständige Wiederholen eines kleinen Motivs in die gewünschte Stimmung versetzen, um dann ohne Klavier das zum überwiegenden Teil aus diesem Motiv aufgebaute Tonwerk in fieberhafter Hast unmittelbar aufs Papier zu werfen.“
Gefühl, Stimmung, Verve, Fieber – Janáček schrieb seine Kompositionen wie unter erhöhter Temperatur, ungezügelt, ungehemmt, mit einer fast obsessiven Neigung zur Wiederholung, nochmal und nochmal: hinreißende Melodien, kurze Motive wie Ausrufe, wie ein Jubel oder ein Hilfeschrei; oder verquere Tanzrhythmen, die jede Taktordnung aus den Angeln heben. Alles musste wiederholt werden. Dieses eruptive Musizieren, diese animalische Freude am Spiel, an der Improvisation, an Reigen und Rundgesang mit endlosen Refrains liebte Janáček auch in der Volksmusik, die er sich an Ort und Stelle anhörte: unter den mährischen Bauern, Landarbeitern, Handwerkern und Dorfbewohnern. „Das Volkslied – ich lebe in ihm von klein auf. Im Volkslied ist der ganze Mensch, Leib, Seele, Umgebung, alles, alles“, schwärmte der Komponist. Manchmal schrieb er die Lieder und Tänze auf, mit Bleistift und Papier, wie ein Ethnologe auf Expedition im eigenen Land, in der heimatlichen Landschaft, der Lachei. Er machte sich auch Notizen über Schrittfolgen, Gesten, Gebräuche, Trachten und Requisiten. Musikalische Momentaufnahmen: „In den Noten, in den Takten steckt die Stube voller Menschen, mit verschwitzten, geröteten Gesichtern: Alles bewegt, beugt, dreht sich. Ihr Flüsschen der Lachei, ihr eilt wohl im Rhythmus dieser Tänze dahin, seit uralten Zeiten bis auf den heutigen Tag. Schön ist die Landschaft, still das Volk, weich seine Mundart, als ob man Butter schnitte.“
Im Feuer entstanden
Ein Quartett ist ein Quartett ist … ein Brief, ein Monolog, eine Autobiographie. Zu wem der Komponist spricht, diese Frage war bei Leoš Janáčeks Zweitem Streichquartett niemals zweifelhaft.
Er schrieb dieses Abschiedswerk 1928, wenige Monate vor seinem Tod, nur für sie, für Kamila Stösslová, seine „Geliebte“, seine „Muse“, seine „Seelenfreundin“. Diese Namen müssen allesamt in Anführungszeichen gesetzt werden, denn Janáčeks Leidenschaft für die 37 Jahre jüngere, verheiratete Frau, Mutter zweier Kinder, beruhte bis zuletzt kaum auf Gegenseitigkeit; obendrein hatte sich Janáček in eine vollkommen amusische Muse verguckt, und von einer Seelenverwandtschaft konnte, bei aller Liebe, schon gar keine Rede sein. „Sind Sie vielleicht ein kleines Kind, das ohne Spielzeug nicht auskommt?“, fragte Kamila Stösslová respektlos ihren aufdringlichen Verehrer, der sie fast wie ein Stalker mit ausschweifenden Liebesbriefen verfolgte, mehr als 700 im Laufe der Jahre. Und so heißt auch ihr „gemeinsames“ Streichquartett: Listy důvĕrné, „Intime Briefe“ oder wörtlich „Intime Blätter“, das tönende Selbstportrait einer eingebildeten Liebe. „Hinter jedem Ton stehst Du, lebhaft, unbändig, liebevoll“, wollte Janáček seiner Herzensdame einreden, während in Wahrheit doch nur er selbst aus diesen Noten spricht, einzig und allein, mit geradezu fanatischer Ausdruckswut: „Es ist meine erste Komposition, die aus einem unmittelbar erlebten Gefühl emporschoss“, bekannte er. „Einst habe ich aus Erinnerungen komponiert; dieses Werk, ‚Intime Briefe‘, ist im Feuer entstanden. Vorherige Kompositionen nur in heißer Asche.“ Die unwiderstehliche Sprachgewalt dieser Musik aber wäre unvorstellbar ohne die Eigenart der Melodien, die Janáček erfand – oder fand, auf der Straße, im Alltag: in der Volksmusik seiner mährischen Heimat, der „echten Lebensmusik“, wie er sie nannte; und in der gesprochenen Sprache seiner tschechischen Landsleute, im Tonfall und Wortlaut ihrer Rede, ihrer „Sprechmelodien“, die er akribisch aufzeichnete und in seinen Werken zu einem zweiten Leben erweckte. Der Komponist „spricht“, im wahrsten Sinne des Wortes. Janáček schreibt „Briefe ohne Worte“.
Wolfgang Stähr, geboren 1964 in Berlin, schreibt über Musik und Literatur. Er verfasste Buchbeiträge zur Bach- und Beethoven-Rezeption sowie über Haydn, Schubert, Bruckner und Mahler und publizierte Essays und Werkkommentare für die Festspiele in Salzburg, Grafenegg, Luzern, Würzburg und Dresden, Orchester wie die Berliner und die Münchner Philharmoniker, für Rundfunkanstalten, Schallplattengesellschaften, Konzert- und Opernhäuser.