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Idyllen und Abgründe des Lebens

Eichendorff-Vertonungen von Mendelssohn bis Reimann

Michael Horst

„Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort, Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort.“

Es ist nur ein Vierzeiler, 1835 von Joseph von Eichendorff gedichtet, doch er fasst einen wichtigen ästhetischen Grundsatz des Dichters kurz und bündig zusammen: Die Welt ist nicht allein ein materialistisches „Ding“, sondern ein beseeltes Etwas, das eine viel weitere, spirituelle Dimension umfasst. Diese Dimension sicht- und hörbar zu machen, bedarf es der Dichtung – Eichendorff setzt hier „Lied“ mit „Dichtung“ gleich –, denn sie vermag es, den richtigen „Ton“ zu treffen. Der schlesische Adlige, der Zeit seines Lebens dem Schreiben nur neben seinem Brotberuf als preußischer Beamter nachgehen konnte, hat diesen Ton gefunden. Und seine Gedichte, ihrerseits von hoher Musikalität, haben allergrößte Resonanz bei Komponisten – und einigen Komponistinnen wie Fanny Hensel –gefunden. Nahezu unüberschaubar ist die Zahl der musikalischen Bearbeitungen. Mehrere Tausend sind es in jedem Fall, was, wie die Eichendorff-Biographin Veronika Beci knapp zusammenfasst, „wohl an den zur Vertonung bestens geeigneten Versmaßen, der

Symmetrie seiner Sätze, der geschickten Klangfolge der Vokale und nicht zuletzt den stimmungsvollen, pittoresken Motiven liegt.“

Bestes Beispiel dafür ist das Gedicht In einem kühlen Grunde, 1813 erstmals publiziert, das in Friedrich Silchers Männerchorf assung ungemeine Popularität erlangte und noch heute – als scheinbares Volkslied – zum festen Chorrepertoire zählt. Doch viele der unzähligen komponierenden Kleinmeister:innen des 19. Jahrhundert ließen sich blenden von der Ebenmäßigkeit der Verse und übersahen zwischen plätschernden Brünnlein, singenden Nachtigallen und frohgemuten Wanderburschen die abgründigen Dimensionen. Das Unheimliche der Nacht, die gefährlichen Fallstricke auf dem Lebensweg, der tragische Verlust von Heimat, Familie und Freunden –diese Themen sind oft genug eingewebt in Eichendorffs Lyrik, gemildert nur durch den unerschütterlichen Glauben des Katholiken an die göttliche Vorsehung.

In Aus der Heimat hinter den Blitzen rot, das Robert Schumann unter dem Titel In der Fremde an den Beginn seines Liederkreises op. 39 stellte – und das der 20-jährige Schumann-Verehrer Brahms 1853 noch einmal vertonte –, weitet sich der Gedanke an die verstorbenen Eltern und die verlorene Heimat zur Todessehnsucht. Schumann setzt die Verse in eine elegische Melodie über einer Begleitung aus gebrochenen Moll-Akkorden um. Als Ganzes freilich umfasst der Liederkreis, der inhaltlich nicht als Zyklus angelegt ist, ein weites Spektrum verschiedenster Stimmungen. Kein Schatten fällt in Intermezzo („Dein Bildnis wunderselig“) auf das ersehnte Liebesglück, das durch die pochenden Achtel in der linken Hand beredten Ausdruck findet. Waldesgespräch dagegen schildert in fast opernhafter Manier die verführerisch-sinnliche Liebe, wie die Sagengestalt der Lorelei sie verkörpert.

Ein dichterisches Meisterwerk in wenigen Dutzend Worten, von Schumann kongenial in Musik gesetzt, ist Eichendorffs Mondnacht. Der ambivalente Traumzustand, das Schweben zwischen Himmel und Erde, die Seele, die „weit ihre Flügel“ ausspannt – all das hat der Komponist in einen scheinbar schlichten, nur durch wenige Bassnoten am Boden gehaltenen Klavierpart mit einer sich darüber aufschwingenden Melodie verwandelt, die die Suggestivkraft des Gedichtes noch einmal beträchtlich erhöhen. Eigentümliche Kargheit hingegen kennzeichnet Auf einer Burg, dessen Text der ausgeprägten Mittelalterbegeisterung der Romantik huldigt. Zwei weitere Beispiele für Eichendorffs abgründigen Pessimismus bilden Wehmut und Zwielicht: Während Schumann in ersterer Vertonung den seelischen Zwiespalt zwischen Außen und Innen durch die kantable Melodie eher konterkariert, gewinnt letztere durch die Sprödigkeit des Kontrapunktes ihre ganz eigene Dimension, die in dem rezitativischen „Hüte dich, sei wach und munter“ ihren schaurigen Höhepunkt erreicht. Das letzte, positive Wort in Opus 39 jedoch hat die Frühlingsnacht, in der sich Natureuphorie und Liebesgewissheit überschwänglich verbinden – ohne Zweifel ein besonderes Geschenk an Schumanns Verlobte Clara, die er im Herbst 1840, wenige Monate nach Fertigstellung des Liederkreises, endlich heiraten konnte.

Auch Felix Mendelssohn Bartholdy – Zeitgenosse, Kollege und Freund Schumanns in Leipziger Tagen – hat gelegentlich zu Eichendorffs Gedichten gegriffen. Allerdings gehen nur fünf seiner etwa 80 Sololieder auf Texte des Dichters zurück; hinzu kommen mehrstimmige Vertonungen wie die Lieder im Freien zu singen, von denen „O Täler weit, o Höhen“ zu einer von Mendelssohns bekanntesten Kompositionen überhaupt geworden ist. Diese Werke nehmen sich gegenüber dem Text weniger Freiheiten als diejenigen Schumanns, und Mendelssohns Vorliebe für eine klare Gliederung zeigt sich in der alleinigen Verwendung der Strophenform. Im Pagenlied legt die erwähnte Mandoline den Serenadenton im lieblichen Sechsachteltakt nahe; südliche Heiterkeit schwebt über dem Stück. Die Stimmung des unbeschwerten Wanderlieds fängt Mendelssohn mit dahineilenden Triolen in der Klavierbegleitung und einem hymnischen Ausbruch am Ende mitreißend ein. Von melancholischer Tiefe durchdrungen dagegen ist Nachtlied Mendelssohns letzte veröffentlichte Komposition, entstand diese Vertonung – wie neuere Forschungen zeigen – aber wohl nicht erst in den letzten Lebensmonaten und damit kurz nach dem frühen Tod seiner Schwester Fanny. Dunkle, synkopierte Glockenklänge durchziehen das gesamte Lied, dessen emotionaler Höhepunkt in der Hoffnung auf Gottes Trost Ausdruck findet.

Der Berliner Komponist Aribert Reimann, der vor wenigen Tagen sein 87. Lebensjahr vollendete, widmete sich zeitlebens intensiv der großformatigen Gattung Oper und schuf mit Bernarda Albas Haus (nach García Lorca), Medea (nach Grillparzer) und insbesondere der 1978 in München uraufgeführten ShakespeareAdaption Lear höchst eindrückliche Bühnenwerke. Gleichzeitig beschäftigt sich Reimann, selbst ein geschätzter Liedbegleiter, immer wieder mit dem intimen Sololied in verschiedensten Besetzungen –mal mit Klavier, zumeist mit Orchester. Hier reicht die Liste der Vorlagen von Charles Baudelaire und Paul Celan bis zu Emily Dickinson und Sylvia Plath.

Schon darin zeigt sich das musikalische Traditionsbewusstsein des Komponisten, der – ungeachtet seiner durch und durch zeitgenössischen Tonsprache – auch im Nachtstück von 1966 ganz der Lied-Ästhetik etwa eines Hugo Wolf verpflichtet bleibt. Einigermaßen ungewöhnlich mutet es an, Mitte des 20. Jahrhunderts und in Zeiten großen gesellschaftlichen Umbruchs zu den mehr als 130 Jahre alten Gedichten Eichendorffs zurückzukehren, die in Reimanns Auswahl eine facettenreiche Reise durch die Nacht imaginieren. Sie beginnt mit dem Eintritt in die nächtliche Stille („Wir ziehen treulich auf die Wacht“) und führt vom Schweigen der Vögel („Die Vöglein, die so fröhlich sangen“) über Traum und Wunder („Hörst du die Gründe rufen“) bis zum Anblick der „schönen Welt“ im Morgenlicht („Hier steh ich wie auf treuer Wacht“).

Dabei taucht Reimann ohne Wenn und Aber in den romantischen Kosmos der Texte ein. Der Gesangspart ist voller Expressivität, während das Klavier in schillernden Farben zwischen düsteren Bässen und glitzernden Kaskaden im hohen Register die nächtliche Stimmung beschwört. Im zweiten Stück scheut sich der Komponist nicht, den Gesang der Vögel in – wenngleich atonalen – Melismen des Sängers auszumalen. Die faszinierenden Seiten der Nacht mit schlagenden Nachtigallen und rauschendem Laub, wie sie das vierte Stück beschreibt, finden ihren musikalischen Ausdruck in einem fein abgestimmten Dialog zwischen Singstimme und Klavier, bevor der kurze Zyklus mit mächtigen Cluster-Akkorden zum Abschluss kommt: „Vergangen ist die dunkle Nacht, / Wie blitzt nun auf der Länder Pracht!“

In der Nachfolge Schuberts und Schumanns – und chronologisch vor dem nur vier Jahre jüngeren Richard Strauss – darf Hugo Wolf als bedeutendster Liedkomponist im deutschen Sprachraum gelten. Schon die bloße Anzahl der Lieder, die der Komponist in eruptiven Schaffensschüben förmlich herausschleuderte, ist beeindruckend: Nach einer frühen Phase des Tastens und Suchens entstanden zwischen Februar 1888 und Februar 1889 – Wolf war 28 Jahre alt – nicht weniger als 53 Lieder nach Gedichten von Eduard Mörike (den Wolf quasi neu entdeckte) sowie 51 GoetheVertonungen; wenig später folgten das Italienische und das Spanische Liederbuch, zwei größere Sammlungen, deren Texte Paul Heyse und Emanuel Geibel ins Deutsche übertragen hatten. Heine, Lord Byron und Michelangelo galt außerdem Wolfs Interesse. Die letzten zehn seiner insgesamt 20 Eichendorff-Vertonungen komponierte er innerhalb von nur einer Woche zwischen dem 21. und 29. September 1888.

Wobei sich Hugo Wolf gegen den Begriff „Lied“ zu wehren pflegte: Bezeichnend ist ein Brief an Engelbert Humperdinck, den Komponisten von Hänsel und Gretel, der eine Rezension von Wolfs Liedern für die Frankfurter Zeitung plante: „Lass vor allem die Poesie, als die eigentliche Urheberin meiner musikalischen Sprache zu Worte kommen, denn da liegt der Hase im Pfeffer.“ (Entsprechend wählte Wolf für die Sammlungen der Goethe-, Mörike- und Eichendorff-Vertonungen die Bezeichnung „Gedichte von…“.) Im Gegensatz etwa zu Brahms legte er großen Wert auf die literarische Qualität eines Textes; dementsprechend lehnte er es – anders als wiederum Schumann – kategorisch ab, eigenständig in die Gedichte einzugreifen und Retuschen vorzunehmen. In der Vorliebe für die deklamatorische Textbehandlung folgte der Wagnerianer getreulich dem Bayreuther Meister, von dem er 1875 als 15-Jähriger in Wien sogar empfangen worden war. Darüber hinaus war es Wolf wichtig, auch beim Vortrag seiner Lieder das Rezitieren des Gedichts voranzustellen, um so schon dieses als eigenes Kunstwerk und – im Eichendorffschen Sinne – als „Lied“ zu begreifen.

Auffällig an Wolfs Auswahl Eichendorff’scher Gedichte ist der deutliche Akzent auf einer eher unbekannten Seite des Dichters. Der Wolf-Biograph Kurt Honolka fasst es so zusammen: „Vor allem hatte es ihm der Eichendorff angetan, der die fröhlichen, derben, kauzigen Figuren, die Abenteurer und Taugenichtse, die Soldaten und die Musikanten zu Wort kommen ließ.“ Einen kleinen Ausschnitt aus dieser Typologie bietet auch das heutige Programm, beginnend mit Der Musikant, dem Selbstporträt des frohen, aber unbehausten Wanderers – sehr charmant dargestellt im Duett von Singstimme und eigenständiger Klaviermelodie. In der musikalischen Gestaltung deutlich derber angelegt sind Soldat I und Soldat II auf zwei Eichendorff-Gedichte, die 1814 während der Befreiungskriege gegen Napoleon entstanden sind und einerseits die eher komische, andererseits die bedrohliche Seite des Soldatendaseins beschreiben. Auch in Seemanns Abschied wird der arrogante, abgeblitzte Liebhaber mit ruppiger, doch höchst schillernder Klavierbegleitung gemalt –bevor das Lied wie ein nonchalantes Couplet endet. Bleibt mit Heimweh noch Wolfs populärste Eichendorff-Vertonung, in der der markante Wanderrhythmus und die volksliedhafte Melodie schließlich in einem hymnischen Gruß an die ferne Heimat Deutschland münden.

Doch dies ist nur eine Seite der Liedkunst Wolfs. Ein anderer Typus seiner Vertonungen folgt dem poetischen, quasi romantischen Charakter der Vorlagen: Zu diesen zählen Verschwiegene Liebe mit seiner zarten Melodie und der ebenso zarten Triolenbegleitung im Klavier sowie Die Nacht. Komponiert bereits 1880, mutet dieses Lied wie ein Widerhall Robert Schumanns an, auch wenn die Harmonik mit ihren chromatischen Windungen hörbar in neuere Zeiten weist. Von ähnlichem Charakter ist Nachtzauber, wobei die abgrundtiefe Melancholie, die in Worten wie „Einsamkeit“, „todeswunde Liebe“ und „versunknen schönen Tagen“ zum Ausdruck kommt, Wolf zu einem raffinierten, bisweilen fast impressionistischen Klaviersatz inspirierte.

Eine kleine Gruppe von Liedern im heutigen Programm schließlich beleuchtet die musikalische Eichendorff-Rezeption um die Wende zum 20. Jahrhundert. Der 14-jährige Erich Wolfgang Korngold fasste 1911 nicht weniger als zwölf Texte des Dichters zu seinem Opus 5 zusammen (versehen mit dem Zusatz „So Gott und Papa will“), von denen schließlich mit Erlaubnis des gestrengen Vaters, des Musikkritikers Julius Korngold, Nachtwanderer als op. 9 Nr. 2 publiziert wurde. Anders als Korngolds Lehrer Alexander Zemlinsky war der gleichaltrige Hans Pfitzner ein lebenslanger Bewunderer Eichendorffs. Neunzehn Vertonungen seiner Gedichte hat er hinter- lassen, darunter das eindringliche, 1901 entstandene Zum Abschied meiner Tochter. Es ruft noch einmal die bangen Momente des Lebens in Erinnerung, die letztlich („Lieb Töchterlein, fahre mit Gott!“) nur durch das Vertrauen auf höhere Mächte zu überwinden sind.

Der Berliner Musikjournalist Michael Horst arbeitet als Autor und Kritiker für Zeitungen, Radio und Fachmagazine. Außerdem gibt er Konzerteinführungen. Er publizierte Opernführer über Puccinis Tosca und Turandot und übersetzte Bücher von Riccardo Muti und Riccardo Chailly aus dem Italienischen.

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