9 minute read

Sir András Schiff

Next Article
Sir András Schiff

Sir András Schiff

„...was für contrapunktische Künste anzubringen wären“

Bachs Wohltemperiertes Klavier

Michael Kube

Vielen Dank für die Wolken.

Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier

und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel.

Hans Magnus Enzensberger, Empfänger unbekannt – Retour à l’expéditeur

Für Robert Schumann war es das „Werk aller Werke“, Hans von Bülow sah in ihm gar das „Alte Testament“ des Klavierspiels (als Gegenstück zum „Neuen Testament“ der Beethovenschen Klaviersonaten). Kaum treffender und emphatischer lässt sich der Stellenwert beschreiben, der dem Wohltemperierten Klavier seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zukommt: kompositionstechnisch, ästhetisch wie auch pianistisch. Er spiegelt sich auch in einer zunehmenden Mythologisierung der Komposition, die Ludwig Rellstab 1790 – ganz im Zeichen der allmählichen Ausprägung eines (auch politisch motivierten) nationalen Bach-Bildes – hervorhob als „das Erste und Bleibendste was die deutsche Nation als Musikkunstwerk aufzuzeigen hat.“ In Anlehnung an diese Formulierung sah der Bach-Biograph Johann Nikolaus Forkel gar „in beyden Theilen dieses Werks einen Schatz von Kunst enthalten, der gewiß nur in Deutschland gefunden wird“. Und dennoch tritt der zweite Teil mit seinem erneuten Durchgang durch alle 24 Dur- und Molltonarten, wiederum mit dem Satzpaar von Präludium und Fuge, in der Praxis des Klavierspiels seltsam hinter den ersten zurück. Im angelsächsischen Sprachraum hingegen bildete sich die ebenso liebevolle wie sachlich vollkommen korrekte Bezeichnung „the forty-eight“ aus.

Non plus ultra und täglich Brot

Weder zum öffentlichen noch zum privaten Vortrag, wohl aber als Studienwerk erlangte das Wohltemperierte Klavier schon früh herausragende Beachtung. So berichtete etwa Ernst Ludwig Gerber über das Studium seines Vaters Heinrich Nicolaus beim Leipziger Thomaskantor: „In der ersten Stunde legte er ihm seine Inventiones vor. Nachdem er dieses zu Bachs Zufriedenheit durchstudirt hatte, folgten eine Reihe Suiten und dann das temperirte Klavier. Dies letztere hat ihm Bach mit seiner unerreichbaren Kunst dreymal durchaus vorgespielt.“ Zahlreiche weitere Dokumente aus den nachfolgenden Jahrzehnten zeugen von der Verbreitung des Werkes sowohl zur Herausbildung praktischer pianistischer Fähigkeiten als auch zur schöpferischen Durchdringung der polyphonen Faktur. Dies tritt auf beispielhafte Weise zutage in der Wiener und Leipziger Traditionen verbindenden Form des Unterrichts von Georg Christoph Wagenseil, wie ihn Beethovens späterer Lehrer Johann Baptist Schenk in seiner Autobiographie erinnert: „Wagenseils Lehrmethode in der musikalischen Komposition war nach Johann Fuchs [Gradus ad Parnassum], welcher selbst sein Lehrer war [...]. Die Präludien und Fugen von Sebastian Bach, so auch die Claviersuiten von Händl, waren meine Übungswerke.“ Beethoven selbst soll im Alter von elf Jahren bereits weite Teile des Wohltemperierten Klaviers (allerdings wohl nur den ersten Teil) beherrscht haben, „welches ihm Herr Neefe unter die Hände gegeben. Wer diese Sammlung von Präludien durch alle Töne kennt, (welche man fast das ‚non plus ultra‘ nennen könnte,) wird wissen, was das bedeute.“ Auch Mozart habe nach Auskunft seines durch Constanze gut informierten Biographen Georg Nikolaus Nissen in den späten Wiener Jahren das Werk „immer auf seinem Claviere“ gehabt; Felix Mendelssohn Bartholdy lernte es hingegen durch seine Mutter Lea kennen (so die Erinnerungen von Adolf Bernhard Marx): „In ihr lebten Traditionen oder Nachklänge von Kirnberger her; von dorther war sie mit Seb. Bach bekannt geworden und hatte das unausgesetzte Spiel des temperirten Klaviers ihrem Hause eingepflanzt.“ Von Johannes Brahms ist durch die Pianistin Florence May überliefert, dass er gleich mehrere Druckausgaben des Werkes besaß und es zur Grundlage seines Unterrichts machte. Diese Beachtung und Wertschätzung des Wohltemperierten Klaviers vor allem im Kreis der von Carl Hermann Bitter so titulierten „Musiker von Rang und der Musikfreunde von tieferer Bildung“ geht auf ein vorrangiges Interesse an den in diesem Werk versammelten historischen Stilen und kompositionstechnischen Verfahren zurück. So kulminierte die damit verbundene theoretische Auseinandersetzung, die sich vor allem auf formale Momente des linearen Satzes konzentriert, schon früh in Hugo Riemanns sprödem Katechismus der Fugen-Komposition (ab 1890), der in seinen ersten beiden Teilen laut Untertitel nichts anderes als eine „Analyse des wohltemperierten Klaviers“ darstellt. Die Bedeutung des Werks als Kompendium für die Ausbildung polyphonen Denkens im praktischen wie auch im schöpferischen Sinne hielt allerdings schon 1848 Robert Schumann in seinen Musikalischen Haus- und Lebensregeln mit geradezu religiösem Impetus fest: „Das Wohltemperierte Klavier sei dein täglich Brot. Dann wirst du gewiß ein tüchtiger Musiker.“

Die Handschrift: ein Portfolio

Im Gegensatz zum ersten Teil, der in einer von Bach selbst mit 1722 datierten Reinschrift vorliegt, befindet man sich hinsichtlich der Entstehung und Überlieferung des zweiten Teils auf unsicherem Boden. Hier nämlich existiert keine verbindliche Fassung „letzter Hand“, sondern nur das unvollständig überlieferte Autograph einer früheren Fassung. Es erscheint sogar fraglich, ob die heute gängige, durch eine wichtige Abschrift bezeugte Bezeichnung der Sammlung als „zweiter Teil“ überhaupt auf Bach selbst zurückgeht. Hatte Bach beim ersten Durchgang durch alle Dur- und Molltonarten auf ältere Werke zurückgegriffen, diese erweitert, revidiert und transkribiert, um auch die entfernten Tonarten zu bestücken, so lässt sich dies für den um 1740 angelegten zweiten Durchgang kaum sagen. Im Gegenteil: Der im ersten Teil gleichsam noch zu erobernde „wohltemperierte“ Tonraum war zwei Jahrzehnte später selbstverständlich verfügbar geworden. Zyklische Strukturen lassen sich überdies kaum ausmachen, vielmehr scheint Bach wirklich eine „Sammlung“ angelegt zu haben. Das so genannte Londoner Autograph besteht aus einer Folge von einzelnen, ungehefteten Papierbögen, die sich leicht für das Spiel am Klavier aus der Mappe bzw. dem Portfolio herausnehmen ließen: Auf der vorderen Doppelseite ist jeweils das Präludium notiert, auf der durch einfaches Wenden zu erreichenden Rückseite die dazugehörige Fuge.

Präludien und Fugen: Typen und Stile

Eigenartigerweise ist es gerade die Heterogenität sowohl der beiden Teile im Allgemeinen als auch der 48 Satzpaare im Besonderen, die am Wohltemperierten Klavier bis heute fasziniert. Denn abgesehen vom übergeordneten chromatischen Durchgang durch alle Tonarten enthielt sich Bach weiterer Systematisierungen. Vielmehr machte er sich die Umstände der Entstehung der einzelnen Stücke zunutze: Ältere wurden wieder aufgenommen, erweitert und revidiert, neue kamen hinzu. So war eine gestalterische Freiheit gegeben, die überhaupt erst in einer querschnittartigen Bündelung der allgemein verfügbaren Stile und Formen ganz individuelle Satzpaare ermöglichte. Dies gilt vor allem für die Präludien, doch auch die Fugen weisen mit der Vielfalt der thematischen Gestalten eine Fülle auf, die das Werk in den Rang eines Kompendiums erhoben (erst später realisierte Bach in der Kunst der Fuge eine Steigerung dieses Prinzips, indem er schrittweise die gestalterischen Möglichkeiten eines musikalischen Subjekts auslotete). Zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers lässt sich zudem der allgemeine stilistische Wandel beobachten, der sich im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts allmählich vollzog. Die Eckpunkte dieses Prozesses markieren zum einen die frühen, wie improvisiert erscheinenden Stücke, die dem Klavierunterricht für Wilhelm Friedemann entstammen (beispielhaft das bekannte Präludium C-Dur aus dem ersten Teil), zum anderen jene zweiteilig angelegten Sätze aus dem zweiten Teil, die bereits dem galanten Stil verpflichtet sind – so etwa das zwischen Konzert- und Sonatensatz stehende Präludium f-moll (Nr. 12) und das außerordentlich klavieristisch gesetzte Präludium gis-moll (Nr. 18). Wieder andere Sätze lassen sich als Sonate oder Concerto en miniature denken, als Adaptionen von Satztechniken, die sonst eher in geringstimmiger Kammermusik oder konzertanten Werken für größere Ensembles anzutreffen sind. Das Präludium b-moll (Nr. 22) beispielsweise weist die Faktur „à 3“ einer italienischen Triosonate für zwei Violinen und Basso continuo im Stile Arcangelo Corellis auf. Deutlich kontrapunktischer (und in diesem Sinne „ganz Bach“) ist das Präludium a-moll (Nr. 22) gestaltet.

Obwohl nur zweistimmig, wirkt es mit seiner expressiven, auf einem Lamentobass basierenden Chromatik und dem zu einem Netzwerk verdichteten Stimmtausch mit Umkehrung ebenso kunstvoll wie kalkuliert, so dass Hermann Keller noch 1965 von einer „Verstandesmusik höchster Ordnung“ sprechen konnte. Eigenartig, dass seit Bachs Zeit eher die als äußerst kompliziert empfundene Harmonik im Vordergrund der Betrachtungen steht. Bereits Johann Philipp Kirnberger versuchte in seiner 1773 gedruckten Schrift über Die wahren Grundsätze zum Gebrauch der Harmonie den Verlauf der ersten Takte auf das Gerüst eines bezifferten Generalbasses zurückzuführen, statt linear zu lesen und zu hören. Mit dem letzten Präludium h-moll (Nr. 24) verknüpft Bach dann aber seine Gegenwart mit der Zukunft. Formal durch die Gliederung in Ritornelle und Episoden ein Konzertsatz und motivisch der Invention verwandt, gleicht die Anlage des Satzes über weite Strecken der einer „Sonata à 2“. Hinzu kommt jedoch eine in ihrer Strenge verblüffend periodische Gliederung des Verlaufs in jeweils paarweise auftretende, vier Takte umfassende Gruppen, mit der Bach wohl jüngere Stilentwicklungen reflektierte.

Auch in den Fugen zeigt sich Bach von einer überraschend vielfältigen Seite, obgleich er auf zwei- oder fünfstimmige Fugen, wie man sie noch im ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers findet, verzichtet. Sie sind im zweiten Teil durchwegs drei- oder vierstimmig angelegt, zeichnen sich aber durch eine unterschiedliche Dichte aus. Die Fuge c-moll (Nr. 2) mit nur 28 Takten Umfang weist etwa ein knapp formuliertes Subjekt auf, dessen Einsätze markant hervortreten und das im weiteren Verlauf Augmentation (Vergrößerung der Notenwerte) und Umkehrung (der Bewegungsrichtung) zulässt. Weitaus umfangreicher präsentieren sich demgegenüber die aus zwei Themen gestalteten Doppelfugen cis-moll (Nr. 4) und gis-moll (Nr. 18) sowie die drei Themen vereinende Tripelfuge fis-moll (Nr. 14). Ob die einzelnen Stücke darüber hinaus stark diatonisch geprägt (B-Dur, Nr. 21), chromatisch angereichert (d-moll, Nr. 6) oder im stile antico geschrieben sind (E-Dur, Nr. 9), ist nicht dem Zufall überlassen – ganz so, wie dies Carl Philipp Emanuel Bach in einer biographischen Notiz über seinen Vater festgehalten hat: „Bey Anhörung einer starck besetzten und vielstimmigen Fuge, wuste er bald, nach den ersten Eintritten des Thematum, vorherzusagen, was für contrapunktische Künste möglich anzubringen wären u. was der Componist auch von Rechtswegen anbringen müste, und bey solcher Gelegenheit, wenn ich bey ihm stand, und er seine Vermuthungen gegen mich geäußert hatte, freute er sich und stieß mich an, als seine Erwartungen eintrafen.“

Nachwehen im 19. und 20. Jahrhundert

Zuvor nur handschriftlich und vielfach in Auszügen überliefert, erlangten die insgesamt 48 Werkpaare beider Teile des Wohltemperierten Klaviers nach der Drucklegung in den Jahren 1801/02 nicht nur rasch große Verbreitung, sondern dienten bald auch vielen Komponisten als Bezugspunkt für eigene Werke. Bemerkenswert ist dabei allerdings die auffällige Veränderung bei der Disposition der Tonarten, die auch über das gewandelte Verständnis der Harmonik des erschlossenen Tonraums Auskunft gibt. Die bei Bach noch einem linearen, an Tonstufen orientierten Denken entsprungene chromatische Abfolge (C–c–Cis–cis–D–d usw.) wurde zugunsten einer Ordnung im aufsteigenden Quintenzirkel aufgegeben, wie sie sich in den Préludes von Chopin, Stephen Heller und Schostakowitsch (op. 34) findet. Entsprechend der funktionsharmonisch ausgerichteten Gesamtdisposition veränderte sich auch die Paarbildung der Tonarten. So folgt der Durtonart nicht mehr länger die auf dem gleichen Grundton basierende Mollvariante, sondern die Parallele auf der VI. Stufe (C–a–G–e–D–h usw.).

Noch einen Schritt weiter gingen Ignaz Moscheles (24 Etüden op. 70) und Hans Huber (Präludien und Fugen in allen Tonarten op. 100), die auf eine Ordnung der verfügbaren Tonarten ganz verzichteten. Und mit der Auflösung und Erweiterung des Dur-Molltonalen Systems im 20. Jahrhundert eröffneten sich weitere Möglichkeiten: So unterschied Paul von Klenau in seinen 12 Präludien und Fugen von 1939/41 nicht länger zwischen den alten Tongeschlechtern, und Ivan Wyschnegradsky adaptierte den Durchgang per omni toni gar für seine „ultrachromatische Vierteltonleiter“, ein Klangsystem von 24 gleich weit voneinander entfernten Tönen innerhalb einer Oktave, auf dem seine 1935 entstandenen 24 Préludes basieren. Als unmittelbarer Reflex auf das Wohltemperierte Klavier sind hingegen Paul Hindemiths zunächst pädagogisch motivierter Zyklus Ludus tonalis von 1942 wie auch Schostakowitschs 1950/51 komponierte 24 Präludien und Fugen op. 87 anzusehen – beide Werke wurden von den Feierlichkeiten zum Bach-Gedenkjahr 1950 und einem Besuch in Leipzig angeregt.

PD Dr. Michael Kube ist Mitglied der Editionsleitung der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), Herausgeber zahlreicher Urtext-Ausgaben und Mitarbeiter des auf klassische Musik spezialisierten Berliner Streaming-Dienstes Idagio. Außerdem konzipiert er die Familienkonzerte „phil zu entdecken“ der Dresdner Philharmoniker. Er ist Juror beim Preis der deutschen Schallplattenkritik und lehrt an der Musikhochschule Stuttgart sowie an der Universität in Würzburg.

This article is from: