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Sir Andr\u00E1s Schiff

Ein Begriff von eurem Großmeister

Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertes Klavier

Wolfgang Stähr

Mit Bach fängt der Tag gut an. „Die letzten achtzig Jahre habe ich jeden Morgen auf dieselbe Weise begonnen, nicht etwa mechanisch, aus bloßer Routine, sondern weil es wesentlich ist für meinen Alltag“, verriet Pablo Casals am Ende seines langen Lebens. „Ich gehe ans Klavier und spiele zwei Präludien und zwei Fugen von Bach. Anders kann ich es mir gar nicht vorstellen. Es ist so etwas wie ein Haussegen, aber es bedeutet mir noch mehr: die immer neue Wiederentdeckung einer Welt, der anzugehören ich mich freue.“ Bach als Zauberwort, als Morgenlob und Losung für den Tag: Aus dieser heiteren Kontemplation spricht die Lebensfreude einer undogmatischen Religiosität, ein Credo ohne Feindseligkeit, eine spielerische Weisheitslehre und tönende Philosophie.

Als Anleitung zu manueller Meisterschaft, als Musterbuch satztechnischer, kontrapunktischer und harmonischer Kompositionswissenschaft stellte Johann Sebastian Bach 1722 und noch einmal um 1742 zwei Bände mit je 24 Präludien und Fugen in allen Dur- und Moll-Tonarten zusammen: „Das Wohltemperirte Clavier.“ Lehrwerke wie diese, die zu Bachs Lebzeiten nicht im Druck erschienen, sondern von den Schülern abgeschrieben wurden – gegen Bezahlung einer Kopiergebühr an den Lehrer –, wurden auf einem Clavichord oder allenfalls auf einem Cembalo studiert: Im Unterricht bei Bach waren es zunächst die Inven­tionen und Sinfonien, danach die Französischen und Englischen Suiten und schließlich das Wohltemperierte Klavier. Zu unserem Glück zeichnete der Lexikograph Ernst Ludwig Gerber in den biographischen Anmerkungen über seinen Vater, einen ehemaligen Bach-Schüler, Erinnerungen an die Lektionen beim Leipziger Thomaskantor auf: „Er versprach ihm den erbetenen Unterricht und fragte zugleich, ob er fleißig Fugen gespielet habe? In der ersten Stunde legte er ihm seine Inventiones vor. Nachdem er diese zu Bachs Zufriedenheit durchstudirt hatte, folgten eine Reihe Suiten und dann das [Wohl-] temperirte Klavier. Dies letztere hat ihm Bach mit seiner unerreichbaren Kunst dreymal durchaus [vollständig] vorgespielt; und mein Vater rechnete die unter seine seligsten Stunden, wo sich Bach, unter dem Vorwand, keine Lust zum Informiren [Unterrichten] zu haben, an eines seiner vortreflichen Instrumente setzte und so diese Stunden in Minuten verwandelte.“

Theorien über Temperaturen

Was ist das: ein „wohltemperiertes“ Klavier? Ein unrein gestimmtes Klavier, so müsste die zutreffende, auf den ersten Blick allerdings ziemlich verwirrende Auskunft lauten. Aber die Musik für Tasteninstrumente wird – auch im heutigen Konzert – immer auf verstimmten Klavieren musiziert. Wie ist das zu verstehen? Wollte ein Klavierbauer die Saiten nach den reinen Schwingungsverhältnissen der Intervalle einrichten, dann ginge die Rechnung am Ende nicht auf: Vier reine Quinten ergeben einen höheren Zielton als zwei reine Oktaven und eine reine große Terz; die zwölfte Quinte, vom Grundton aus gezählt, trifft mithin nicht genau mit der siebten Oberoktave zusammen. Der Instrumentenbauer muss folglich die Stimmung der Klaviersaiten geschickt anpassen, er muss sie „temperieren“, ein Verb, das sich vom lateinischen „temperare“, richtig mischen, herleitet.

Im 16. und 17. Jahrhundert dominierte das Verfahren der mitteltönigen Temperatur, das aber noch beträchtliche Nachteile aufwies und bei allen Tonarten mit mehr als drei Vorzeichen an seine Grenzen stieß. Diese Einschränkungen der Modulationsfreiheit mochte der deutsche Organist Andreas Werckmeister, ein führender Musiktheoretiker des Barockzeitalters, nicht hinnehmen. Er entwarf ein Temperaturmodell, das den Zirkel der zwölf reinen Quinten schließt, indem es vier von ihnen „temperiert“ und die übrigen in ihrer akustischen Reinheit unangetastet lässt. Die großen Terzen erscheinen durchweg „geschärft“, also geweitet, doch klingen die am häufigsten verwendeten auch am reinsten, die ungebräuchlichsten – mit Zunahme der Vorzeichen einer Tonart – fallen vergleichsweise unsauber aus. Werckmeister war es, der den Begriff des „wohl temperirten Claviers“ prägte, und dass Bach diesen Titel für seine 48 Präludien und Fugen wählte, zeigt an, wie sehr er Werckmeisters Theorien schätzte. Die Frage der temperierten Stimmung besaß für ihn oberste Priorität. „Das reine stimmen seiner Instrumente so wohl, als des ganzen Orchestres war sein vornehmstes Augenmerck“, berichtet Carl Philipp Emanuel Bach über seinen Vater. „Niemand konnte ihm seine Instrumente zu Dancke stimmen u. bekielen. Er that alles selbst.“ Und in dem von Emanuel Bach und Johann Friedrich Agricola verfassten Nekrolog heißt es: „Die Clavicymbale wußte er, in der Stimmung, so rein und richtig zu temperiren, daß alle Tonarten schön und gefällig klangen. Er wußte von keinen Tonarten, die man, wegen unreiner Stimmung, hätte vermeiden müssen.“

Dann waren alle Tonarten sein

Es gibt untrügliche Anzeichen dafür, dass Bach keineswegs bedingungslos auf Werckmeisters „wohltemperierte Stimmung“ eingeschworen war, ja dass er auch die Überlegungen zu einer „gleichschwebenden Temperatur“ kannte und befürwortete, wie sie der Organist und Universalgelehrte Johann Georg Neidhardt, ein Schüler des Bach-Vetters Johann Nikolaus, anstellte. Nach seinem Modell sollten alle Quinten verengt und alle Terzen geschärft werden, um (namentlich im Ensemblespiel) jede Eingrenzung der möglichen Transpositionen zu vermeiden. Kritiker der zwölfstufig-gleichschwebenden Temperatur bemängelten an diesem Verfahren den Verlust der unverwechselbaren Tonartencharakteristik. Für welche Temperatur(en) sich Bach in der Praxis tatsächlich entschied, darüber lässt sich keine letztinstanzliche Aussage wagen. Die Mitteilung seines Schülers Johann Philipp Kirnberger, „wie der berühmte Joh. Seb. Bach ihm, währender Zeit seines von demselben genoßnen musikalischen Unterrichts, die Stimmung seines Claviers übertragen, und wie dieser Meister ausdrücklich von ihm verlanget, alle großen Terzen scharf zu machen“, weist auf eine „gleichschwebende Temperatur“ hin. Von Johann Nikolaus Forkel, Bachs erstem Biographen, erfahren wir: „Auch stimmte er [Bach] so wohl den Flügel als sein Clavichord selbst, und war so geübt in dieser Arbeit, daß sie ihn nie mehr als eine Viertelstunde kostete. Dann waren aber auch, wenn er fantasirte, alle 24 Tonarten sein; er machte mit ihnen was er wollte. Er verband die entferntesten so leicht und so natürlich mit einander, wie die nächsten; man glaubte, er habe nur im innern Kreise einer einzigen Tonart modulirt.“ Und genau dies, das unbegrenzte Spiel in allen 24 Dur- und Moll-Tonarten war auch der zentrale Entstehungsgrund und Bestimmungszweck des Wohltemperierten Klaviers.

Aber nicht der einzige. Auf dem Titel der Reinschrift des Wohltemperierten Klaviers Band I von 1722 definiert Bach ausdrücklich die Zielsetzung dieser Sammlung: „Zum / Nutzen und Gebrauch der Lehr-begierigen / Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem stu / dio schon habil seyenden besonderem / ZeitVertreib auffgesetzet / und verfertiget von / Johann Sebastian Bach.“ Möglicherweise wollte Bach mit dieser Reinschrift seine Bewerbung um das Amt des Leipziger Thomaskantors befördern, denn der Nachweis pädagogischer Qualifikation war unerlässlich, gehörte doch der private Klavierunterricht der Alumnatsschüler von St. Thomas zu den Aufgaben im angestrebten Kantorat.

Die Entstehungsgeschichte des Wohltemperierten Klaviers stellt die Forschung vor kaum lösbare Probleme. Der autographen Reinschrift des ersten Teils vom Ende der Köthener Ära ging einerseits eine Frühfassung der (vielfach noch erheblich kürzeren) Präludien und der (noch als Fughetten bezeichneten) Fugen voraus, andererseits wurde sie in späteren Jahren, zuletzt nach 1740, verschiedenen Revisionen unterzogen. Ohne Zweifel aber erstreckte sich der Kompositionsprozess über einen längeren Zeitraum, so dass auch ältere und einzeln entstandene Sätze, zum Teil transponiert, in die endgültige, chromatisch aufsteigende Ordnung der Tonarten integriert wurden. Was uns Ernst Ludwig Gerber sagen wollte, als er festhielt, Bach habe den ersten Band des Wohltemperierten Klaviers „an einem Orte geschrieben, wo ihm Unmuth, Lange Weile und Mangel an jeder Art von musikalischen Instrumenten diesen Zeitvertreib abnöthigte“, bleibt rätselhaft. Die „Ortsangabe“ passte bestenfalls auf die Wochen des Weimarer Arrestes (vom 6. November bis zum 2. Dezember 1717), auf die sich die Komposition des Werks aber gewiss nicht beschränkt haben kann.

Aus dem Labyrinth der Schwierigkeiten

Bachs Wohltemperiertes Klavier steht nicht ohne Vorbilder da und ist doch ohne Beispiel. Neben den Präludien norddeutscher Prägung, die sich durch den spannungsvollen Wechsel freier und fugierter Abschnitte auszeichnen, knüpft Bach an süddeutsche Traditionslinien an. In der Alternatim­ Praxis der katholischen Messe wurden die Verse des Kyrie, des Gloria und der anderen Teile des Ordinarium missae – oder des Magnificat in der Vesper – im Wechsel („alternatim“) zwischen Orgel und Chor vorgetragen. Die vom Organisten gespielten Verse, die sogenannten Versetten, konnten choralgebunden gehalten sein oder choralfrei, und solche choralfreien Versetten wurden seit dem späten 16. Jahrhundert, nach Tonarten geordnet, zu Sammelausgaben für die liturgische Praxis vereint. Der Wiener Hoforganist Johann Kaspar Kerll, dessen Werke Bach in jungen Jahren bewunderte und studierte, gruppierte Versetten zu kleinen Zyklen mit je fünf Fugen, gerahmt von einem Präludium und einem Schlusssatz, und führte sie durch die acht Kirchentöne: 1686 erschien seine Modulatio organica super Magnificat octo ecclesiasticis tonis respondens. Eine ähnliche Auswahl veröffentlichte der badische Kapellmeister Johann Caspar Ferdinand Fischer, der mit seiner Ariadne Musica von 1702, einem Orgelbuch, „das durch zwanzig Präludien, ebenso viele Fugen und fünf Ricercari über ebenso viele festzeitliche Kirchenlieder aus dem Labyrinth der Schwierigkeiten hinausführt“, als unmittelbarer Vorläufer Bachs beurteilt werden muss. Fischer verbindet, wie nach ihm Bach, ein Präludium mit nur noch einer Fuge zu einem Satzpaar und strebt überdies die Vollständigkeit der Tonarten an (allerdings sind bei ihm Dur und Moll noch mit Kirchentonarten gemischt). Wenn Bach in seinen Bänden des Wohltemperierten Klaviers Fugenthemen von Fischer zitiert, betont er selbst seine Verehrung für diesen Komponisten – und seine Wahlverwandtschaft mit dem Autor der Ariadne Musica. 1719 schließlich durchschritt der Hamburger Johann Mattheson in seiner Exemplarischen Organisten-Probe mit Generalbass-Übungen den Kreis der 24 Dur- und Moll­ Tonarten, und 1722 ließ der in Dresden wirkende Friedrich Suppig sein Labyrinthus musicus drucken, „bestehend in / einer / Fantasia. / Durch alle Tonos, / nemlich / durch / 12. duros und 12. molles, / Zusammen 24. Tonos“.

Das Werk aller Werke

Aber diese Anthologien, so modern und außergewöhnlich sie auch zu ihrer Zeit erschienen sein mögen, werden überstrahlt von Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier, dem „Werk aller Werke“, wie Robert Schumann es nannte, der es in seinen Musikalischen Haus- und Lebensregeln als das „täglich Brot“ des Musikers empfahl. Es versteht sich von selbst, dass Bach in den 48 Fugen den ganzen unerschöpflichen Reichtum seiner Kunst ausbreitet, dass er mit mehrfachem Kontrapunkt, Engführung, Scheinengführung, Parallelführung, wechselnder Stimmenzahl, Steigerungsdramaturgie, mit Vergrößerung, Verkleinerung und Um kehrung des Themas arbeitet, niemals schematisch, stets lebendig, überraschend, fesselnd und kühn. Allein die Erfindung der Themen offenbart seine grenzenlose Meisterschaft. „Bey Anhörung einer starck besetzten u. vielstimmigen Fuge“, erzählte Emanuel Bach von seinem Vater, „wuste er bald, nach den ersten Eintritten der Thematum, vorherzusagen, was für contrapuncktische Künste möglich anzubringen wären u. was der Componist auch von Rechtswegen anbringen müste, u. bey solcher Gelegenheit, wenn ich bei ihm stand, u. er seine Vermuthungen gegen mich geäußert hatte, freute er sich u. stieß mich an, als seine Erwartungen eintrafen.“ Die Präludien gestaltete Bach frei und offen für die vielfältigsten Stile und Gattungen. Ihr weites Spektrum reicht vom unthematischen, harmonisch-akkordisch geprägten „Klangflächenpräludium“ über improvisatorisch anmutende, motivisch orientierte oder imitatorische Sätze und Annäherungen an die Triosonate oder die Ritornellform des Konzertsatzes bis zu Zeugnissen moderner klavieristischer Virtuosität und Miniaturen im galanten Stil.

Doch mit all diesen Anmerkungen ist noch nicht viel gesagt über das Wohltemperierte Klavier. Der überwältigende Eindruck, der aus dem Studium, dem Spiel, dem konzentrierten Zuhören erwächst, ist ein anderer, tieferer, der ins Innerste der Welt führt, ja an die Geheimnisse kosmischer Ordnung rührt. Goethe lernte das Werk durch Johann Heinrich Friedrich Schütz aus dem thüringischen Berka kennen, einen Organisten, der über seinen Lehrer Johann Christian Kittel mittelbar, sozusagen als ein „Enkelschüler“, mit Bach verbunden war. Derart kundig vorgetragen, eröffneten die Bachschen Präludien und Fugen dem versunken lauschenden Dichter eine Ahnung vom tönenden Kosmos.

Jahre später rief sich Goethe diese musikalischen Weihestunden wieder ins Bewusstsein. In einem Brief an seinen Freund Carl Friedrich Zelter, den Leiter der Berliner Singakademie, schrieb er 1827: „Wohl erinnerte ich mich bei dieser Gelegenheit an den guten Organisten von Berka; denn dort war mir zuerst, bey vollkommener Gemüthsruhe und ohne äußere Zerstreuung, ein Begriff von eurem Großmeister geworden. Ich sprach mir’s aus: als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich’s etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung, möchte zugetragen haben, so bewegte sich’s auch in meinem Innern und es war mir als wenn ich weder Ohren, am wenigsten Augen, und weiter keine übrigen Sinne besäße noch brauchte.“

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