Ein Begriff von eurem Großmeister Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertes Klavier
Wo l f g a n g S t ä h r
Mit Bach fängt der Tag gut an. „Die letzten achtzig Jahre habe ich jeden Morgen auf dieselbe Weise begonnen, nicht etwa mechanisch, aus bloßer Routine, sondern weil es wesentlich ist für meinen Alltag“, verriet Pablo Casals am Ende seines langen Lebens. „Ich gehe ans Klavier und spiele zwei Präludien und zwei Fugen von Bach. Anders kann ich es mir gar nicht vorstellen. Es ist so etwas wie ein Haussegen, aber es bedeutet mir noch mehr: die immer neue Wieder entdeckung einer Welt, der anzugehören ich mich freue.“ Bach als Zauberwort, als Morgenlob und Losung für den Tag: Aus dieser heiteren Kontemplation spricht die Lebens freude einer undogmatischen Religiosität, ein Credo ohne Feindseligkeit, eine spielerische Weisheitslehre und tönende Philosophie. Als Anleitung zu manueller Meisterschaft, als Muster buch satztechnischer, kontrapunktischer und harmonischer Kompositionswissenschaft stellte Johann Sebastian Bach 1722 und noch einmal um 1742 zwei Bände mit je 24 Präludien und Fugen in allen Dur- und Moll-Tonarten zu sammen: „Das Wohltemperirte Clavier.“ Lehrwerke wie diese, die zu Bachs Lebzeiten nicht im Druck erschienen, sondern von den Schülern abgeschrieben wurden – gegen Bezahlung einer Kopiergebühr an den Lehrer –, wurden auf einem Clavichord oder allenfalls auf einem Cembalo stu diert: Im Unterricht bei Bach waren es zunächst die Inven 5