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Tetzlaff Quartett
Zu neuen Ufern
Streichquartette von Mozart, Bartók und Sibelius
Harry Haskell
Alle drei Streichquartette des heutigen Programms waren richtungsweisende Werke im Schaffen ihrer Autoren. Mozarts d-moll-Quartett, eines der sechs „Haydn-Quartette“, die er seinem hochgeschätzten älteren Kollegen widmete, blickt zurück in die musikalische Vergangenheit und lässt gleichzeitg die Zukunft erahnen. Es ist sowohl Hommage an Haydns klassische Ausgewogenheit und seinen geistvollen Witz als auch Vorahnung auf die stärker dramatisch geprägte Musik Beethovens und Schuberts. Béla Bartóks Suche nach Wegen, seine Musik formal organischer zu gestalten, führte zu so innovativen Konstruktionen wie der Bogenstruktur seines Vierten Streichquartetts, dessen fünf thematisch miteinander verwobene Sätze symmetrisch um den zentralen langsamen Satz angeordnet sind, wie um den Kern einer Nuss. Jean Sibelius wiederum hatte sich zu Beginn seiner Laufbahn einen Ruf als musikalischer Nationalist erworben mit Werken, die vom Geist der freien Natur und von der Dichtung des finnischen Nationalepos Kalevala inspiriert waren. Mit dem grüblerischen d-moll-Quartett von 1908/09 schlug er jedoch einen radikal neuen Weg ein, der ihn in die karge, postromantische Landschaft seiner späten Schaffensperiode führte.
Mozarts lyrisches Moll
Anfang der 1780er Jahre hatte Wolfgang Amadeus Mozart seine Lehrzeit als Streichquartett-Komponist bei Haydn abgeschlossen. Der hatte das klassische Streichquartett zu voller Reife gebracht – Mozart sollte es mit ungekannter emotionaler Tiefe und Komplexität bereichern. Nirgendwo wird das ohrenfälliger als in den sechs Quartetten, die Mozart zwischen 1782 und 1785 komponierte und die heute als „Haydn-Quartette“ bekannt sind. Mit der Widmung an seinen Mentor revanchierte sich Mozart bei Haydn, der einige Monate zuvor gegenüber Mozarts Vater Leopold geäußert hatte, dessen Sohn sei „der größte Komponist, den ich von Person und dem Namen her kenne. Er hat Geschmack und überdies die größte Kompositionswissenschaft.“
Das Quartett KV 417b (Nummer 421 nach dem alten Köchelverzeichnis), entstanden im Juni 1783, ist das zweite der „Haydn-Quartette“ und steht als einziges in Moll. Doch hat das Stück insgesamt nur wenig von dem tragischen Gestus, der Mozarts Moll-Werke oft auszeichnet. Die Musik ist eher warm und lyrisch als anschaulich-dramatisch. Lediglich in den beiden Außensätzen klingt es ein wenig gewichtiger und leidenschaftlicher, aber selbst ihre Grundstimmung ist vornehmlich freundlich und entspannt. Die lichte Eindringlichkeit des Quartetts ist stattdessen das Resultat der außergewöhnlichen expressiven Ökonomie des 27-jährigen Mozart. Die Musik erscheint auf das absolut Notwendige reduziert; sogar die Abschnitte, in denen Mozart sein thematisches Material verarbeitet, sind außergewöhnlich verdichtet.
Das nachdenkliche d-moll-Thema im eröffnenden Allegro, zunächst zögernd, dann bestimmt auftretend, wird von einem anmutigen Seitensatz in F-Dur abgelöst. Beide Themen stellt die erste Violine vor, die klar die Führungsrolle im Ensemble übernimmt. Doch Mozarts Verständnis des Streichquartetts war, wie dasjenige Haydns, ein grundsätzlich egalitäres; er verteilt sein musikalisches Material demokratisch auf alle vier Instrumente. Den abwechslungsreichen Mittelstimmen hört man ihre Bedeutsamkeit an. Nach der kurzen, harmonisch destabilisierenden Durchführung kehrt das Hauptthema in etwas dunklerem Gewand zurück, der d-moll-Höhepunkt führt dann unerwartet in ein durchsichtiges F-Dur-Andante im Dreiertakt.
Das an dritter Stelle stehende Menuett arbeitet verstärkt mit diesen Kontrasten in Tonalität, Satzgefüge, Stimmungsgehalt und Rhythmik. Im Trio beispielsweise kehrt Mozart geschickt eine vorwärts treibende, punktierte Figur aus dem Auftakt zum ersten Thema von lang-kurz auf kurz-lang um. Die federnde Finesse dieses Mittelabschnitts hebt die impulsiveren Qualitäten der ihn umschließenden Menuett- Teile hervor. Das finale Allegretto ma non troppo ist ein vierteiliger Variationensatz von bemerkenswerter harmonischer Flexibilität. Eine lebhafte Coda führt zurück in die Haupttonart und bringt das Quartett zu einem beschwingten Abschluss.
Bartóks fesselnde Klangwelten
Béla Bartóks Musiksprache, verwurzelt in den Volksmusiktraditionen Zentraleuropas und im Impressionismus des späten 19. Jahrhunderts, formte sich im rauhen Schmelztigel des frühen 20. Jahrhunderts. Die sechs Streichquartette, die er zwischen 1908 und 1939 schrieb, zeichnen seinen Weg von der farbenreich-leidenschaftlichen Romantik des frühen Schaffens bis zum düsteren Pessimismus der späten Werke nach. Als Klassiker der musikalischen Moderne sind sie mit mikroskopischer Präzision analysiert worden; kein Aspekt der musikalischen Sprache Bartóks, von den Feinheiten der Tonhöhenverteilung bis zum großformalen Aufbau, blieb unbeachtet. Für die meisten Hörer dürften das Beeindruckendste an Bartóks unverwechselbarem „Sound“ aber wohl eher sein unnachahmlicher rhythmischer Einfallsreichtum und die fesselnden Klangfarben sein, die er den vier Instrumenten entlockt.
Letztere Qualität macht vor allem sein drittes und viertes Streichquartett aus, die er 1927 bzw. 1928 schrieb. Bartók hatte kurz zuvor eine Aufführung von Alban Bergs Lyrischer Suite gehört und war ihrem klanglich-atmosphärischem Zauber verfallen. Gleichzeitig suchte er nach neuen formalen Strukturen, in denen er seine innovativen musikalischen Ideen präsentieren konnte. Schon länger hatte er sich für organische Entwicklungsprozesse interessiert, die die einzelnen Sätze eines Werkes durch wiederkehrende rhythmische, melodische oder harmonische Motive miteinander verbinden. Diesem Prinzip folgt das vierte Streichquartett, für das Bartók eine Variante seiner Bogenform entwickelte, die er schon in früheren Werken verwirklicht hatte. Die fünf Sätze sind sowohl strukturell als auch thematisch miteinander verschränkt, wie der Komponist in seinem Vorwort zur veröffentlichten Partitur schreibt: „Der langsame Satz bildet den Kern des Werkes, die übrigen Sätze schichten sich um diesen. Und zwar ist der IV. Satz eine freie Variation des II., die Sätze I und V wiederum haben gleiches thematisches Material, das heißt: um den Kern (Satz III) bilden die Sätze I, V die äußere, II, IV die innere Schicht.“ (Dass Bartók – oder sein Verleger – sich veranlasst sah, eine solche Erläuterung beizugeben, zeigt, welche Herausforderung das Quartett für damalige Interpreten darstellte).
Auch wenn strukturell-formale Aspekte naheliegende Orientierungspunkte beim Hören des Quartetts sind, sagen sie uns doch wenig über die innere Beschaffenheit dieser so ausdrucksstarken Musik. Bartóks Hinweis zum Beispiel, der erste Satz sei ein dreiteiliger Sonatensatz mit traditioneller Exposition, Durchführung und Reprise, beschreibt kaum die vielfältigen Erscheinungsformen des eindringlichen Sechstonmotivs, das fallend und steigend das heterogene musikalische Gewebe des Satzes zusammenhält. Noch wird er den merkwürdigen, herabschießenden Glissandi und zitternden Tremoli gerecht, dem amorph dahinjagenden zweiten Satz, der leidenschaftlichen, rhapsodischen Deklamation des dritten, den metallisch schlitternden Pizzicati des vierten oder den durchdringenden, stampfenden Tanzhythmen des Finales.
Sibelius’ innere Stimmen
Jean Sibelius hatte im tristen Winter von 1908/09 einen emotionalen Tiefpunkt erreicht. Zwar wurde er nach und nach auch über die Grenzen Finnlands hinaus bekannter, doch seine wachsenden Schulden waren Anlass zu fortwährender Sorge. Noch dazu hatte ein Tumor im Hals das Schreckgespenst Krebs heraufbeschworen, und der Rat seiner Ärzte, das Rauchen und Trinken aufzugeben, trug nicht gerade zur Verbesserung seiner Stimmung bei. („Es ist ein ganz anderes Leben ohne diese Aufheiterer“, schrieb er seinem Bruder). Zeit seines Lebens ein launischer Mensch, litt der 43-jährige Komponist nun unter starken Stimmungsschwankungen und versank regelmäßig in Depressionen.
Sein introspektives, mit sich selbst ringendes Streichquartett in d-moll, das den Beinamen Voces intimae, „Innere Stimmen“ trägt, reflektiert – ob bewusst oder unbewusst – Sibelius’ psychischen Zustand während der sechsmonatigen Entstehungszeit des Werks zwischen November 1908 und April 1909. Beinahe zwei Jahrzehnte waren seit Sibelius’ letztem Beitrag zur Quartett gattung vergangen; seitdem hatte er sich hauptsächlich der Symphonie und der symphonischen Dichtung gewidmet. Letztlich wandte er sich, zunehmend erdrückt von der „Last der Tradition“, von der üppigen, spätromantischen Tonsprache seiner frühen Werke ab zugunsten des kargeren, dunkleren und moderneren Gestus’ des d-moll-Quartetts.
Wie Bartóks Quartett ist es nicht traditionell viersätzig, sondern fünf sätzig angelegt. (Das kurze, scherzohafte Vivace wirkt beinahe wie ein Anhang des Eröffnungssatzes. Tatsächlich bezeichnete es Sibelius selbst als den „ anderthalbten Satz“). Der Dialog zwischen Violine und Cello zu Beginn erzeugt sofort eine intime Grundstimmung. Anschließend verdichten sich sowohl musikalische Struktur als auch thematischer Verlauf mit häufigen Stimmverdopplungen und Unisono-Passagen – typisch Sibeliussche Kunstgriffe. Das zarte, nachdenkliche Adagio ist der musikalische und emotionale Mittelpunkt des Stücks. Hier entwickelt Sibelius seine Gedanken ausgiebig, bis er in den letzten beiden Sätzen wieder zu einer kompakteren Schreibweise zurückkehrt. Knappe melodische und rhythmische Motive verleihen dem Allegretto und dem Allegro – das einem dämonischen Perpetuum mobile gleicht – eine atemlose Intensität.
Das d-moll-Quartett war ein Meilenstein in Sibelius’ Laufbahn. Mit ihm, erklärte Sibelius, „habe ich das Schulschiff verlassen und meinen Meisterbrief erhalten. Jetzt setze ich die Segel aufs offene Meer.“ Doch obwohl Voces intimae allgemein als Meisterwerk gilt, war Sibelius’ eigenes Urteil durchwachsener: „Das melodische Material ist gut, aber die Klangfarben sind eine andere Sache“, schrieb er in sein Tagebuch. „Die Textur könnte etwas durchsichtiger und klarer sein, und, warum soll man es nicht aussprechen, etwas quartettmäßiger.“ Offenbar war Sibelius dann aber doch anderer Meinung, denn als das Quartett in Druck gehen sollte, überarbeitete er den Schluss, um ihn noch dichter und „symphonischer“ zu gestalten. Gleichzeitig verfolgte er den sparsamen und zunehmend elliptischen Stil weiter, der in seiner nächsten großen Komposition Ausdruck finden sollte, der Vierten Sinfonie von 1911.