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LAURENT HILAIRE Der neue Direktor des Bayerischen Staatsballetts im Porträt
DIE HÄNDE ZUM HIMMEL ...
... aber die Füße auf der Erde! Laurent Hilaire vereint russischfranzösische Ballettkunst wie vielleicht kein zweiter. Was hat er in München vor?
Laurent Hilaire ist ein besonnener Mann. Er hält inne, nachdem er etwas gefragt wird, überlegt und antwortet dann ausführlich. Geht Ecken, beschreibt Hindernisse in seinem Denken. Und gelangt zu einem nachvollziehbaren Schluss. Ein solcher Entschluss war es für ihn, Russland zu verlassen. Im Februar 2022, kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, hat Laurent Hilaire seine Compagnie, seine Tänzer und seine künstlerische Arbeit am StanislawskiTheater in Moskau hinter sich gelassen. Seit 2017 war er dort Ballettdirektor gewesen. Und da kurz darauf in München, am Bayerischen Staatsballett, eine ähnliche, wenn auch umgekehrte Geschichte stattfand – Direktor Igor Zelensky verließ seinen Posten am Bayerischen Staatsballett – fügte sich Hilaires Beschluss sehr gut. Seit Mai 2022 ist Laurent Hilaire neuer Ballettchef in München. Der Weg dahin war ein ungewöhnlicher und ein ungewöhnlich kurzer. Künstlerisch aber passt das wunderbar, welch ein Glück für die Stadt und das Ensemble.
Bei Hilaires Arbeit liegt der Fokus auf der künstlerischen Ausformung von Stil und Technik der Tänzer. Hilaire choreographiert nicht selbst – er habe nie ein Bedürfnis danach gehabt, erklärt er im Interview. Aber er habe eine Vision, was eine Compagnie als Gruppe künstlerisch sein und werden kann. Das ist nun zunächst einmal etwas viel Abstrakteres als zu einer bestimmten Musik Bewegungen schaff en zu wollen. Hilaire muss diese Gruppe von etwa 70 Tänzern und Einzelkünstlern als Ganzes begreifen – um zu sehen, was in dieser Gruppe steckt, wohin sie sich entwickeln kann, was er von dieser Gruppe von Menschen auf einer Bühne in einer Choreographie in ein paar Jahren sehen will.
Sicher hilft es da, dass Hilaire in einer der berühmtesten Com pagnien der Welt groß geworden ist: Er wurde an der Ballettschule der Pariser Oper ausgebildet. 1975, mit 13 Jahren, begann er dort zu studieren. Davor habe er nicht getanzt, sondern geturnt. Dort wurde sein Talent entdeckt und seiner Familie ein Vortanzen an der berühmten Schule empfohlen. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es in seinem familiären Umfeld niemanden mit Theaterbezug. Ziemlich schnell stand er dann auch schon das erste Mal auf der Bühne. „Ich habe im September mit der Ausbildung begonnen“, erzählt er, „und bereits im Januar das erste Mal auf der Bühne gestanden, in Dornröschen“. Das sei gleichzeitig das erste Mal gewesen, dass er ein Ballett auf einer Bühne aufgeführt sah. Auch im Fernsehen hat er sich zuvor nie Ballett angesehen. „Ich wollte kein Tänzer werden, ich wollte turnen“, erinnert er sich. Doch das änderte sich mit der ersten Bühnen- und Balletterfahrung schnell: „Es war toll: Ich schaute auf den Prinzen im Pas de deux des dritten Aktes und war fasziniert.“ Von dem Moment an habe er gewusst, was er werden wolle: Étoile.
Das hat dann auch ganz prima geklappt. 1979 wurde er ins Corps de ballet aufgenommen, 1985 machte Rudolf Nurejew den langgliedrigen Tänzer zum Étoile, 22 Jahre tanzte er auf dieser Position. In der Ballettwelt ist das alles legendär – die Pariser Schule, die Compagnie, vor allem unter der Direktion von Nurejew, oder auch Hilaires langjährige Bühnenpartnerin in Paris, Sylvie Guillem. In Hilaires Stil und Technik, Darstellung und Ausdruck zeigt sich genau dieser Hintergrund: Französische Ausbildung gepaart mit russischer Praxis.
Doch worin liegen für Hilaire die stilistischen Unterschiede der beiden ästhetischen Schulen? Wenn der Franzose
das erklärt, tanzen seine Arme: Entweder sie zeigen das unbedingte Wollen, das emotionale Auf- und Untergehen im Tanz der russischen Schule. Seine Arme ziehen seinen gesamten Oberkörper, seinen Kopf, seine Ausstrahlung und Präsenz in die Richtung, in die er es möchte. Oder aber seine Arme imitieren die Füße, er zeigt mit den Händen eine perfekte Auswärtsdrehung der Beine, eine detailreiche, starke und analytische Fußarbeit – für ihn das Merkmal und die Grundlage der französischen Schule.
Und jetzt, auch mit seiner Erfahrung als Tanzdirektor in Moskau, sucht Hilaire in den zwei Schulen und den ästhetischen Strömungen einen Weg der Mitte. „Es geht um die Balance“, sagt er. Heißt: Exzellente Basis, absolute Kontrolle und unmittelbare Kraft aus der tollen Fußarbeit der Franzosen. Und das Schwelgen, das Sich-Fallen-Lassen, das unbedingte Wollen der Russen, das den Bewegungen etwas fast Jenseitiges und Außermenschliches gibt. Beides stets nächstmöglich an der Perfektion. Was klassischen Tanz im besten Fall zu einer ebenso abstrakten wie (über-)sinnlichen Bühnenausdrucksform macht. Und magische Momente kreieren kann.
Für München ist ein Direktor mit einem solchen Denken ein Glücksfall. Für Hilaire selbst ist es dennoch ein sehr kurzfristiger Start auf einer solchen Position. Die Spielzeiten sind in der Regel ein bis zwei Jahre im Voraus geplant. Hilaire stieg zum Ende der Saison 2021/22 ein und übernahm die Premieren 2022/23 von seinem Vorgänger. Doch Laurent Hilaire ist auch Pragmatiker: „Da gab es keine andere Möglichkeit. Außerdem gehören Alexei Ratmansky und das Choreographen-Duo Sol León und Paul Lightfoot, die für die Premieren der laufenden Spielzeit verantwortlich sind, zu den gefragtesten Tanzschaff enden weltweit“, sagt er. Und so sei diese erste Zeit in München für ihn auch eine gute Gelegenheit, erstmal die Tänzer kennen zu lernen, wieder in Europa anzukommen, die Mechanismen in München, am Theater, zu verstehen und mit dem Ensemble zu arbeiten.
Dazu gehört auch, dass er bei den Proben dabei ist. Wenn Hillaire betont, dass er den Ballettmeistern da keine Kompetenz abschreiben möchte, zeigt sich erneut, wie bedacht er ist. Dennoch spricht er mit den Tänzern über die Rollen und was sie darin psychologisch und im körperlichen Ausdruck leisten können. Detailreiche und praktische Arbeit mit den Tänzern ist für ihn Teil seiner Arbeit als TSCHAIKOWSKI-OUVERTÜREN Direktor. Was kann und will Tanz vermitteln? In den Klassi- Alexei Ratmansky Nationaltheater kern? Und in den modernen Stücken? Für Hilaire hängt der Fr., 23.12.2022, 19:30 Uhr PREMIERE (PREISE K) tänzerische Ausdruck an Details. Aber auch in der psycho- EXKLUSIVER VVK AB 16.11.2022 Mo., 26.12.2022, 15:00 Uhr (PREISE I)* EXKLUSIVER VVK AB 21.11.2022 logischen Rollenarbeit. Mo., 26.12.2022, 19:30 Uhr (PREISE I) EXKLUSIVER VVK AB 21.11.2022
Klar war der Abschied aus Russland in dieser Hinsicht Di., 27.12.2022, 19:30 Uhr (PREISE I) EXKLUSIVER VVK AB 21.11.2022 für ihn auch schmerzhaft. Er hatte mit der Compagnie ge- Preise I: ab 65,52 € bis 114,80 €, Preise K: ab 85,68 € bis 150,64 € arbeitet, er hatte dort Stücke geplant, die jetzt nicht oder * Familienvorstellung Informationen und Karten im SZ-ServiceZentrum – solange der Vorrat reicht.
ohne ihn stattfi nden. Und die Arbeit in München unterscheidet sich von der in Russland. Rein schon wegen der Arbeitszeiten. In Russland gibt es sechs Werktage. Das macht aufs Jahr gesehen ziemlich viele Probentage mehr. Doch auch hier ist Hilaire pragmatisch: „Es ist nie genug Zeit zum Proben“, sagt er. Egal, ob man fünf oder sechs Tage die Woche hat. Und andererseits war München für Hilaire auch ein Wunsch. Von Paris nach Moskau und jetzt München, das ergebe Sinn für ihn. Er habe andere Angebote gehabt. München, mit dem großen eigenen Theater, samt der Infrastruktur, inklusive Orchester, das ist attraktiv für ihn als Direktor. Das ermöglicht einen Repertoirebetrieb und kein Ensuite-Spielen. Das sei ihm wichtig. Also zum Repertoire: In Russland brachte er Klassiker auf die Bühne, aber auch Werke von Zeitgenossen wie Sharon Eyal oder Marco Goecke. Nun arbeitet er an der Spielzeit 2023/24 für München. Seine erste Wiederaufnahme im Herbst 2022 wird Romeo und Julia sein, in der Münchner Version von John Cranko. Hilaire hat selbst oft den
In Hilaires Stil und Technik, Romeo getanzt, allerdings nicht in Crankos Fassung. In
Darstellung und Ausdruck der tanzte er jedoch mal im zeigt sich sein Hintergrund: Corps de ballet, „in den Achtzigern“, erzählt er, „oh,
Französische Ausbildung vor 40 Jahren“, fügt er an gepaart mit russischer Praxis. und lacht. Später stand er dann in der Titelrolle von Nurejews Version in Paris auf der Bühne. Doch: „Ich freue mich auf die Cranko-Version, die habe ich lange nicht gesehen“, sagt er. Welche Stücke, welche Choreografen er dann für seine erste selbst gestaltete Spielzeit in München im Sinne hat, sagt er natürlich nicht. Aber dafür einen schönen Satz: „Man kann das Publikum auch ein bisschen fordern, neue Anreize schaff en.“ Also durchaus auch mal ein Stück auf den Spielplan setzen, das nicht so populär oder zugänglich ist. Und dann: Wenn die Technik und der Stil der Tänzer, im psychologischen Ausdruck, im Schwung und im Fallen, im Sehnen und im Wollen da sind, präsent und spürbar sind – dann wird das Publikum da mitgehen. Egal wie abstrakt das Stück ist. Sagt Laurent Hilaire.