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Die erstickte Mahnung
Er hatte noch mal alles versucht: Über die Entstehungsgeschichte von Ernst Kreneks Bühnenwerk Karl V. – und warum es 1934 nicht zur Uraufführung kam.
Text: Matthias Henke
1933 beging Ernst Krenek eine Verzweiflungstat. Man könnte auch sagen, er unternahm einen Bestechungsversuch, und dies ausgerechnet zu Weihnachten. Auf Anraten des Verlegers Hans Heinsheimer fügte er in den bereits fertigen Klavierauszug seiner zur Uraufführung anstehenden Oper Karl V. ein ergänzendes Blatt ein. Es enthielt den Zusatz „Dieses Werk widme ich der Wiener Staatsoper und ihrem Direktor Clemens Krauss“, – eine diplomatische Wendung, zielte sie doch auf die Institution beziehungsweise den Dirigenten, von denen nicht nur der Anstoß zur Komposition ausgegangen war, sondern die sich auch bereit erklärt hatten, das anspruchsvolle Bühnenstück aus der Taufe zu heben. Und Krenek legte noch nach, indem er der gedruckten Widmung eine handschriftliche folgen ließ: „Und überreiche Ihnen dieses Exemplar in der Erwartung großer Taten zum Zeichen freundschaftlichster Erinnerung, ergebenst,Ernst Křenek“. Zudem ergriff der Komponist eine flankierende Maßnahme. Er ließ einige Exemplare des Klavierauszugs edel einbinden, um sie – gleichfalls mit persönlichen Widmungen – an hochgestellte Persönlichkeiten zu verschicken: unter ihnen Engelbert Dollfuß, der wenige Wochen später ermordete Bundeskanzler Österreichs, und Kardinal Innitzer, der Erzbischof von Wien. Kreneks „Bestechungsversuch“ lief jedoch ins Leere. Selbst sein Kniefall vor Clemens Krauss und den anderen Prominenten konnte nicht verhindern, dass Karl V. bei schon laufenden Proben, also noch vor der Uraufführung, abgesetzt wurde. Der Komponist hatte das Unheil kommen sehen. Aus eben diesem Grund wollte er mit den handschriftlichen Widmungen ja gute Stimmung machen, um so die Uraufführung zu retten. Aber offenkundig unterschätzte er die Macht und den Einfluss seiner Gegner, die vor allem aus dem Dunstkreis der sogenannten Heimwehr stammten, jenes paramilitärischen Verbandes, der sich gleich nach dem Ersten Weltkrieg gegründet hatte. Zu dessen rechtskonservativen und antisemitischen Mitgliedern gehörten auch zwei Musiker: Hans Burghofer, der im Orchester der Staatsoper als Fagottist wirkte, und Joseph Rinaldini, ein Komponist, der wie Krenek bei Franz Schreker studiert hatte, jetzt aber zahlreiche Funktionärsposten bekleidete und sich auch publizistisch betätigte. Beide nahmen Clemens Krauss nun regelrecht in die Zange. Burghofer wiegelte seine Orchesterkollegen auf, sich der Uraufführung von Karl V. zu widersetzen, Rinaldini hetzte in den Medien gegen das Werk.
In der Folge distanzierte sich Krauss Schritt für Schritt von Krenek. Zunächst ließ er verdächtig lange nichts von sich hören, dann jammerte er über zu wenig Probenzeit, später verlangte er Nachbesserungen. Aber obwohl Krenek nahezu all seinen Wünschen entsprach, sagte Krauss die für den Februar 1934 angesetzte Uraufführung schlussendlich ab.
Den Nährboden für die von Burghofer und Rinaldini verantwortete Kampagne bot zweifelsfrei Kreneks 1927 uraufgeführte Oper Jonny spielt auf, ein Sensationserfolg, der das Publikum als eine der meistgespielten Opern der späten 1920er Jahre in Europa begeistert hatte. Dass hier ein schwarzer Jazzmusiker als Titelheld agierte und sich Krenek an den Idiomen der amerikanischen Unterhaltungsmusik orientierte, war den beiden Chauvinisten ein Dorn im Auge. Mehr noch dürfte sie allerdings Kreneks musikalischer Sprachwechsel erzürnt haben. Hatte er eben noch eine neoromantische Phase durchlebt, die in seinem Schubert-nahen Reisebuch aus den Österreichischen Alpen (1929) gipfelte, so bediente er sich jetzt, in Karl V., eines ultramodernen Verfahrens: der Methode, mit „zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ zu komponieren, wie ihr Urheber Arnold Schönberg es formulierte, also Klänge jenseits von Dur oder Moll zu gestalten. Die „willigen Vollstrecker“ aber, die Burghofers und Rinaldinis und wie sie alle heißen mochten, witterten in diesem rein musikalisch begründeten Vorgehen so etwas wie „jüdische Zersetzung“, wenn nicht gar „Weltverschwörung“.
Nach dem Desaster mit Clemens Krauss und der Wiener Staatsoper befand Krenek sich sozusagen im Auge des Taifuns, in einem gefährlichen Wirbel aus privaten, schöpferischen wie politischen Problemen, dem standgehalten zu haben wiederum seine mentale Stärke bezeugt. Privat, weil der im Jahr 1900 Geborene das zuvor geführte, bohemehafte Wanderleben, das ihn beruflich etwa nach Berlin, in die Schweiz, nach Kassel und Paris geführt hatte, hinter sich lassen wollte, sich ein behagliches Nest ersehnend, das er in seiner Heimatstadt Wien zu finden hoffte – letztlich vergeblich. Schöpferisch, weil er nach seinen zahlreichen Klangerkundungen – den Ausflügen in die Neoklassik, dem Spiel mit der Atonalität, dem Kokettieren mit sogenannten leichten Genres (etwa der Operette) oder der Neuen Sachlichkeit – sich auch kompositorisch
nach einer neuen Heimat sehnte, nach einem Gehäuse der Stabilität. Und politisch, weil er, der sich selbst als eher konservativ einstufte, seit der Machtergreifung Ende Januar 1933 auf den Schwarzen Listen der Nationalsozialisten stand, denen er seit eh und je mit großer Abscheu begegnet war.
Es hat den Anschein, als habe sich Krenek in jenen stürmischen Zeiten der 1920er bis Anfang der 1930er Jahre mit Karl V. so etwas wie eine Arche Noah bauen wollen, um denerahnten Tsunamis trotzen zu können. In diesem Zusammenhang erkundete er, weitgehend auf sich allein gestellt, die Möglichkeiten der Zwölftonmusik nach Art der Wiener Schule. Anfangs stand er ihr durchaus skeptisch gegenüber. Doch nach und nach entdeckte er ihr Potenzial, ihren unendlichen, naturhaften Variantenreichtum. Zu einer weiteren Tiefenbohrung setzte Krenek an, nachdem ihm Clemens Krauss anfang der 1930er Jahre vorgeschlagen hatte, ein Bühnenwerk über eine historische Persönlichkeit zu schreiben. Der Komponist, der die Textbücher seiner Opern in aller Regel selbst verfasste, wählte Kaiser Karl V., eine Gestalt, die ihn seit seiner Schulzeit fasziniert hatte. Um dem Weltenherrscher und seinen Taten gerecht zu werden, studierte Krenek in der Österreichischen Nationalbibliothek monatelang die einschlägigen Quellen. Allmählich kam er dem Wesen Karls näher: seiner Tragik, die infolge der Reformation gespaltene Christenheit nicht wieder einen zu können; aber auch seiner menschlichen Größe, die sich im Eingeständnis des eigenen Scheiterns und dem Verzicht auf die Kaiserwürde offenbarte. „Gott, der Herr, verlangte von mir“, lässt Krenek Karl V. gleich zu Beginn seines Bühnenwerks sagen, „daß ich die Welt im Zeichen Christi einige, nachdem er durch Columbus uns das Wissen um die Ausdehnung der Erde geschenkt. Von Spanien aus […] sollte ich den Geist ausgießen über den Ozean der menschlichen Vielheit, daß sie zur Einheit werde.“
Es dürfte Krenek wie eine Art Erleuchtung erschienen sein, als ihm der Gedanke kam, die frisch gewonnenen Einsichten in die Zwölftonmethode mit dem jüngst erworbenen Wissen über Karl V. kurzzuschließen. Nach der Zwölftonmethode bildet man aus einer einzigen Reihe eine unüberschaubare Zahl von Varianten, etwa durch Spiegelungen und Transpositionen. Deutet man diese Methode als einen Garanten für die musikalische Einheit, die durch die Möglichkeit immer wieder anderer Reihenbildungen Vielfalt zulässt, dann könnte Kreneks Musik quasi symbolisch die Ideenwelt des Kaisers repräsentieren – ein faszinierender Ansatz, den der Komponist radikal umsetzte. Auf diese Weise schuf er die erste (komplett) nach der Zwölftonmethode komponierte Oper. Bahnbrechend geriet ihm allerdings nicht nur die Musik. Auch sein Textbuch stand der Moderne nahe. Hier ist vor allem der Kunstgriff zu erwähnen, den Kaiser eine Lebensbeichte ablegen zu lassen, während der er die wichtigsten Stationen seines Wirkens erläutert – eine dramaturgische Technik des Kinoenthusiasten Krenek, die an filmische Rückblenden erinnert.
Und dass er dem Übermächtigen einen jungen, unerfahrenen Mönch an die Seite stellte, einen Beichtvater namens Juan de Regla, der ungeniert nachfragte, wenn er den kaiserlichen Darstellungen nicht folgen konnte, erinnert an das epische Theater des von Krenek wenig geschätzten Bertolt Brecht, speziell an dessen Lehrstücke.
Karl V. lässt vor seinem geistigen Auge Luther vorüberziehen, der sich und seine Lehre vor ihm verteidigen musste – so geschehen 1521 in Worms. Aber er hat nicht nur gegen die ihm als gefährliche Front erscheinende Protestation zu kämpfen, sondern auch gegen manchen Katholiken von Stand, etwa gegen den französischen, nationalistisch eingestellten König Franz I., dem Übergeordnetes wie die Einheit des Christentums nur wenig gilt. Gefahren drohen zudem aus dem Orient, schicken sich doch die Osmanen an, ihren Machtbereich zu vergrößern.
Gewiss, Krenek mochte sich mit dem gestrauchelten Kaiser teilweise identifiziert haben, weil er sich selbst als rastlos Suchenden empfand, als jemanden, der stets an den eigenen Ansprüchen zu scheitern vermeint. Auch konnte er bei der Abfassung des Textbuches seinen privaten, geschichtlich orientierten Interessen nachgehen. Dennoch ist Karl V. kein persönliches Bekenntnis. Vielmehr schildert Krenek mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln jene Gefahren, welche Gesellschaften drohen, die sich aus ideologischen oder religiösen Gründen aufspalten oder sich bedingungslos einem Heilsbringer unterwerfen. Er formulierte seinen Appell vor dem Hintergrund des erstarkenden Nationalsozialismus. Obwohl die braune Bewegung Österreich seinerzeit schon infiltriert hatte, bekämpften sich die Linken und die Konservativen des Landes bis aufs Messer und verloren den wirklichen Feind aus dem Blick. Die Übertragung einer solchen Situation auf das aktuelle Geschehen liegt nahe, so nahe, dass sie hier nicht geleistet werden muss. Wohl aber gilt es, an dieser Stelle die grandios gestaltete Schlussszene der Oper zu erwähnen, in der Krenek dem Orchester eine Art Uhrenticken entlockt, um das Sterben des dahinwelkenden Kaisers zu begleiten – ein klingendes Mahnmal der zerrinnenden Zeit, ein Memento mori, das die Frage provoziert, ob es noch fünf vor zwölf oder nicht gar schon zu spät ist.
Epilog
Nach dem Scheitern der für Februar 1934 in der Wiener Staatsoper angesetzten Uraufführung verstrichen fünf Jahre, bis Kreneks Karl V. erstmals über die Bühne ging: so geschehen in Prag, im Neuen Deutschen Theater, am 22. Juni 1938. Die Verantwortlichen, der Intendant Paul Eger, der Dirigent Karl Rankl und der Regisseur Friedrich Schramm, wollten mit ihrer Inszenierung nicht zuletzt ein politisches Zeichen setzen: gegen Hitler und seine Expansionspolitik, die im März des Jahres zum „Anschluss“ Österreichs geführt hatte. Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht bedeutete für Krenek, der sich gerade auf der Rückreise von einer USA-Tournee befand, Österreich erst nach dem Zweiten Weltkrieg wiedersehen zu können. Zur großen Enttäuschung seiner Kollegen blieb er der Prager Uraufführung fern: aus organisatorischen Gründen, aber auch aus Furcht, er, der gerade durch Europa irrte, könne in Prag oder auf dem Weg dorthin in die Hände der Nazis fallen. Nach Monaten der Ungewissheit bestieg er am 20. August 1938 in Le Havre ein Schiff, um eine Woche später offiziell in die USA einzuwandern.
Matthias Henke ist Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Siegen. Er ist unter anderem Wissenschaftlicher Beirat der Ernst Krenek Institut Privatstiftung. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Musik der (österreich ischen) Moderne, zuletzt veröffentlichte er Schönheit und Verfall. Beziehungen zwischen Thomas Mann und Ernst Krenek, 2015.
Karl V. Bühnenwerk mit Musik in zwei Teilen Von Ernst Krenek
Premiere am Sonntag, 10. Februar 2019, Nationaltheater
STAATSOPER.TV Live-Stream der Vorstellung am Samstag, 23. Februar 2019, auf www.staatsoper.tv