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Sein Weg zum Rosenkavalier war kein einfacher: Vladimir Jurowski über ein Werk, das er lange Zeit nicht verstanden hat.

„JEDER SPRICHT FÜR SICH SELBST, JEDER SPRICHT ETWAS ANDERES UND JEDER IST FÜR SICH ALLEIN“

Interview Benedikt von Bernstorff | Collage Ben Lewis Giles

MAX JOSEPH Herr Jurowski, ich bin mit einer der berühmten Karajan-Aufnahmen des Rosenkavaliers aufgewachsen und werde mein Leben lang die Stimmen von Elisabeth Schwarzkopf und Christa Ludwig als Marschallin und Octavian nicht aus dem Kopf bekommen. Wie war das bei Ihnen? Sie haben Ihre Kindheit in Russland verbracht. Gab es da eine Strauss-Tradition? Und wie hat man den Rosenkavalier wahrgenommen?

VLADIMIR JUROWSKI Eine Strauss-Tradition gab es, aber keine Tradition des Rosenkavaliers. Die Oper war überhaupt nicht bekannt und wurde auch nie gespielt. Es gab in den 1920er Jahren eine einzige Inszenierung am Leningrader Maly-Theater. Vor der Revolution hätte das Werk wegen seines anzüglichen Inhalts wahrscheinlich nicht die zaristische Zensur passiert. In der sowjetischen Zeit war es dann genauso unwillkommen. Man hat Richard Strauss grundsätzlich eher unfreundlich beäugt, weil man ihn in Verbindung mit dem Nationalsozialismus brachte. In den 1960er Jahren gab es ein Gastspiel der Wiener Staatsoper mit Karl Böhm, bei dem unter anderem auch der Rosenkavalier aufgeführt wurde. Mein Vater, der in der Vorstellung war, hat mir davon berichtet. Für mich selbst war die Oper lange nicht mehr als ein Begriff. Irgendwann habe ich die Walzerfolgen gehört, und ich habe ehrlich gesagt den Sinn dieser kompositorischen Übung nicht verstanden.

MJ Wie sind Sie dem Stück dann nähergekommen?

VJ Mich hat die Suite aus Der Bürger als Edelmann [Urfassung der Ariadne auf Naxos, Anm. d. Red.], die ich auch als Teenager gehört habe, viel stärker fasziniert, weil ich die Mischung aus französischem Barock und Jugendstil als Kompositionsprinzip sehr interessant fand. Ich habe dann erst später verstanden, dass dieses Stück ohne den Rosenkavalier nicht hätte geschrieben werden können. Er war ein absolut notwendiger Schritt auf dem Weg zum Neoklassizismus, wie ihn Strauss pflegte. Ich habe eine von mir zusammengestellte Suite aus der Oper gerade mit dem Swetlanow-Orchester in Moskau gespielt. Wir haben ihr die Figaro-Ouvertüre vorangestellt. Für mich als ehemaligen Musikwissenschaftler war die Verbindung zwischen beiden Stücken schon ziemlich früh klar: Strauss wollte sich mit dem Rosenkavalier vom Wagner-Erbe befreien; und Hugo von Hofmannsthal kam ihm da mit seiner Vorliebe für die Passeismen sehr zu Hilfe. Man sprach noch nicht von Klassizismus, man nannte es „Passéism“, vom französischen „passé“ im Sinne von Vergangenheit. Das war derselbe Begriff, der auf das Schäferspiel in Peter Tschaikowskys Pique Dame angewandt wurde. Für uns Russen ist sozusagen Tschaikowsky der erste Neoklassiker.

MJ Gibt es für Sie eine Verwandtschaft der Mozart-Bezüge von Tschaikowsky und Strauss?

VJ Auf jeden Fall. Ich finde sowieso, dass man Strauss viel zu stark in die Wagner-Ecke geschoben hat.

MJ Sein Vater, der als Hornist an der Oper in München spielte, mochte ja Wagner überhaupt nicht.

VJ Eben. Er hat ihn immer sehr schroff kritisiert und hielt zum Beispiel den alten Franz Lachner für einen viel besseren Komponisten. So wurde der junge Richard Strauss in Ehrfurcht nicht nur vor den Klassikern, sondern auch vor Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann und Johannes Brahms erzogen. Das hört man auch in seinen frühen Werken wie der Bläserserenade und dem Violinkonzert und irgendwie auch in der Burleske, die ich immer sehr geliebt habe. Mein Weg zum Rosenkavalier war jedenfalls kein einfacher, weil ich das Werk lange Zeit nicht verstanden habe. Mir war natürlich die Schönheit einzelner Szenen klar: das Überreichen der silbernen Rose und das Final-Terzett. Aber man kann doch eine vierstündige Oper nicht wegen zwei, drei schöner Momente spielen. Man muss das Werk als Ganzes verstehen.

MJ Sie haben in den vergangenen Jahren mehrfach Ariadne auf Naxos und Die Frau ohne Schatten dirigiert.

VJ Ich bin damit quasi rückwärts zum Rosenkavalier gelangt, und inzwischen finde ich das ein absolut hinreißendes Werk, das man aber unbedingt aus der Perspektive seiner Zeit und der historischen Umstände sehen muss.

MJ Der Rosenkavalier wird ja auch als Wendepunkt im Verhältnis von Strauss zur Avantgarde wahrgenommen. Komponisten der Moderne wie Edgar Varèse und Arnold Schönberg, die seine Musik zuvor faszinierend fanden, waren vom Rosenkavalier entsetzt.

VJ Strauss wurde tatsächlich von seinen früheren Verehrern und Freunden wegen seiner Hinwendung zum romantischen Stil verschmäht. Er hat sie aber eigentlich alle an der Nase herumgeführt. Wer wirklich aufmerksam zuhört, erkennt die Dissonanzen im Rosenkavalier auf Schritt und Tritt. Man findet zum Beispiel in der Szene des Ochs im ersten Akt, der Arie, in der er von seinen Abenteuern berichtet, lauter „falsche“ harmonische Wendungen wie bei Strawinsky. Und die Pantomime des dritten Akts, in der das Lynchen des Ochs vorbereitet wird, klingt wie eine sehr geschickt gemachte Parodie auf die zeitgenössische Musik. Strauss wusste schon sehr gut, was er tat; als wollte er seinen Kollegen sagen: Was ihr zu können glaubt, das kann ich schon lange und viel besser. Nur tue ich es nicht. Wenn man die musikalische Entwicklung politisch nimmt, dann war Strauss’ und Hofmannsthals Abkehr von der Gegenwart ein Verrat. Aber wenn man das aus der welthistorischen Perspektive sieht, dann war das gar kein Verrat. Es war vielleicht eine Rettung. Denn man braucht ein Gegengewicht.

„Strawinsky hat relativ schroff über Strauss geurteilt. Gegenüber Robert Craft hat er über eine Aufführung des Rosenkavaliers sinngemäß gesagt: Es ist ungesund, wenn man drei Stunden lang nur mit Schlagsahne und Eis gefüttert wird.“

MJ Der Begriff Neoklassizismus fällt eigentlich nie im Bezug auf Strauss. Aber gibt es vielleicht trotzdem eine Parallele zu Strawinsky in dem Gefühl, dass sich die avantgardistischen Energien erschöpft haben und man eine Art von Vergangenheitsbezug benötigt?

VJ Strawinsky hat relativ schroff über Strauss geurteilt. Gegenüber Robert Craft hat er über eine Aufführung des Rosenkavaliers sinngemäß gesagt: Es ist ungesund, wenn man drei Stunden lang nur mit Schlagsahne und Eis gefüttert wird. Ich glaube trotzdem, dass er irgendwie in ihm doch auch einen verwandten Geist erkannt hat. Der Gegensatz zu Strauss ist vielleicht, dass Strawinsky ein Chamäleon war, der seinen Stil zeitlebens veränderte. Er erfand seine eigenen Vorgänger. Er beschloss eines Tages, dass von jetzt an Giovanni Pergolesi sein Vorläufer wird. Später kamen Peter Tschaikowsky, Claudio Monteverdi, Giovanni Pierluigi da Palestrina und irgendwann auch Anton Webern und Arnold Schönberg an die Reihe. Aber er blieb immer er selbst. Strauss’ Vorgehensweise erinnert mich eher an die von Sergej Prokofjew, einem anderen Gegner, der aber eigentlich auch eine verwandte Seele war. Wie sein Sohn erzählte, komponierte Prokofjew die Musik in zwei Schritten: Erst „normal“, ähnlich wie andere Komponisten. Im zweiten Schritt wurde die Musik dann „prokofjewisiert“: Die Dissonanzen und periodischen Unebenheiten wurden sozusagen per operativem Eingriff nachträglich hinzugefügt. Das ist bei Strauss ähnlich. Wenn man zum Beispiel die Elektra gewissermaßen via Spektralanalyse untersucht, erkennt man unter der Oberfläche diese klassische Mendelssohn-Brahms’sche Vorlage, die dann aber durch moderne Hinzufügungen verbaut wurde.

MJ Diese Montage verschiedener Zeitebenen ist für den Rosenkavalier charakteristisch, auch im Hinblick auf die berühmte Fälschung des Walzers ins Rokokozeitalter. Kann man den Rosenkavalier vielleicht als ein postmodernes Werk bezeichnen?

VJ Er ist ein Vorläufer der Postmoderne, absolut. Wie bewusst das passierte, weiß ich nicht. Wenn man alles zusammennimmt, erscheint die Oper wie eine sehr interessante Reise ins Zeitalter Mozarts: eine Zeitmaschine, deren Besatzung aus dem Jahr 1911 stammt. Aber dieser postmoderne Aspekt lag eigentlich seit Wagners Meistersingern in der Luft.

MJ Es geschieht in der Musikgeschichte ziemlich früh, auf jeden Fall seit der Zeit nach Beethoven, dass Komponisten wie Brahms das Gefühl haben: Eigentlich ist bereits etwas zu Ende gegangen. Jetzt muss man improvisieren und Elemente aus der Vergangenheit neu zusammensetzen. Strauss hat zum Beispiel, anders als Wagner mit dem Musikdrama, auch keine neue Gattung geschaffen. Seine Opern haben alle verschiedene Gattungsbezeichnungen.

VJ Beim Rosenkavalier haben sich Strauss und Hofmannsthal auf die Bezeichnung „Komödie für Musik“ geeinigt. Hier gibt es, anders als bei Wagner, Nummern, und man hört den Geist der Mozart’schen Rezitative, die nur von einem Wagner’schen Orchester begleitet werden. Das Werk stellt eindeutig einen Versuch dar, etwas Neues im alten Sinne zu schaffen.

MJ Der Bezug zu Mozarts Figaro ist ja auch in der Konstellation der Figuren unverkennbar. Man kann Ähnlichkeiten zwischen der Gräfin und der Marschallin, zwischen Cherubino und Octavian und zwischen Susanna und Sophie erkennen.

VJ Susanna ist tiefer und vor allem aktiver als Sophie, die die Ereignisse eher mit sich geschehen lässt. Am deutlichsten ist die Bezugnahme zwischen Marschallin und Gräfin sowie zwischen Octavian und Cherubino. Und aus Octavian und Cherubino entstand dann die Weiterführung zur Idee des Ariadne-Komponisten als jungem Mozart, als „Knabe Mozart“. Da ist Strauss’ fast mystische Verehrung für Mozart erkennbar. In seinen späten Aufzeichnungen spricht er immer von der Mozart’schen Melodie als Ausdruck des Weltgeistes oder der Weltenseele.

MJ Wie sehen Sie im Vergleich dazu Strauss’ Verhältnis zum Musikdramatiker Wagner?

VJ Der Unterschied zwischen beiden ist, so glaube ich, dass Wagner sich mit vielen Personen, sowohl mit Tristan als auch mit Isolde, sowohl mit Wotan als auch mit Brünnhilde identifizierte. Wie Shakespeare hatte er für alle Figuren, für die guten wie für die bösen, Empathie. Strauss ähnelt da eher Giacomo Puccini. Strauss und auch Hofmannsthal verschieben ihr Personal wie Figuren auf dem Schachbrett. Und nur in sehr seltenen Fällen, wie beim Komponisten in der Ariadne, treffen sie auf eine verwandte Seele. Ansonsten halten sie eine gewisse Distanz. Die einen, wie Ochs oder Faninal, beobachteten Strauss und Hofmannsthal mit einem argwöhnischen Auge. Und mit den anderen, wie der Marschallin oder Octavian, sympathisierten sie. Für mich bleiben Strauss und Hofmannsthal die Zeitreisenden. Alles wird wie von außen durch eine Glasscheibe gesehen. Strauss war ein genialer Geschichtenerzähler, aber er war kein Mensch des Weltgeistes wie Mozart oder Wagner. In seinen Werken blieb er, was wahrscheinlich der Zeit oder seinem persönlichen Charakter geschuldet war, immer ein bisschen auf Distanz.

MJ Sogar im Finale, im Terzett und im Liebesduett?

VJ Das Duett sehe ich eigentlich als eine Art ironischen Abschluss. Denn was die zwei singen, klingt eher wie das Abendgebet aus Hänsel und Gretel. Die Idee war wohl, dass die große Liebe für Octavian eigentlich die Marschallin hätte werden können, wenn er reifer oder sie jünger gewesen wäre. Weil sie eine viel interessantere und vielschichtigere Person ist als Sophie. So haben sie auch Strauss und Hofmannsthal gesehen. Sophie war für sie einfach ein hübsches junges, etwas oberflächliches Mädchen. Der Moment der Wahrheit kommt natürlich am Schluss. Es ist ja gar kein Terzett, es sind drei Monologe. Jeder spricht für sich selbst, jeder spricht etwas anderes und jeder ist für sich allein. Ich finde Barrie Koskys Idee, das Ganze wie eine Art Reise durch das Zeitempfinden und die Perspektiven verschiedener Personen zu inszenieren, kongenial. Denn genau so verfährt auch Strauss.

MJ Mit Barrie Kosky haben Sie bereits mehrfach zusammengearbeitet, unter anderem 2015 bei Ihrem Debüt an der Bayerischen Staatsoper mit Prokofjews Feurigem Engel. Auf welche Fassung haben Sie sich verständigt?

VJ Die Fassungsfrage ist von uns in zweifacher Hinsicht geklärt worden. Erstens spielen wir das Werk wirklich komplett ohne Striche. Das war eine gemeinsame Entscheidung, weil wir beide glauben, dass das Werk heutzutage nur so zu spielen ist, wie es ursprünglich komponiert wurde. Ich verstehe überhaupt nicht, wozu man die üblichen Striche braucht. Sie bremsen die Handlung eher, als dass sie sie beschleunigen würden. Der zweite Aspekt hat sich einfach durch die aktuellen Lebensumstände ergeben. Weil wir annehmen müssen, dass die Corona-Auflagen weiter gelten werden, spielen wir das Werk nicht in der Originalinstrumentierung von Strauss, sondern in der reduzierten Fassung von Eberhard Kloke. Klokes Vorschlag ist ein sehr logischer: Er nimmt den Rosenkavalier als einen natürlichen Vorläufer der Ariadne auf Naxos und schreibt die Oper um für das Orchester der Ariadne. Das finde ich sehr spannend, weil man im Werk von 1911 die Wurzeln des Werks von 1916 hört: nämlich der zweiten Ariadne-Fassung mit dem Prolog. Ich halte die Erfindung dieses 40-minütigen Prologs für eine Perle von Strauss’ Kompositionskunst auf der Basis der Musik, die vor ihm komponiert wurde.

MJ Sogar Adorno, der Strauss gegenüber sonst sehr kritisch war, hat den Prolog der Ariadne gelten lassen.

VJ Ich glaube, Adorno hätte an der Fassung von Kloke auch seine Freude gehabt.

MJ Die aktuelle Spielzeit bezieht sich thematisch auf Wendepunkte, auf ein Gedicht von Rainer Maria Rilke: Wolle die Wandlung. Die meisten von uns haben das Gefühl, dass die Pandemie uns eine Wandlung aufzwingt, auf die man lediglich reagieren kann. Denken Sie manchmal dennoch, dass man dieser Krise produktive Aspekte abgewinnen kann?

VJ Absolut. Natürlich abgesehen von all diesen tragischen Umständen, die mit menschlichen Opfern verbunden sind. Aber es war ohnehin abzusehen, dass so etwas passieren würde, früher oder später. Wir wussten nur nicht, in welcher Form. Aber wir mussten zum Stillstand und zum Umdenken gezwungen werden. Also, ich bin da mit Rilke völlig einig. Unsere Situation ähnelt ein bisschen der von Wagners Wotan im dritten Akt des Siegfried: Er wünscht seinen eigenen Untergang, nachdem er verstanden hat, dass dieser objektive Gründe hat. Nur sieht es Wotan zu spät ein und hat bereits zu viele Menschen und Seelen in die Mitwisserschaft und Schuldigkeit mit hineingezogen. Wir müssen alles tun, was in unseren Kräften steht, damit unsere Kinder uns dann nicht wie Wotan beschuldigen können. Siegmund ist hier für mich eine sehr würdige Person: Er unterliegt, aber er tut alles, was Ehre und Pflicht von ihm verlangen, um die anderen zu retten. Auch, wenn es ihm am Ende nicht gelingt, hat er es doch wenigstens versucht.

VLADIMIR JUROWSKI, geboren in Moskau, begann seine musikalische Ausbildung am dortigen Konservatorium und setzte sie an den Musikhochschulen von Berlin und Dresden fort. Sein internationales Debüt gab er 1995 beim Wexford Festival. Seitdem dirigierte er u. a. an der Metropolitan Opera in New York, am Teatro alla Scala in Mailand, an der Opéra national de Paris, am Bolschoi-Theater in Moskau, an der Semperoper in Dresden sowie bei den Salzburger Festspielen. Von 2001 bis 2013 war er musikalischer Leiter des Glyndebourne Festivals, seit 2007 ist er Chefdirigent des London Philharmonic Orchestra. Außerdem ist er seit 2017 Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Darüber hinaus ist er Principal Artist des Orchestra of the Age of Enlightenment und Künstlerischer Leiter des Staatlichen Akademischen Sinfonieorchesters Russlands. An der Bayerischen Staatsoper gab er sein Operndebüt 2015 mit einer Neuproduktion von Prokofjews Der feurige Engel, im Herbst 2021 wird er hier sein Amt als Generalmusikdirektor antreten.

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