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VERLUST UND BEFREIUUNG

Auflösung der Identität, Zerfall der Zeit: Was uns das Bühnenbild des Rosenkavaliers erzählt – und was der Barock von Alain Resnais’ Film Letztes Jahr in Marienbad mit Richard Strauss’ Oper macht.

Text Niklas Maak

Man kann die Geschichte des Rosenkavaliers so unterschiedlich erzählen wie kaum eine andere Oper von Richard Strauss: Oft wird sie als Geschichte einer bürgerlich-moralischen Ordnungsanstrengung inszeniert, in der der Baron Ochs auf Lerchenau als alternder Wüstling entlarvt wird und die schöne junge Sophie den schönen jungen Octavian bekommt, der dafür seine an damaligen Moralvorstellungen gemessen grenzwertige Affäre mit einer deutlich älteren, verheirateten Frau aufgeben muss.

Man kann die Oper, die, wie viele Komödien seit William Shakespeares Was ihr wollt, im Kern von einem Spiel mit Geschlechteridentitäten handelt, aber auch anders erzählen. Als Geschichte von Emanzipation und Selbstermächtigung, in der die Menschen die ihnen von der herrschenden Gesellschaft zugedachte Rolle nicht hinzunehmen gedenken: die Feldmarschallin nicht, die sich einen jungen Liebhaber nimmt; Sophie – Tochter eines frisch geadelten Bürgers – nicht, die sich nicht aus Standesgründen einer korrupten Elite aussetzen will; und Octavian nicht, dessen Verkleidung als „Mariandel“ zwar nur strategisch ist, der aber – als ein von einer Frau gespielter Mann, der sich als Frau verkleidet – das Publikum mit einer fluiden sexuellen Identität konfrontiert und in einen Strudel sich überlagernder Fiktionen reißt.

Wenn man diese Grenzauflösungen und Infragestellungen im Rosenkavalier betonen will, ist das Ambiente eines Rokokopalastes mit seinen Raumverschmelzungen und Spiegelbrüchen, in dem Normen programmatisch zugunsten neuer Freiheiten ausgehebelt werden, ein idealer architektonischer Rahmen. Züge davon waren schon in früheren Bühnenbildern des Rosenkavaliers zu erkennen, wo die spätbarocken Spiegel und Wandgemälde die Raumgrenzen förmlich auseinanderfallen ließen und so dem wilden Wechsel Octavians von Mann zu Frau ein Pendant und gewissermaßen einen ästhetischen Schallverstärker schufen. Niemand jedoch hat die Auflösung sicherer Identitäten im Bild einer barocken Festarchitektur so radikal inszeniert wie Alain Resnais 1961 in seinem Film Letztes Jahr in Marienbad. Er wurde – nach einer Romanvorlage von Alain Robbe-Grillet – nicht im tschechischen Marienbad, sondern im Schloss Nymphenburg, in der Amalienburg und im Schloss Schleißheim gedreht. Resnais schwebte ein wilderer, gleichzeitig anarchischerer und düsterer Barock vor als der, den französische Schlösser boten, und so entschied er sich für diese drei Münchner Orte, die er zu einem fiktiven Schauplatz amalgamierte.

Letztes Jahr in Marienbad erzählt die Geschichte eines Mannes, der in einem luxuriösen Hotel einer Frau begegnet. Er behauptet, man habe sich schon einmal getroffen, hier oder anderswo, vor einem Jahr, und die Frau habe ihm versprochen, wiederzukommen – und sich bis dann von ihrem Ehemann getrennt zu haben. Die Frau jedoch kann sich an nichts erinnern – zumindest behauptet sie das. Es ist ein Charakteristikum des Films, dass man die Wahrheit nicht erfährt (selbst Robbe-Grillet und Resnais waren sich nicht einig, was wohl „wirklich“ vorgefallen ist). Man weiß auch nie, ob man eine Rückblende zu einem realen Geschehen oder eine Traumvorstellung sieht – alles ist so unentwirrbar wie die Orte. Nur die Menschen sind wirklich, was Resnais mit einem Kunstgriff inszeniert: Beim Blick in den Schlossgarten werfen die eigens dort aufgestellten dreieckigen Bäume keine Schatten, das tun seltsamerweise nur die reglos umherstehenden Menschen; ihnen ließ Resnais ihre Schatten auf den Kies malen. Der Mensch ist real, alles andere, die Dinge, die Zeit, löst sich auf. Die Welt rund um die beiden Protagonisten zerfällt. Was man als Verlust oder als Befreiung lesen kann.

Der Film beginnt als surreales Zersplitterungswerk: Die Kamera gleitet am Wuchern der Rocaillen vorbei, in den Glanz dunkler Marmorsäulen und Augen und in die Prismen tausendfach gebrochener Spiegelungen, man hört eine Stimme, die erzählt von „stillen Räumen, die das Geräusch der Schritte mit tiefen Teppichen schlucken … Ich ging wieder durch diese Korridore, durch dieses Haus, das zur Vergangenheit gehört, dieses barocke Hotel, in dem Korridor auf Korridor folgt, Korridore voller Marmor, Bilder und Dunkelheit … die Decken voller Äste und Girlanden, wie klassisches Blattwerk … voller falscher Türen und irreführender Blicke.“ Menschen werden so gefilmt, dass sie im Spiegel in zwei Hälften zerfallen. Man sieht eine Bühne, die den Schlosspark nachbildet; der scheinbare Blick nach draußen in die Natur ist eine Fiktion. Schon hier hat die Wirklichkeit tiefe Risse, was sich später in den gemalten Schatten vollendet.

Keine Architektur ist der Idee von Theater und Bühne näher, keine Architekturepoche hat so viel Aufwand auf Illusionen, Trompe-l'Œils, Grenzauflösungen und Verwirrungen des Blicks verwandt wie der Barock, mit seinen späten Ausläufern im Rokoko, dem die Amalienburg stilistisch zuzurechnen ist. Man muss differenzieren. Es gab einen strengen, noch dem Renaissancedenken verpflichteten Barock, jenen der französischen Schlösser, Parks und Gärten im Stile von André le Nôtre, in denen die Natur mit erheblichem Einsatz von Heckenscheren zu einer Feier des die Welt ordnenden absolutistischen Herrschers zurechtgeschnitten wurde: mit Broderieparterres vor den Gartenfassaden der Schlösser, in denen viereckige Bassins und zu allerlei Formationen und Labyrinthen zusammengesäbelte Pflanzen dominieren, mit Bosketten, in denen die in geometrische Formen gezwängten Büsche und Bäumchen offene Räume entstehen ließen, gewissermaßen grüne Nachbauten des Schlosses unter freiem Himmel – Zwitterräume, in denen man innen ist und doch außen.

In ihnen fanden an schönen Sommertagen Theater- und Musikaufführungen statt. Auch in Nymphenburg, das 1664 als Lustschloss vom bayerischen Kurfürsten Ferdinand Maria im Stil einer italienischen Landvilla erbaut worden war, und seiner mit Versailles liebäugelnden Gartenanlage findet man einiges von diesem rationalistischen, auf mathematische Proportion und Weltharmonie abzielenden Barock. Und man findet sein Gegenteil. Das verspielte Rokoko, das auf den Hochbarock folgte, war nicht nur dessen Weiterentwicklung oder süßlich-schwülstige Überladung, wie es aus der Perspektive eines kargen Bauhaus-Pietismus oft kritisiert wurde, sondern auch eine architektonische Kritik absolutistischer Ordnungsvisionen: In den Parks tauchten jetzt – als Vorform des empfindsam, als kuratierte Wildnis gestalteten englischen Gartens – vermehrt künstliche Grotten und Ruinen auf, bizarre Pavillons, falsche Bauernhöfe wie der Hameau von Versailles; Orte, an denen sich der Adel von den strengen Protokollen und dem ins Rechteck gepressten Leben am Hof erholen und sich der Fantasie eines freien Landlebens hingeben konnte.

Diese Freude des Rokoko am Wuchernden, Unkontrollierten strahlte auch auf das Innere der Amalienburg ab. Vegetabile Formen züngeln bis an die Decke, als sei der Bau von einem wie explodiert wirkenden Efeu durchrankt; alle festen Kategorien werden mit himmelblauen Wänden und dem Wechsel von Spiegeln, Gemälden und Fenstern in einem optischen Illusionstheater aufgelöst. Im Rokoko wird das Haus zum Echo der wild wachsenden Natur. Hier die dreieckig zurechtgesägten Büsche, dort das Sprießen, Glitzern und Spiegeln als Bild einer neuen Freiheit; hier die vermessene Welt des Fürsten, dessen Willen sich alles unterzuordnen hat, dort das anarchische Treiben im verfallenden Palast – als Kulisse für den Rosenkavalier passt das NymphenburgAmbiente nicht nur aus historischen Gründen. Schon Zeitgenossen wie Friedrich Nicolai echauffierten sich über die dort zur Schau gestellten Porträts von insgesamt sechzehn Mätressen des Kurfürsten Maximilian und Kaisers Karl VII. Es gehöre „schon ein hoher Grad an moralischer Unempfindlichkeit dazu, die Ausschweifungen der Landesherren so zur Schau zu stellen“, schimpft Nicolai in seiner Betrachtung Unter Bayern und Schwaben.

So turbulent wie die Auswüchse des Rokokodekors fächert sich auch Strauss’ Figurenpersonal auf, angefangen beim Baron Ochs, der sich die Frauen zurechtlegt wie der Gärtner die Hecken des Königs, und der zwecks finanzieller Sanierung und gegen dessen Willen ein Mädchen aus reichem Hause heiraten möchte. Dann ist da die Feldmarschallin, die mitten in einer Affäre mit dem deutlich jüngeren Octavian steckt, der wiederum so androgyn ist, dass ihm der hektische Sprung in Frauenkleider reicht, um dem Baron den Kopf zu verdrehen und auf dessen Liste potenzieller weiblicher Belästigungsopfer ganz oben zu landen. Die Gewalttätigkeit des Barons wurde in Inszenierungen oft entschärft, der Ochs erschien da auch aufgrund seiner Sprache („mit Ihr unter vier Augen scharmutzieren!“, „Geh Herzerl, mach doch keine Faxen!“) als latent vertrottelter Schürzenjäger; heute kann man die Figur kaum sehen, ohne an Harvey Weinstein zu denken.

Was aber bedeutet es, wenn das Bühnenbild des Rosenkavaliers in einer neuen Inszenierung das Geschehen nicht mehr in eine mimetisch den Nymphenburger Barock zitierende Architektur hineinsetzt, sondern die Oper durch den vielfach gebrochenen Filter von Resnais' Marienbad erzählt? In der Oper wie im Film ist ein beherrschendes Thema die Zeit. Die Modernität des Rosenkavaliers, die Auflösung einer chronologischen Ordnung, wird mehrfach offenbar: In den Reflexionen der Marschallin über die Zeit, vor allem aber in der Schere zwischen der erzählten Zeit und der Musik, die das Geschehen durch die Walzermotive (die historisch betrachtet erst um 1800 auftauchen) um Jahrzehnte nach vorn reißt.

In Marienbad wird durch die Bilder barocker Turbulenzen und Spiegelungen der Zerfall von Identitäten erzählt – der Mann weiß angesichts der freundlichen Amnesie der Frau bald nicht mehr, wer er ist, in welcher Zeit, ob draußen oder drinnen, und die Architektur des Parks tut das ihrige dazu. Der Schlosspark streckt sich als mit Hecken und Kies entworfener Grundriss eines imaginären Palastes in die Zukunft, zugleich als Reich künstlicher Ruinen in eine fiktive Vergangenheit. Ist der Raum des Hochbarock noch auf eine dynamische Weise geordnet, werden im Rokoko das Bröckelnde, das Überwucherte, die Spuren der Verwitterung dominant – und mit ihnen die der Zeit. Die Natur holt sich die Bauten zurück. Ist dies hier eine künstliche Grotte oder ein tatsächlich zerfallener, überwucherter Tempel? Strenge Grenzziehungen zwischen Natur und Kultur, Innen und Außen, Männlich und Weiblich zerfallen. Das kann man als Bedrohung und Drama, aber auch als Chance begreifen.

Im Rosenkavalier ist das Spiel mit Octavians Identität der Schlüssel zur Bekämpfung der Macht des Barons, ein Akt der Befreiung, und die Affäre der Marschallin mit Octavian ist es auf ihre Weise auch. Wie Marienbad handelt der Rosenkavalier letztlich von sexueller Gewalt und Selbstbestimmung. Im Film und in der Oper ist die Auflösung von Identitäten ein Gegenbild zur Idee von Sexualität als Jagd, in der die Rollen von Jäger und Beute bereits festgelegt sind. Kehrt man dies an einem marienbadischen Rosenkavalier heraus, erzählt man ihn als emanzipatorische und sinnliche Utopie. Bei Resnais zerfallen erzählte Zeit und Erzählzeit, die Chronologie der Ereignisse noch viel entschlossener; gelänge dies der Oper, dann wäre die vom Stücktext suggerierte, etwas biedere Retour à l’ordre in einer ebenso irritierenden wie attraktiven erzählerischen Endlosschleife zerwirbelt, und das Spiel mit Komplexitäten als Dauerzustand zu sehen. „Alles in dem Stück“, schreibt der Librettist Hugo von Hofmannsthal in einem Geleitwort, sei „zugleich echt und erfunden“. Der Umweg über Resnais’ Perspektive, seinen verunsichernden Barock, eröffnet auch die Möglichkeit, die gern ausgeblendete dunkle Seite des Rosenkavaliers hervorzuheben.

Die Theatralik barocker Architektur machte sie schon immer zur idealen Bühne, und als solche wurde der Nymphenburger Schlosspark oft genutzt. Nicht alle Aufführungen waren erfreulich. Von 1936 bis 1939 fand dort im Sommer die „Nacht der Amazonen“ mit bis zu 2.500 Beteiligten statt, in der das dekadente Treiben des Adels im 18. Jahrhundert dargestellt und dann von mythologischen Szenen und Tableaux vivants der „neuen Zeit“ abgelöst wurde: halbnackte Frauen auf Pferden, gerahmt von SS-Männern. Zur selben Zeit komponierte Strauss, der 1934 auch den von Joseph Goebbels verfassten Aufruf der Kulturschaffenden unterzeichnet hatte, die Musik für die wenige Tage nach der ersten „Nacht der Amazonen“ beginnenden Olympischen Spiele 1936 in Berlin.

Dass Nymphenburg spätestens seit diesen Nächten auch der Ort einer dunklen, sexualisierten Form von Gewalt war, wird Resnais gewusst haben, als er eine der unheimlichsten Szenen des Films in einem hysterisch erleuchteten Park spielen ließ. Bei ihm wird die filmische Brechung der großen Achsen, das Spiel mit Fiktionen, Festlegungen und Identitäten, die Grenzauflösung zu einer Form von Widerstand und zum Befreiungsakt. Von seinem surreal verzauberten Nymphenburg kann ein neuer Rosenkavalier nur profitieren.

DER ROSENKAVALIER – Richard Strauss erobert mit seinem Librettisten Hugo von Hofmannsthal das Publikum mit den anachronistisch wehenden Walzern einer Hochadelskomödie in einem imaginierten Wien eines fantasierten 18. Jahrhunderts. Das Wunderbare an dieser Sonderlichkeit ist, dass sie das Künstliche dieser Welt in Sprache und Musik auf die Spitze treiben und zu einem traum- und albtraumhaften Szenarium anwachsen lassen kann, mit all den Themen, die den Rosenkavalier so bestechend machen: die Möglichkeiten und die Unmöglichkeit von Liebe, die Unerbittlichkeit der vergehenden Zeit, die Bedingtheit von Autonomie und Entscheidungsfreiheit. Barrie Koskys Rosenkavalier zollt auch weniger rezipierten Quellen des Werks Tribut, fügt den lieb gewonnenen Figuren von Sophie und Octavian, Ochs und Marschallin überraschende Facetten hinzu und erweitert in opulenten Bildern die Münchner Inszenierungsgeschichte des Werkes um ein aufregendes Kapitel.

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