BDEW-Magazin "Streitfragen" - 2/2016

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Streit-fragen

Das Magazin der Energie- und Wasserwirtschaft

Juni 2016

Sektorkopplung

Die Karten in der Energiewirtschaft werden neu gemischt Grundwasserqualit채t

Wer soll f체r die Verunreinigungen durch Arzneimittel zahlen?

Auf ein Neues Umbr체che sind die rabiaten Geschwister des Wandels. Ohne sie g채be es keinen Fortschritt.


INTRO • ENERGIE

INTRO Streitpunkt Energie

Brief von Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender, an seinen SPD-Kollegen Thomas Oppermann zum EEG 2016, 6. April 2016

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STREITFRAGEN — Juni 2016

Titelfoto: ddp / Intertopics / Star Media; Foto Seite 2/3: Shutterstock

»Aktuell schreitet [...] der Windenergieausbau an Land in einem Tempo voran, das weder mit dem Korridor noch mit dem Netzausbautempo in Einklang steht.«


ENERGIE • INTRO

» Wir brau ch en m eh r Au sbau von Windenergie an Land und m eh r Ph otovoltaik .« Ulrich Kelber, SPD-Bundestagsabgeordneter und Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz, zum gleichen Thema, 27. April 2016

STREITFRAGEN

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ANSTOSS

Außergewöhnliches schaffen Wirft man einen Blick zurück auf die energiewirtschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre, kann einem der Atem stocken: angefangen vom Energiekonzept 2010 über die Zäsur Fukushima bis hin zum rasanten Ausbau der Erneuerbaren Energien und zur Dekarbonisierungsdebatte. Kaum eine Branche hat in dieser Dichte und in dieser kurzen Zeit jemals so dramatische Veränderungsprozesse erlebt wie die Energiewirtschaft seit 2010. Und 2016? Der Wandel der Branche beschleunigt sich, die Komplexität nimmt immer weiter zu. Die Energiewirtschaft durchläuft dabei gegenwärtig sogar eine doppelte Transformation: Neben der Energiewende verändert die Digitalisierung die Grundlagen unserer bisherigen Wertschöpfung. Beide Entwicklungen greifen unmittelbar ineinander – die Energiewende entpuppt sich längst als das größte nationale IT-Projekt aller Zeiten. Genauso schnell, wie alte Strukturen aufbrechen und Gren­zen verschwimmen, entstehen neue Geschäftsfelder, neue Märkte, neue Produkte. Dabei sind sowohl alte Hasen als auch neue Helden gefragt, den Hochgeschwindigkeitswandel gemeinsam zu gestalten und so die Innovationskraft der Energiebranche zu bündeln. Eine großartige Chance für uns, Außergewöhnliches zu schaffen! Für mich ist dabei wichtig, dass die Energiewende ein Projekt der Bürger und der Unternehmen bleibt und damit in einem marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmen stattfindet. Wir brauchen einen technologieoffenen und fairen Wettbewerb um die besten Ideen und die kosteneffizientesten Lösungen, soll dieses Generationenprojekt erfolgreich sein. Nur dann wird die Energiewende auch von der Bevölkerung weiter unterstützt werden. Dem Blick nach vorn eine Struktur und dem Mentalitätswandel eine Plattform zu geben, Handlungsfelder aufzuzeigen und niemals der ehrlichen Debatte aus dem Weg zu gehen: Diese Grundsätze hat sich das „Streitfragen“-Magazin des BDEW auf die Fahne geschrieben. Die Lektüre der vorliegenden Ausgabe möchte ich Ihnen deshalb sehr ans Herz legen.

Foto: Roland Horn

STEFAN KAPFERER, Vorsitzender der Hauptgeschäftsführung und Mitglied des Präsidiums im BDEW

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STREITFRAGEN — Juni 2016


in der ein thema Delphi Energy Future 2040 DELPHI-Studie Wie sieht die Energiewelt von morgen aus? Werden die Erneuerbaren Energien etwa eine dominierende Rolle im weltweiten Energiemix einnehmen? Oder wird sich ein weltweites Klimaregime mit verbindlichen CO₂-Zielen durchgesetzt haben? Eines ist klar: Bis 2040 wird sich die Energiewelt von Grund auf verändern. Die Ergebnisse der internationalen Zukunftsstudie Delphi Energy Future 2040 liefern Anregungen, das System der Energieversorgung von heute und morgen zu verstehen und weiterzudenken.

DELPHI

Ein Beispiel: Viele der in der Studie befragten Experten erwarten, dass … … die Länder, die stark auf Erneuerbare gesetzt haben, 2040 erheblich besser dastehen als noch ein Vierteljahrhundert zuvor. Sie dominieren die Liste der wettbewerbsstärksten Volkswirtschaften der Welt. Denn die globale Energiewende bedeutet nicht nur den Umstieg auf klimafreundliche Energie, sondern auch den Umstieg auf Energie zu Grenzkosten nahe Null. Und das wirkt sich stark auf das gesamte Wirtschaftsmodell aus: Überschussstrom sorgt auch für Mobilität und Wärme, findet ein thema in der zudem in vielen industriellen Prozessen Anwendung und DELPHI-Studie eröffnet neue Möglichkeiten in der Chemie.

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Delphi Energy Future 2040 ist ein Gemeinschaftsprojekt von BDEW, der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) und PricewaterhouseCoopers (PwC).

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ZUKUNFTSSTUDIE • ENERGIESYSTEME

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DELPHI-Studie „Streitfragen“ hat für diese Ausgabe erneut einige Thesen aufgegriffen und zeigt damit: Die Ergebnisse der Zukunftsstudie sind bereits für das Hier und Heute relevant.

 ALLE ERGEBNISSE DER STUDIE KÖNNEN HERUNTERGELADEN WERDEN UNTER: www.delphi-energy-future.com/de STREITFRAGEN

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Streit-fragen

INTRO: 2 ANSTOSS: 4 MALEN NACH ZAHLEN: 48

SCHLAGZEILEN: 50 TERMINE/IMPRESSUM: 51 OUTRO: 52

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Nachwuchs Die Generation Y verändert die Arbeitswelt, sagen Soziologen. Wirklich?

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Gesellschaftliche Entwicklung beruht auf Wandel und Umbruchphasen. Neue Impulse verdrängen Bestehendes – mal abrupt, mal langsamer.

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Die Stadt der Zukunft will nur noch auf grüne Energie setzen. Beispiele aus Berlin, Köln und Freiburg. 34

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Für die Klima- und Energieforschung stellen EU, Bund und Länder Millionen bereit. 24

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Geld für die Forschung

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Wie steht es um alternative Antriebe im Verkehrssektor? Zahlen und Fakten zu Elektround Erdgasautos. 15

Aufstiege und Abstürze

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Mobilität

»Störfaktor«


Szenario

Was wäre, wenn es für den Energieverbrauch eine Flatrate gäbe ... 28

Wer soll das bezahlen?

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Der Rebound-Effekt

Energieeffiziente Geräte können Nutzer dazu verleiten, diese öfter zu gebrauchen. Einsparmöglichkeiten verpuffen. 38

Streitgespräch

Sektorkopplung, ja. Aber wie?

Aufwendungen der Bundesländer für nichtnukleare Energieforschung im Jahr 2014 Mittelabfluss in Mio. €

SCHLESWIG-HOLSTEIN 5,15 BREMEN 1,99

MECKLENBURG-VORPOMMERN 13,02 HAMBURG 14,91

BRANDENBURG 4,40

NIEDERSACHSEN 38,57

BERLIN 4,70 SACHSEN-ANHALT 4,62

NORDRHEIN-WESTFALEN 28,99 THÜRINGEN 1,81

SACHSEN 1,01

HESSEN 3,48 RHEINLAND-PFALZ 2,37 BAYERN 85,61

SAARLAND 1,56 BADEN-WÜRTTEMBERG 44,37

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Aufwendungen der Bundesländer für nichtnukleare Energieforschung Mittelabfluss in Mio. €

128,87

2008

161,14

2009

252,78

157,11

2010

311,74

174,39

2011

2012

2013

Strom aus Wasserstoff

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Vor rund 180 Jahren wurde die Brennstoffzelle erfunden. Mit ihr sind große Hoffnungen verbunden. Kommt bald der Durchbruch?

Intelligente Zähler

Erik Landeck von der Stromnetz Berlin GmbH erklärt, wie er sich den idealen SmartMeter-Rollout vorstellt. 42 STREITFRAGEN

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Fotos: Jan-Philip Welchering, plainpicture, Vincent Callebaut, Lead Archibiotect, C3 Visual Lab, Alamy, Shutterstock (2), dpa Picture‑Alliance, Roland Horn, BMW, Bernhard Huber, Ragnar Schmuck, NASA

Mikroverunreinigungen im Oberflächenwasser müssen entfernt werden. Auf wessen Kosten? 32

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STÖRFAKTOR • UMBRÜCHE

Rasante Aufstiege, Stör dramatische fakt or Abstürze ... Gesellschaftliche Entwicklung basiert auf Wandel und Umbruchphasen.

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Durch die Google-Serverfarm in Douglas County (Georgia) läuft ein verzweigtes Kühlsystem. Die Leitungen sind farbig markiert, damit sie richtig zugeordnet werden können. 8

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Foto: DDP Images / Google

öchte man den Zeitgeist des Jahres 2016 in einem Wort beschreiben, ist „Change“ die richtige Wahl. Das Gefühl, in einer Welt voller rasanter Neuentwicklungen zu leben, in einer Epoche, in der Geschichte geschrieben wird, ist sehr ausgeprägt – vor allem in der Energiewirtschaft. Alte Geschäftsmodelle und Märkte brechen weg, Experimente werden gewagt, neue Player klopfen an die Tür. Viele Unternehmen – ob große, ob kleine – müssen sich neu erfinden. Ein Blick in die Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte zeigt, dass Umbrüche Teil des Wirtschaftslebens und der gesellschaftlichen Realität waren, es gab immer rasante Aufstiege und dramatische Abstürze. Die Zukunft war und ist offen. Eine Auswahl vergangener und aktueller Umbrüche.


Foto: Getty Images

UMBRÜCHE • STÖRFAKTOR

Google doch mal: Auch wenn es kaum zu glauben ist – vor Google gab es bereits ein Internet. Aber: Mit Google hat sich das weltweite Netz fundamental verändert. Die Suchmaschine eroberte 1998 das damals noch junge Medium wie im Sturm und nichts blieb, wie es vorher war. Google setzte den selbst entwickelten PageRank-Algorithmus ein, der jeder Seite einen Wert zuweist, der von den Links auf dieser Seite abhängt. Jede Anfrage beschäftigt bis zu 1.000 Rechner, die Antwortzeit beträgt trotzdem nur eine halbe Sekunde. Da konnten AltaVista, Lycos & Co nicht mithalten. Heute hat Google einen Marktanteil von weit über 90 Prozent und ist zu einem der mächtigsten Medien­ imperien der Welt emporgestiegen. Googeln wird längst als Synonym für Internetrecherche verwendet. Das Wort hat es 2004 sogar in den Duden geschafft.

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STÖRFAKTOR • UMBRÜCHE

Stör fakt or »Technisch ist es kein Problem, mit einem 3‑D-Drucker auch einen Wolkenkratzer auszudrucken.« Ma Yihe, CEO WinSun Decoration Design Engineering, chinesischer Hersteller von Häusern aus 3‑D-Druckern

Bauteile aus der Spritzdüse: Hausbau ohne Maurer, Kran oder Gerüst: Ein chinesisches Unternehmen hat im vergangenen Jahr ein dreistöckiges Haus mit 1.100 Quadratmeter Wohnfläche mit einem gigantischen, selbst entwickelten 3‑D-Drucker hergestellt und zusammengesetzt – nach eigenen Angaben in nur zwei Tagen. In Amsterdam planen Forscher eine Brücke, die sich in zwei Monaten vom einen zum anderen Ufer selbst druckt. 2017 soll das Experiment starten. Kein Zweifel: Der 3‑D-Druck wird Märkte und Wertschöpfungsketten nachhaltig und dauerhaft verändern. Die Material- und Fertigungstechnologie steht vor einem gewaltigen Umbruch. Industrie, Zulieferer, Dienstleister – alle Branchen sind betroffen. Beispiel Medizin: Nachdem Prothesen aus Kunststoffschichten schon eine Weile eingesetzt werden, arbeiten Forscher inzwischen an Bio‑Printern, die ein polymeres Gel verwenden, in dem lebende Zellen eingeschlossenen sind. Auch wenn es heute noch nach Science‑ Fiction klingt: Vielleicht könnten in Zukunft Niere, Leber & Co aus der Bio-Tinte die Organspende ersetzen.

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UMBRÜCHE • STÖRFAKTOR

Fotos: DDP Images, action Press

Die Revolution frisst ihre Kinder: Kaum eine Branche war so sehr vom technischen Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte betroffen wie die Musikindustrie. Immer wieder neue Erfindungen verdrängten die jeweils erst wenige Jahre zuvor entwickelte Technologie und sorgten so für ziemlich viel Chaos bei den Musikproduzenten, aber auch bei den Künstlern. Im Bereich der physischen Tonträger verdrängte Anfang der 1980er Jahre zunächst die CD die bis dato noch verbreitete LP, später die Kassette. Die CD erhielt dann Mitte der

Stör fakt or

1990er Jahre Konkurrenz durch Abspielgeräte und Software, die es ermöglichten, komprimierte MP3-Dateien zu speichern und abzuspielen. Auch der Austausch solcher Dateien über das Internet vereinfachte sich, was bald zu einem regen Tauschhandel ohne Beachtung des Urheberrechts der jeweiligen Künstler oder Komponisten führte. Ende der 1990er standen bereits große Ansammlungen von Musikdateien im Internet zur Verfügung – zu einer Zeit, als auch tragbare MP3-Player auf den Markt kamen. Doch auch die sind mittlerweile wieder passé.

»Wir sind gespannt, welchen Einfluss Streaming auf den Album-Markt in Zukunft haben wird, dessen größ‑ te Säule immer noch die physischen Tonträger sind.« Dr. Mathias Giloth, Geschäftsführer GfK Entertainment, am 1. Februar 2016 zur Entscheidung, dass Musik-Streaming erstmals Teil der Offiziellen Deutschen Album-Charts wird.

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STÖRFAKTOR • UMBRÜCHE

Stör fakt or

»Die Abwanderung junger Menschen, und hier insbesondere von jungen Frauen, hat den Mangel an poten‑ ziellen Eltern noch verstärkt.« Dr. Stephan Kühntopf, Bundes­ institut für Bevölkerungsforschung

Wo sind die Kinder? Einen Einschnitt auf gesellschaftlicher Ebene löste der Mauerfall 1989 aus. Ökonomische Unsicherheit und eine Anpassung der persönlichen Lebensführung an westliche Verhaltens- und Konsummuster sowie massive Abwanderung führten in der ersten

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Hälfte der 1990er‑Jahre in Ostdeutschland zu einem regelrechten Kohortenausfall: Zwischen 1989 und 1995 kamen 60 Prozent weniger Babys zur Welt. In der thüringischen Stadt Suhl betrug der Rückgang sogar 72,4 Prozent. Wissenschaftler sprechen von einem „demografischen Schock“. Die Geburtenstati-

onen blieben leer, es gab weniger Kinder in den Kitas und Schulen. Der Bumerangeffekt beeinflusst die Strukturen bis heute: Ausbildungsplätze bleiben vakant und mittelständische Unternehmen in der Region beklagen den Fachkräftemangel.


UMBRÜCHE • STÖRFAKTOR

Stör fakt or »Mit der Über‑ nahme von Hapag‑Lloyd bekommen wir den Schub hin zu einem Technolo‑ gie- und Dienst‑ leistungskonzern.«

Fotos: dpa-Picture Alliance, plainpicture

Michael Frenzel, Vorstandsvor‑ sitzender Preussag, 1997

Ein Konzern erfindet sich neu: 70 Jahre lang steht die Preussag AG für den Inbegriff eines Montankonzerns, der Rohstoffe abbaut und handelt. Als ihre Geschäftsfelder infolge von Kohleund Stahlkrise wegzubrechen drohen, setzt das Unternehmen zum Sprung an: weg von der Industrie, hin zur Touristikbranche. 1994 startet Vorstandschef Michael Frenzel auf dem Weg in die „Nachrohstoffzeit“. Ein beispielloser Umbruch folgt, der bis heute anhält:

1997 kauft das Unternehmen den Logistiker Hapag-Lloyd und damit Anteile an der Touristik Union International. Es folgt 2000 die Übernahme des britischen Reisekonzerns Thomson Travel Group. Weitere Reiseanbieter kommen dazu. Nach der Metamorphose gibt sich der Konzern 2002 einen neuen Namen: TUI. Heute ist er einer der größten Touristik­ anbieter der Welt mit mehr als 76.000 Mitarbeitern.

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FAKTEN • ZAHLEN­­

Erwartungen an das intelligente Zuhause

Klasse!

Welche Smart‑Home-Anwendungen halten Sie im Haushalt für sinnvoll? (Angaben in Prozent) Medizinische Assistenzsysteme

92

Fernsteuerbare Sicherheitstechnik

68

Fernsteuerbare Heizung

59

Fernsteuerbare Rollläden und Fenster

52

Fernsteuerbare Beleuchtung Automatisierte Steuerung von Haushaltsgeräten

46 21

Bei der Befragung für den BDEWEnergiemonitor wurde deutlich, dass besonders medi­zi­ nische Assistenz­ systeme und Sicherheitstechnik gefragt sind.

höheres Ansehen Laut BDEW-Energiemonitor verzeichnen die Strom- und die Gasversorger das dritte Jahr in Folge einen Imagezuwachs (+0,3 bzw. +0,1). Die Wasserversorger konnten ebenfalls bei den Punkten zulegen und ihren 2. Platz beim Imageranking hinter dem Handwerk behalten. Der Monitor ist das Ergebnis einer repräsentativen Befragung der Forschungsgruppe Wahlen aus Mannheim.

Chemie im Wasser Deutsche Gewässer waren 2014 durch folgende chemische Substanzen und Arzneimittel belastet

117.743

10.500

verschiedene Substanzen aus Kosmetik- und Körperpflegeprodukten

630.000

8.100

Tonnen Chemikalien aus Wasch- und Reinigungsmitteln von privaten Haushalten

Tonnen potenziell umweltrelevante Arzneimittel

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26.100 km Das deutsche Fernwärmenetz besteht aus über 1.300 Einzelnetzen. 2015 hatte es eine Gesamtlänge von 26.100 Kilometern. Das sind 0,4 Prozent mehr als im Jahr zuvor.

Netzlänge

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Fotos: Shutterstock, C3; Illustration: C3 Visual Lab

Tonnen Pflanzenschutzmittel

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Fernwärmeversorgung


ZAHLEN • FAKTEN

Mobil mit Strom und Erdgas Anzahl der Ladepunkte nach Städten (Top 3) 433 Berlin

370 Stuttgart 203 Hamburg

5.836

öffentlich zugängliche Ladepunkte gibt es aktuell in Deutschland.

2.567 öffentlich zugängliche Ladestationen gibt es deutschlandweit.

935 Städte und Gemeinden Anzahl der Ladepunkte nach ­B undesländern (Top 3)

1:10

Die Europäische Union empfiehlt ein Verhältnis von öffentlich zugänglichen Ladepunkten zu Elektrofahrzeugen von 1:10. Dieser Wert wird in Deutschland aktuell noch erreicht.

sind mit mindestens einer öffentlich zugänglichen Lademöglichkeit ausgestattet.

49.470

Fahrzeuge mit elektrischem Antrieb waren im Dezember 2015 in Deutschland registriert. 794

1.097

1.255

Bayern

BadenWürttemberg

NordrheinWestfalen

97.997

Erdgasfahrzeuge waren Anfang 2016 in Deutschland zugelassen.

100 % Bio-Erdgas Bio-Erdgasanteil Erdgas

138

260

515

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gab es im März 2016 in Deutschland.

150 km Zwischen zwei Erdgastankstellen liegen durchschnittlich 150 Kilometer.

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STREITGESPRÄCH • SEKTORKOPPLUNG

Die Stromgasfrage Für Martin Grundmann, Geschäftsführer der ARGE Netz, ist Sektorkopplung kein Struktur-, sondern ein Marktthema.

E-Mobilität soll Benziner irgendwann ersetzen. Jetzt fördert der Bund den Kauf.

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SEKTORKOPPLUNG • STREITGESPRÄCH

Sektorkopplung ist das neueste Buzzword der Energiewirtschaft. Zwischen Strom- und Gasbranche ist in der Diskussion, wohin die Reise gehen soll. Ein Streitgespräch. Moderation: TOM LEVINE

Michael Riechel, Vorsitzender des Vorstandes der Thüga AG, sieht Gas als Partner der Erneuerbaren.

Michael Riechel, warum kommt Sektorkopplung gerade jetzt so in Mode? Liegt das in der Logik des starken Ausbaus der Erneuerbaren? Michael Riechel: Ja natürlich. Erneuerbare Energie wird ja zu fast 90 Prozent in die Stromverteilnetze eingespeist. Es entsteht extremer Handlungsdruck, weil wir diese Verteilnetze über die nächsten 15 bis 20 Jahre sehr viel stärker werden ausbauen müssen. Das wirft wiederum die Frage auf, ob man das Stromnetz nur als abgeschlossenes System be-

trachten oder nicht doch intelligent mit anderen Netzen koppeln sollte – zum Beispiel mit dem Gasnetz. Stichwort: Power-to-X, Power-to-Gas. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Dass die Energieträger weiter jeder für sich kämpfen, macht aus meiner Sicht keinen Sinn. Man könnte meinen, dass die Gasbranche ihr Geschäftsmodell und ihre Infrastruktur mithilfe der Erneuerbaren retten möchte. Oder umgekehrt? Riechel: Wenn eine Branche der anderen was wegnehmen will, kann dieser Eindruck entstehen. Aber das ist auch nicht meine Aussage. Der Hintergrund ist doch ein anderer. Nehmen wir als Beispiel das Powerto-Gas-Projekt, das wir in der ThügaGruppe verfolgt haben. Die Ausgangsfrage war: Was können wir tun, bevor wir die Strominfrastruktur durch die Zuspeisung von Erneuerbaren Energien überlasten? Wir müssen entweder erhebliche Investitionen zum Ausbau in die Hand nehmen oder wir nutzen die parallele Infrastruktur Gas, um da teilweise zu kompensieren. Wir haben Letzteres jetzt erst einmal rein technologisch getestet: Funktioniert das eigentlich? Der zweite Schritt war: An welchen Systemstellen kann ich diese Technologie einbinden? Auch das haben wir geklärt. Der immer noch offene Punkt ist: Wie bekomme ich ein solches Modell in den Markt? Martin Grundmann, warum brauchen wir aus Ihrer Sicht Sektorkopplung? Dr. Martin Grundmann: Das ist aus meiner Sicht kein reines Infrastrukturthema, sondern auch ein Marktthema. Wir brauchen die Infrastruktur zur Flexibilisierung des Energiesystems, aber es geht um mehr: STREITFRAGEN

— Juni 2016

Fotos: Roland Horn, BMW, Bernhard Huber

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hne Wärme- und Mobilitätswende wird die Energiewende nicht gelingen. Das steht außer Frage. Der Fokus allein auf die Stromerzeugung reicht nicht aus, um die CO2-Emissionen bis 2050 um 95 Prozent zu verringern. Seit einiger Zeit drängt der Begriff der Sektorkopplung in die Diskussion. Mit Power-to-X-Verfahren sollen die Grenzen zwischen Energie­ trägern überwunden werden, um die Netze im Ausgleich zwischen fluktuierenden und stetigen Energiequellen nicht zu überfordern. Wie kann das funktionieren? Wer gewinnt und wer verliert? Michael Riechel, Vorsitzen­der des Vorstandes der Thüga AG, und Dr. Martin Grundmann, Geschäftsführer der ARGE Netz, diskutieren über das Potenzial, die Schwierigkeiten und die anstehenden Aufgaben bei der Sektorkopplung.

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STREITGESPRÄCH • SEKTORKOPPLUNG

Die Erneuerbaren Energien müssen die Möglichkeit erhalten, sich am Markt zu refinanzieren. Das ist im Moment gesetzlich faktisch verboten. Diese Fehlentwicklung soll über den Paragrafen 27a im EEG-Entwurf sogar noch zementiert und eine starre Betriebsweise der Anlagen vorgeschrieben werden. Mit der Folge, dass nicht der gesamte erneuerbare Strom genutzt werden kann. Das ist eine Einschränkung, die weder der Realität entspricht noch den Anforderungen an das zukünftige Energiesystem. Was wir brauchen, ist die Öffnung aller Märkte für Erneuerbare. Dies muss zu gleichen Wettbewerbsbedingungen in allen Sektoren gelten.

Foto: Anna Durst

Bislang gilt die Umwandlung von Strom in Gas als vollkommen unwirtschaftlich. Wie soll sich Power-to-Gas ohne Subvention rechnen? Riechel: Kommt drauf an, welche Faktoren in die Rechnung einbezogen werden. Ohne an dieser Stelle Power-to-Gas alleine positionieren zu wollen: Man muss berücksichtigen, dass man zum Beispiel über entsprechende Mengen Skalierungseffekte bekommt und dass man zugleich bestimmte Investitionen, etwa in Strominfrastruktur, vermeiden kann. Aber mein Punkt ist eigentlich ein anderer: Wir dürfen nicht in die Gefahr laufen, bestimmte Infrastrukturen zu überstressen und andere dabei zu entwerten. Die Kopplung der Systeme wird an diesem Punkt im Prinzip für Gleichgewicht sorgen.

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»Dass die Energieträger weiter jeder für sich kämpfen, macht aus meiner Sicht keinen Sinn.« Michael Riechel, Vorsitzender des Vorstandes der Thüga STREITFRAGEN — Juni 2016

Dank Power-to-Gas Stromnetzinvestitionen sparen? Grundmann: Da muss man differenzieren. Erneuerbare Energie ist elektrisch, also brauchen wir ein leistungsfähiges Stromnetz und damit auch die Übertragungsnetze. Wir werden aber zunehmend Mengen an Wasserstoff und synthetisches Gas aus Erneuerbarer Energie produzieren und nicht vollständig lokal verbrauchen. Diese Mengen könnten beispielsweise vom Gasnetz aufgenommen werden, das dann als Speicher dient. Auf der regionalen Ebene werden wir noch zahlreiche Innovationen erleben, um die erzeugte Erneuerbare Energie vollständig zu nutzen: Das ist Power-to-X. Sektorkopplung bedeutet also eine stärkere Verknüpfung von Infrastrukturen, Märkten und erneuerbarer und konventioneller Erzeugung.

»Seht zu, dass Ihr Euer Gasnetz öffnet .« Martin Grundmann, Geschäftsführer der ARGE Netz

Haben wir das richtig verstanden, dass Sie davon ausgehen, dass das Gas in Zukunft aus erneuerbaren Quellen kommt? Grundmann: Ja, die Zukunft ist erneuerbar und elektrisch. Wir werden einen Paternoster-Effekt haben, wo die erneuerbare Seite nach oben und die konventionelle Seite nach unten fährt. Wenn sich das System eingespielt hat, liegen wir bei einem Verhältnis von 80 zu 20 oder 90 zu 10. Das müssen wir in den nächsten 30 Jahren umsetzen, mit der klaren Perspektive, dass der Zubau der Erneuerbaren und der Rückbau der Konventionellen stattfinden. Für die nächsten Jahrzehnte ist die Koexistenz in

Um Wind- und Sonnen­strom rund um die Uhr nutzen zu können, bietet sich als Speichertechnologie Power-to-Gas an – die Umwandlung des Stroms in Wasserstoff und Methan.


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ein thema in der

DELPHI-Studie 75 Prozent erwarten eine „All Electric Society“ im Jahr 2040. Strom aus Erneuerbaren sorgt auch für Wärme und Mobilität und hat Erdgas und Erdöl in industriellen Prozessen ersetzt.  www.delphi-energy-future.com

hier vor allem um Skalierung. Wenn sich, zunächst im Mobilitätssektor, ein Markt für erneuerbaren Wasserstoff entwickelt, werden wir ganz schnell industrialisierte Prozesse im Bereich der Umwandlung haben. Was mir wichtig ist: Man muss heute beginnen, die ersten Schritte zu tun, was die Fertigungskapazität, die Technologieentwicklung, die Abnahmeseite, den Vertrieb und so weiter angeht. Und natürlich müssen wir hierfür auch die gesetzlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen voranbringen. Und das heißt für die Gasseite: Seht zu, dass Ihr Euer Gasnetz öffnet. Nicht erst in 20 Jahren, sondern heute schon. Sorgt dafür, dass Erdgas durch erneuerbares Gas nach und nach ersetzt wird.

der Erzeugung von Energie das, worum es in der Realität geht. Zudem müssen wir die politischen Vorgaben der Dekarbonisierung ernster nehmen. Das heißt ja nicht, dass es keine gasförmigen Stoffe im Energiebereich mehr geben wird. Aber das heißt, dass Gas zunehmend aus elektrischer Energie umgewandelt wird. Riechel: Da habe ich noch ernsthafte Zweifel, Herr Grundmann. Ich spreche jetzt mal als Vizepräsident DVGW Gas: Nach der jetzigen Gesetzgebung darf die Einspeisung von Wasserstoff ins Gasnetz maximal zu zehn Volumenprozent erfolgen. Und selbst,

wenn das anders geregelt wäre, würde eine höhere Einspeisung im Netz aus allerhand Gründen schwierig. Ohne jetzt ins Detail zu gehen: Da gibt es Probleme auf der Transportseite, mit Verdichtern, mit Speichern und so weiter. Theoretisch könnte man den erzeugten Wasserstoff natürlich noch mit CO2 zu CH4 wandeln, dann hat man wieder Methan. Aber das ist noch ein zusätzlicher Prozess, der auch wieder Geld kostet und der überdies eine Bereitstellung von CO2 voraussetzt. Das sehe ich nicht. Grundmann: Kurzfristig ist das Thema noch zu klein, da haben Sie Recht. Aber es geht

Riechel: Sicherlich muss Gas einen Lösungsbeitrag zur Energiewende leisten. Wenn wir unterstellen, dass wir irgendwann nur noch synthetisches oder Naturgas im Netz haben sollen: Wie viel Überschussstrom müssten wir erzeugen, um das bestehende Gasnetz in Deutschland zu befüllen? Das bedeutet riesige Investitionen. Diese Vision ist auch für den Strommarkt von der Erzeugerseite her sehr kritisch. Am Ende muss es der Kunde sein, der entscheidet, was für einen Energieträger er nutzt. Wenn wir so weit kommen, dass uns das vom Staat über Regulierungen vorgeschrieben wird, dann bekommen wir in dieser Republik ein echtes Problem. Einspruch, Herr Grundmann? Grundmann: Die Zukunft ist elektrisch und alle Sektoren werden weitgehend dekarbonisieren müssen. Das bedeutet für Gas, dass es weniger gebraucht wird. Auch im Bereich der Erzeugung von synthetischem Gas wird es deshalb zu keinem Überschuss in dem Sinne kommen. Aber reden wir über den Wärmemarkt. Bei der Wärmelieferung gibt es heute kein „Level Playing Field“ STREITFRAGEN

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STREITGESPRÄCH • SEKTORKOPPLUNG

im Wettbewerb. Der größte Anteil an den Kosten kommt aus dem Abgaben- und Steuersystem. Und das führt dazu, dass es sich für ein normales Familienhaus – ob im Bestand oder im Neubau – immer noch eher lohnt, in eine fossile Therme zu investieren als in eine elektrische Wärmepumpe oder eine Brennstoffzelle. Und ein mittelständisches Unternehmen, das Prozesswärme braucht und über Gas erzeugt, würde bei einer Umstellung auf Strom nicht mehr drei Cent, sondern ungefähr zwölf Cent pro Kilowattstunde zahlen. Das ist Faktor vier, das wird kein Unternehmen machen. Und das liegt fast ausschließlich an den staatlich regulierten Abgaben und den Steuern, die auf den unterschiedlichen Energiearten liegen.

Foto: Dimplex

Riechel: Dass Strom der zukünftige Energieträger für den Wärmemarkt ist, sehe ich nicht. Wir unterstellen ja, dass wir Strom fast nur noch aus erneuerbaren Energiequellen herstellen. Das bedeutet, dass wir zur Sicherstellung dieser Versorgung ein nicht unerhebliches Back-up aus konventioneller Leistung brauchen, weil wir die Flexibilität alleine mit Speichern bislang nicht gewährleisten können. Wenn jetzt noch der Wärmemarkt dazukommt, stehen noch einmal erhebliche Investitionen in konventionelle Erzeugungsanlagen an, die nur wenige Stunden im Jahr laufen sollen. Das ist nicht ökonomisch. Von daher: Zwischen Strom und konventionellem Erdgas wird das zumindest für die nächsten 30 bis 35 Jahre eine gleichberechtigte Koexistenz, weil sie

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»Dass Strom der zukünftige Energieträger für den Wärmemarkt ist, sehe ich nicht.« Michael Riechel, Vorsitzender des Vorstandes der Thüga STREITFRAGEN — Juni 2016

gar nicht konkurrierend im Markt auftreten müssen, sondern ergänzend. Ohne das Thema Kapazitätsmarkt jetzt aufrollen zu wollen: Stimmt es, dass die Erneuerbaren konventionelle Kraftwerke brauchen, um Netzstabilität zu erlangen? Grundmann: Mit einer intelligenten Verknüpfung von Erneuerbaren und IT können wir bereits heute einen berechenbaren Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten. Gleichzeitig haben wir einen rückläufigen Kraftwerkspark, da wird man ab einem Punkt entscheiden müssen, was volkswirtschaftlich sinnvoller ist: Stromumwandlungsanlagen zu bauen an wichtigen Netzknotenpunkten und eine dezentralisierte Nutzung Erneuerbarer Energie – oder große Kraftwerke zu bauen, die nur zehn oder 15 Prozent des Jahres laufen sollen. Wenn wir uns in zehn Jahren nochmal treffen sollten, werden wir wahrscheinlich sagen, dass der Kraftwerkbau weniger rentabel ist als der Speicherbau. Riechel: Da stimme ich zu. Am Ende ist es eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Hole ich mein Back-up über Speicher oder über die konventionelle Erzeugung über Gas. Da muss man schauen, wie sich die Speichertechnologie entwickelt. Ist das ein Thema für die Gasbranche? Riechel: Nein, wir beschäftigen uns nicht mit der Speicherung von Strom. Wir schauen, dass wir das Produkt Gas nach wie vor effizient einsetzen, im Wesentlichen in dem Markt, in dem wir zu Hause sind. Das ist der Wärmemarkt. Das ist bisher ja auch nachweislich erfolgreich gelaufen. Vermissen Sie da Engagement, Herr Grundmann? Grundmann: Wir müssen alle stärker über den Tellerrand denken, denn in der Realität laufen die Sektoren ja schon zusammen, Beispiel Hybridheizung. Wenn wir davon ausgehen, dass wir eine dezentrale Energieerzeugung haben werden, dann benötigen wir Back-up-Kapazitäten ebenfalls dezentral. Der Trend sind heute BHKW und flexible gasbefeuerte Kraftwerke mit einzeln ansteuerbaren Motoren

Moderne Speicher­ heizungen speichern überschüssigen Strom aus Er­neu­erbaren, der dann zur Wärmeversorgung genutzt wird.


SEKTORKOPPLUNG • STREITGESPRÄCH

»Das Ziel ›die Zukunft ist elektrisch‹ heißt ja nicht, dass es kein Gas oder keine gasförmigen Stoffe mehr geben wird.« Martin Grundmann, Geschäftsführer der ARGE Netz

oder Turbinen. Das ist meines Erachtens zu begrüßen, weil die Flexibilität dort mitgeliefert wird. Aufgrund der kleinskalierten Anlagen ist hier eine hohe Anpassungsfähigkeit an die erneuerbare Energieerzeugung gegeben, dazu brauchen wir keine unflexi­blen Mini-Atomkraftwerke. Die Dezentralität der künftigen Erzeugung ist der Schlüssel. Aber wie sollen solche dezentralen Energieversorgungssysteme über unterschiedliche Sektoren hinweg gesteuert werden? Sicher durch sehr viel mehr IT als heute. Und wenn wir Echtzeitdaten aus der erneuerbaren Produktion liefern können, und zwar so, dass unterschiedliche Infrastrukturen angesteuert werden können, dann ist es sinnvoll, solche dezentralen, sektorgekoppelten Energieversorgungssysteme aufzubauen. Dabei könnten die großen Ferngasleitungen als Speicher genutzt werden, sofern keine Nachfrage vom Stromnetz oder dem Mobilitätssektor oder der Industrie erfolgt. Riechel: Da haben wir die gleiche Sicht. Auch wir gehen davon aus, dass wir zukünftig deutlich mehr Dezentralität brauchen. Das BHKW wird über Erdgas gespeist. Das heißt, der Erdgasmarkt wird möglicherweise noch wachsen. Das heißt, die Infrastruktur des Gasnetzes muss nach wie vor ausgebaut werden. Welches Gas fließt, ist dabei egal.

Eindeutig ist: Wir brauchen die Kopplung von Strom- und Gasnetz, damit das Gesamtsystem – Integrated Smart Grids – entsprechend umsetzbar wird. Wird das nicht alles wahnsinnig teuer? Riechel: Ja, sicher. Es wird in den nächsten 20 Jahren zu erheblichen Investitionen kommen. Allein der Netzausbaubedarf in den Stromverteilnetzen bis 2030 wird je nach Szenario zwischen 28 und 42 Milliarden Euro kosten. Dann kommt noch der Netzausbau beim Gas dazu. Riechel: Ja, und das Problem ist, dass genau diese Investitionen, die eigentlich erforderlich wären, im Rahmen der Anreizregulierungsverordnung derzeit und auch nach den jetzigen Regierungsplänen weiterhin nicht unterstützt werden. Weil die Regulierung genau gegenläufig arbeitet. Die Verteilnetzbetreiber werden in ihren Investitionen durch die Regierungsvorgaben deutlich benachteiligt. Grundmann: Im Gasnetzbereich würde ich mich schwertun, eine Prognose über den Ausbau abzugeben. Wir haben in Deutschland ein ausgebautes Gasnetz. Deswegen wird man mit der Infrastruktur auf STREITFRAGEN

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STREITGESPRÄCH • SEKTORKOPPLUNG

Riechel: Lassen Sie mich mit Zahlen antworten: Der Energiebedarf im Wärmemarkt in Deutschland liegt derzeit bei knapp 1.200 Terawattstunden. Das ist doppelt so viel wie der gesamte Stromverbrauch. Den bisherigen Wärmemarkt durch Strom substituieren zu wollen, wird allein mit Überschussmengen nicht gehen. Was für die Wärmegewinnung zugebaut werden müsste, bewegt sich in Dimensionen, die noch gar nicht klar sind.

Fotos: Bernhard Huber, Roland Horn

Grundmann: Sie nehmen die heutigen Zahlen. Ich gehe aber davon aus, dass wir im Bereich der Energieeffizienz große Sprünge machen werden. Zudem bedeutet Sektorkopplung mehr als Überschussstrom. Die zeitliche Perspektive sind die nächsten 30 Jahre. Wir können nicht davon ausgehen, dass der Wärmebedarf gleich bleibt und wir aufgrund der Elektrifizierung im Übermaß neue Gasund Stromnetze brauchen.

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jeden Fall erst mal arbeiten wollen, insbesondere in den Städten und den größeren Orten. Auf dem Land oder im Neubau, wo kein Gasnetz vorhanden ist oder nicht mehr gelegt wird, sieht das anders aus, weil die meisten Gebäude energieeffizient sind. Da werden wir etwas flexibler arbeiten müssen. Denn es wird weiterhin konventionelle Heizungsanlagen geben und wir müssen erreichen, über Kopplung möglichst wenig dieser Energie zu verbrauchen und mehr über Erneuerbare bereitzustellen. Verliert das Gas langfristig die Vorherrschaft im Wärmemarkt, Herr Riechel? STREITFRAGEN — Juni 2016

R iechel: Aber d ie Za h len sprechen doch für sich, Herr Grundmann. Selbst wenn wir 50 Prozent Effizienzgewinn im Wärmemarkt hätten, müssten wir auf der Stromerzeugungsseite dennoch die gleiche Erzeugungsleistung zusätzlich für den Wärmemarkt vorhalten. Und wir müssten die Stromnetze auch entsprechend auf diese Mengen ausrichten und würden damit gleichzeitig eine bestehende Infrastruktur entwerten. Grundmann: Je schneller wir es schaffen, in dem Bereich Power-to-X voranzukommen, umso leichter wird es nachher sein, die In­ frastruktur Erdgasnetz auch wirtschaftlich zu betreiben. Wenn wir uns jetzt noch Zeit lassen, mehr in diese Technologie zu investieren, dann wird man mit den Gasnetzen Probleme bekommen. Riechel: Lassen Sie mich an dieser Stelle noch mal verdeutlichen, warum die Gas­i nfrastruktur für uns so wichtig ist:

Erstens, weil die Erneuerbaren Energien über Power-to-Gas in ein bestehendes Netz eingespeist werden können. Zweitens, weil mit dieser Infrastruktur alle Kunden erreichbar sind, vom Haushaltskunden bis zum Industriekunden. Und drittens, weil wir – und das ist der wesentliche Unterschied zum Strom – in der Gasinfrastruktur die Verteilung, den Ferntransport und die Speicherung vereinen. Ohne Gasinfrastruktur, gekoppelt mit dem Stromsektor, wird die Energiewende überhaupt nicht funktionieren. Grundmann: Dem stimme ich zu. Sektorkopplung bedeutet auch für mich, dass man sich nicht nur auf einen Energieträger oder eine Nutzungsform konzentriert, sondern den effizientesten und wirtschaftlichsten Weg für die Distribution Erneuerbarer Energie wählt. In welcher Form das stattfindet, hängt aus heutiger Sicht zu ungefähr drei Vierteln von staatlichen Abgaben und Steuern ab und zu einem Viertel von dem, was man an Erzeugung, Vertrieb und so weiter hat. Das muss sich einfach ändern, weil sonst auch die Vergleichbarkeit der Infrastrukturen nicht möglich sein wird. Wir haben noch nicht über den Mobilitäts­ markt gesprochen. Bleiben die beiden Energie-

»Egal, was wir diskutieren, ob Strom oder Gas, es muss politisch in einem diskriminierungsfreien Rahmen passieren.« Michael Riechel, Vorsitzender des Vorstandes der Thüga


SEKTORKOPPLUNG • STREITGESPRÄCH

»Ich bin fest davon überzeugt, dass wir nicht bis zur nächsten Legislaturperiode warten sollten.« Martin Grundmann, Geschäftsführer der ARGE Netz

Sehen Sie das auch so, Herr Grundmann? Grundmann: Ich würde anders anfangen: Wer A wie Abschalten fordert, muss auch B sagen und beschleunigt die Erneuerbaren nutzen. Und da gibt es auch für Herrn Riechel das Thema Versorgungssicherheit. Erneuerbare Erzeugungseinheiten können so zusammengeschaltet werden, dass Lieferversprechen gehalten werden können. Ganz ohne stetige Erzeuger oder Speicher wird das kurzfristig nicht gelingen. Wir brauchen die Kombination aus fluktuierenden und kleiner dimensionierten flexiblen, stetigen Anlagen, die sich an die erneuerbare Erzeugung anpassen können. Dann gelingt die Versorgungssicherheit auf Basis Erneuerbarer Energien. Zu welchem Zeitpunkt diese Verbrennungsanlagen mit Wasserstoff oder Synthese­gas befeuert werden, ist eine Frage der CO2-Bepreisung und der Wirtschaftlichkeit in der Umwandlung.

träger Strom und Gas Konkurrenten oder gibt es Aussicht auf eine Kopplung der beiden? Riechel: Man kann schon jetzt von einer Kopplung sprechen. Vor über 20 Jahren hat die Gasbranche versucht, das Thema Mobilität aufzunehmen. Sie hat erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt, um die In­f rastruktur aufzubauen. Der Erfolg ist sehr überschaubar. Jetzt geht man hin, mit Förderung die E-Mobilität anzuschieben. Ich halte den Ansatz politisch schlichtweg für falsch, weil wir kein Nachfrageproblem haben, sondern ein Technologieproblem.

Riechel: Also für mich ist ein Punkt ganz wichtig. Egal, was wir diskutieren, ob Strom oder Gas, es muss politisch in einem diskriminierungsfreien Rahmen passieren. Und am Ende, wenn wir über das Thema Markt sprechen, ist der zentrale Punkt im Markt der Kunde und der muss in diese Lösungen und auch in diese politischen Entscheidungen in jedem Fall mit einbezogen werden.

Grundmann: Ich kann mich dem nicht ganz anschließen. Unabhängig von der volkswirtschaftlichen Logik ist es offensichtlich notwendig, den Markt für Elektrofahrzeuge anzuregen; beim Erdgas als Treibstoff soll die Förderung ja ebenfalls verlängert werden. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass die Stromversorgung für diese Fahrzeuge ausschließlich aus Erneuerbarer Energie erfolgt, und da hat der Gesetzgeber leider eine Lücke gelassen.

Grundmann: Entscheidend ist, dass wir Lösungen aus Verbrauchersicht anbieten, die im Einklang mit den politischen Zielen der Dekarbonisierung stehen, weil die Reduktion von Treibhausgasen letztlich das Ziel der Energiewende ist. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass wir nicht bis zur nächsten Legislaturperiode warten sollten, um erste vorsichtige Schritte in Richtung Sektorkopplung zu gehen. Wir haben hierfür ein Transformationsmodell mit konkreten Vorschlägen vorgelegt. Die Entwicklungen, über die wir hier sprechen, sollten die Chance erhalten, in die Er-

Herr Riechel, wird es irgendwann eine Gas­ ausstiegsdebatte geben? Riechel: Irgendwann? Das kann ich nicht ausschließen, wir sind aber gut beraten, den Energieträger Gas und die Infrastruktur als wichtiges Instrument für Flexibilität und Versorgungssicherheit zu sehen.

probung zu gehen, um am Markt zu sehen, wie sich Wirtschaftlichkeitskonzepte und neue Partnerschaften entwickeln und wie das, was man Wettbewerb nennt, dann auf einem „Level Playing Field“ auch stattfinden kann. TOM LEVINE ist Chefredakteur und Content Stratege bei C3.

 Kommentare zum Thema auf

streitfragen.de/debatten

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KARTE • FORSCHUNGSFÖRDERUNG

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2015 stellte der Bund für die Förderung der Energieforschung rund 863 Millionen Euro zur Verfügung. Das waren 44 Millionen Euro mehr als im Vorjahr. Thematischer Schwerpunkt war die Förderung von Forschung und Entwicklung zur Energieeffizienz und zu den Erneuerbaren Energien. Das Budget umfasst auch indirekte Kosten, insbesondere Verwaltungskosten der beauftragten Projektträgerorganisationen. Das erklärt die Differenz der abgeflossenen Mittel zur Gesamtsumme.


FORSCHUNGSFÖRDERUNG • KARTE

EU-Förderprogramm Horizon 2020

Aufwendungen der Bundesländer für nichtnukleare Energieforschung im Jahr 2014

Horizon 2020 ist mit 75 Milliarden Euro das weltweit größte Programm für Forschung und Innovation. Für den Themenbereich Energie standen 2014 etwa 580 Millionen Euro zur Verfügung.

Mittelabfluss in Mio. € SCHLESWIG-HOLSTEIN 5,15 BREMEN 1,99

MECKLENBURG-VORPOMMERN 13,02

Reduzierung Energieverbrauch

Dekarbonisierung

Weiterentwicklung Stromversorgung

Paneuropäisches Stromnetz

Flexibilisierung Energiesystem

Energie-, Verkehrsund Kommunikationslösungen

HAMBURG 14,91

BRANDENBURG 4,40

NIEDERSACHSEN 38,57

BERLIN 4,70 SACHSEN-ANHALT 4,62

NORDRHEIN-WESTFALEN 28,99

Alternative Brennstoffe THÜRINGEN 1,81

SACHSEN 1,01

RHEINLAND-PFALZ 2,37 BAYERN 85,61

SAARLAND 1,56 BADEN-WÜRTTEMBERG 44,37

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Aufwendungen der Bundesländer für nichtnukleare Energieforschung Mittelabfluss in Mio. €

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2011

2012

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GELD FÜR DIE FORSCHUNG Bund erhöht das Budget Anfang April hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung den Startschuss für die Kopernikus-Projekte gegeben. Dahinter verbirgt sich die größte – mit 400 Millionen Euro – vom Bund finanzierte Forschungsinitiative zur Energiewende. Gefördert werden vier Schlüsselbereiche: die Entwicklung von Stromnetzen, die Speicherung überschüssiger erneuerbarer Energie durch Umwandlung in andere Energieträger, die Neuausrichtung von Industrieprozessen auf eine fluktuierende Energieversorgung und das verbesserte Zusammenspiel aller Sektoren des Energiesystems. Die Kopernikus-Projekte ergänzen die bisherigen Förderbudgets von Bund, Ländern und EU. Diese Grafik zeigt, in welche Bereiche das Geld fließt und wie sich die Höhe der Fördersummen entwickelt hat. Informationsbasis sind der Bundesbericht Energieforschung 2016 und Horizon 2020.  Bundesbericht: www.bmwi.de/DE/mediathek.html

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Quelle: Bundesbericht Energieforschung 2016; Illustration: C3 Visual Lab

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NACHWUCHS • GENERATION Y

Selbstverwirklichung im Job Auszeiten statt steiler Karriere Gute Bildung ist alles Chefs als Trainer spass statt Geld

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GENERATION Y • NACHWUCHS

Die Umkrempler Still und leise verändert die Generation Y die Arbeitswelt, sagen Soziologen. Wirklich? Annemarie Goth, Recruiterin bei der Berliner GASAG AG und selbst eine Um‑die‑30‑Jährige, erzählt. Interview MEIKE BRUHNS

Für die Generation Y zählt Sinnsuche statt Karriere, heißt es. Flexibilität statt Festanstellung, Work-Life-Balance statt dickes Gehalt – und alles bitte mit viel Lob vom Chef ... Frau Goth, mit 29 Jahren zählen Sie auch zur Generation Y. Erkennen Sie sich in der Liste der Thesen wieder?

Das sind zwar Standardschubladen, aber manches passt in der Tat ganz gut. Bei an­ deren Sachen frage ich mich jedoch, wie die Soziologen bloß darauf kommen. Was passt denn so gar nicht?

Etwa, dass ein fester Job für meine Genera­ tion keine Priorität hat. Mir ist das wichtig, meinen Freunden und vielen anderen auch. Unbefristete Verträge sind hoch im Kurs. Befristete Stellen kann ich nur schwer beset­ zen – alles unter einem Jahr klappt meist nur mit Zeitarbeitsfirmen. Sicher, die Lebensläu­ fe sind nicht mehr so gradlinig. Viele reisen neben dem Studium und probieren Dinge aus, um herauszufinden, was ihnen Spaß macht. Aber wenn es an den Berufseinstieg geht, suchen die meisten ein Unternehmen, das ihnen eine Perspektive bietet.

Foto: Jan-Philip Welchering

Als Recruiterin sitzen Ihnen oft Gleichaltrige gegenüber. Haben die etwas gemeinsam, das sie von anderen Generationen unterscheidet?

Die bringen ein ganz anderes Selbstbe­ wusstsein mit und können sich sehr gut darstellen. Fragen zu flexiblen Arbeitszei­ ten, Work-Life‑Balance und Weiterbildun­ gen kommen auch oft – zwar erst am Ende des Gesprächs, aber immerhin: Ältere Kandidaten sprechen das seltener an. Wie stellt sich die GASAG AG auf diese Bewerber ein? Es gibt ja nicht so viele Vertreter der Generation Y ...

Heute müssen sich die Unternehmen ver­ stärkt auch bei den Kandidaten bewer­ ben. Wir lassen uns eine Menge einfallen, um die Richtigen auf uns aufmerksam zu machen. Die klassische Stellenanzeige stirbt aus, mehr Erfolg haben wir mit Tes­ timonials von Unternehmensvertretern auf Jobportalen wie Stepstone. Wir un­ tersuchen gerade das Thema mobile Re­ cruiting, wo man sich direkt vom Handy aus bewerben kann, und Live-Chats, bei denen Interessenten ihre Fragen direkt stellen können. Die GASAG AG ist kein Start-up, aber als etabliertes Unterneh­ men haben wir durchaus unsere Vorzüge. Gutes Recruiting ist wichtig. Ich habe mir damals bei der Jobsuche auch die Bewertungen auf den Onlineportalen durchgelesen. Da ist man als Arbeitgeber sehr schnell unten durch.

Steckbrief Annemarie Goth NAME: ALTER: 29 GEBURTSORT: Berlin WOHNORT: Berlin POSITION: Personalreferentin/

Recruiting bei der GASAG AG STUDIUM: Master of Science in Internationalem Manage- ment, FH Brandenburg PRAXIS: 3,5 Jahre in drei Unternehmen INTERESSEN: Netzwerken EMPFEHLUNG: Kommunikation öffnet Türen – ganz gleich, zu welcher Generation man gehört.

Merkt man den Einfluss der Generation Y schon in Ihrem Unternehmen?

Das ist schwer zu sagen, weil sich das Unter­ nehmen seit Jahren ständig verändert – ganz aktuell durch die Energiewende. So viele sind wir ja auch noch nicht. Aber wir Jun­ gen bringen doch einen anderen Blickwinkel mit. Vielleicht ist es die Bereitschaft, Fragen zu stellen, wenn wir etwas nicht wissen. Ich stelle immerzu Fragen, vielleicht auch zum Leidwesen meiner Kollegen. Es heißt ja, dass die Generation Y ständig Feedback braucht ...

Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich ein Phänomen unserer Generation ist. In­ zwischen hat sich ja in vielen Unternehmen herumgesprochen, dass eine gute Feed­backkultur die Ergebnisse verbessert. Es ist ja auch sinnvoll: Wie kann man sonst an sich arbeiten und vermeiden, Fehler zu wiederho­ len? Aber es ist wahr, dass die Jüngeren das mehr einfordern. Die Qualität des Onboar­ ding-Prozesses oder eines Mentoren-Pro­ gramms kann entscheiden, ob Bewerber bei einem Unternehmen bleiben oder nicht. Zuletzt noch die Frage nach dem Sinn. Der soll der Generation Y sehr wichtig sein.

Meinen Sie, das war früher anders? Ich kann mir keinen Menschen vorstellen, der nicht lieber etwas Sinnvolles tut. Ich persönlich habe mich umgeschaut und etwas gefunden, das zu mir passt, das mir Spaß macht – und sinnvoll ist es auch: Ich helfe anderen da­ bei, ihren Berufseinstieg oder -umstieg bei uns zu finden. D I E AUTO R I N ist Leitende Redakteurin bei C3 und schreibt unter anderem über soziologische Themen.

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SZENARIO • PREISGESTALTUNG

... dann liesse sich der Preis leichter berechnen Bei einer Flatrate berechnet der Versorger den Kunden nur noch seine Fixkosten. Die variablen Kosten entfallen fast vollständig, da Sonne und Wind nahezu kostenlos Strom produzieren. Die Stromkunden zahlen vor allem für den Service, Energie zu beziehen, nicht mehr für den reinen Verbrauch. Alles wird zusammen – je nach individueller Vereinbarung – in definierten Paketen angeboten.

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Fotos: Alamy, Shutterstock (2), imago

Was wäre, wenn es für den Energieverbrauch eine Flatrate gäbe …


PREISGESTALTUNG • SZENARIO

Kunden hätten es gern einfach und flexibel: eine definierte Pauschale bezahlen und dann in diesem Rahmen Strom und Gas verbrauchen, wie sie wollen. Denn viele interessieren sich nicht für die Kosten der einzelnen Kilowattstunden. Sondern dafür, dass die Wohnung warm ist und das Licht brennt. Kann ihnen die Energiebranche ein Angebot machen? Von ULI DÖNCH

... dann würden die Kosten fairer verteilt Die Netzbetreiber bauen wegen der Energiewende neue Strom- und Gas­ leitungen. Diese Investitionen müssen alle Verbrauchergruppen mittragen. Eine Flat­rate, die diese Kosten über den Grundpreis abdeckt, wäre gerecht.

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SZENARIO • PREISGESTALTUNG

... dann gäbe es massgeschneiderte Pakete

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eder kennt sie: die Flatrate fürs Handy. Man zahlt pauschal. Und telefoniert oder surft so viel, wie es der Vertrag erlaubt. Also warum gibt es das nicht auch für den Energieverbrauch – eine Flatrate für Strom oder Gas? Allein die Tatsache, dass sich die Experten schon seit Jahren die Köpfe zerbrechen, zeigt: Es gibt keine einfache Lösung. Der Energiemarkt ist viel komplexer als die Telekommunikation. Ein einziger Festpreis für eine unbegrenzte Menge Energie, unabhängig von Uhrzeit und Netzauslastung? Das dürfte nicht funktionieren. Wenigstens heute noch nicht. Und morgen? Durch die Energiewende ändert sich vieles: Aus wenigen großen Stromproduzenten werden viele kleine, Energie wird dezentral und flexibel erzeugt. Experten sprechen

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von einem Paradigmenwechsel – weg von der nachfrageorientierten Erzeugung, hin zum angebotsorientierten Verbrauch. Denn die Kunden, Industrie und Haushalte, werden ihren Markt selbst gestalten. Sie kaufen Strom günstig ein, versorgen sich selbst, analysieren ihr Verbrauchsverhalten und speichern oder verkaufen sogar Energie. Die Energiewende beeinflusst auch die Faktoren, die den Strompreis bilden – feste und variable Kosten. Durch den Umstieg auf Erneuerbare bleiben (fast) nur noch Festkosten für Produktionsanlagen, Energienetze und das Vorhalten von Reserveleistung übrig. Die variablen Kosten der Energieerzeugung verschwinden fast komplett. Denn Sonne und Wind schicken keine Rechnung, wie ein Buchbestseller titelte. Diese grundlegend neue Kalkulation

(„Arbeitspreisfreie Welt“) ist das Kernargument der Flatrate-Befürworter. Nach ihrem Szenario würde der Kunde im Prinzip nur noch die Fixkosten bezahlen, nicht aber den frei und im Überfluss vorhandenen Strom aus Erneuerbaren Energien – die Grundgebühr wäre der Gesamtpreis. Dr. Holger Wiechmann von der EnBW Vertrieb GmbH: „Die Flatrate wird kommen müssen, weil die variablen Kosten der Energieproduk­ tion verschwindend gering werden und wir daher immer mehr kostenlose Flexibilität bekommen.“ Kritiker dieses Konzepts bezweifeln jedoch, dass eine allumfassende Flatrate funktioniert: Wenn der Kunde nur eine monatliche Servicepauschale bezahle, bestehe das Risiko des übermäßigen Verbrauchs oder gar

Fotos: Getty Images, Shutterstock

Die Energiekonzerne können genau das anbieten, was die Kunden sich wünschen: eine günstige Einsteiger-Flatrate („flexible Preisfenster“), eine komfortable Versorgungsleistung (im Umfang begrenzt) oder ein Rundum-sorglos-Paket. Wer mehr möchte, bezahlt auch mehr.


PREISGESTALTUNG • SZENARIO

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n ... dann Bekämen die Kunden mehr Einfluss Das Prinzip einer Flatrate versteht jeder. Einmal bezahlen, flexibel nutzen. Doch die Sie dazu Lesen Kunden von morgen sind mehr als Konsumenten. Sie erzeugen selbst Energie, speichern sie und bestimmen durch ihr Verhalten den Endpreisauch von Strom dieund Gas immer stärker mit: Als Verbraucher weichen sie hohen Preisen aus, nutzen sie aber als Energieproduzenten. Studie DELPHI

ULI DÖNCH ist Wirtschaftsexperte und arbeitet als freier Autor. Davor leitete er das Wirtschaftsressort des Nachrichtenmagazins FOCUS.

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ren massiv erweitern – wer bezahlt für Ausbau, Instandhaltung und Nutzung? Torsten Knop von der RWE Deutschland AG: „Eine Flatrate, die unabhängig von der Nutzung der Netze erhoben würde, wäre nicht gerecht.“ Eine faire Lösung könne darin bestehen, einen höheren Grundpreis für das Stromnetz zu erheben und darüber nachzudenken, welche Netzkapazitäten sich für eine Flatrate eignen könnten. „Dann könnte ich mir vorstellen“, so Knop, „für das Netz Flatelemente zu entwickeln, die es dem Vertrieb ermöglichen, für die Kunden Flatprodukte zu kreieren.“

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des Missbrauchs. Eine echte „Rundum-sorglos-Flatrate“ wäre hingegen viel zu teuer. Die Energiebranche denkt daher intensiv über Flatratevarianten und Einsteigermodelle nach: Einzelne Dienstleistungen könnten zu Teilflatrates werden, so etwa zu einer „Flat­rate Wärme“ oder einer „Flatrate Licht“. Oder: Der Flatratekunde darf Teile seines Bedarfs nur zu gewissen Zeiten abrufen. Das könnte Anreize schaffen, Strom dann zu verbrauchen, wenn er günstig und im Überfluss vorhanden ist. Oder: Die Flatrate hat eine Obergrenze. Sie könnte Missbrauch verhindern und die Kunden dazu bewegen, in eigene Speicher zu investieren. Diese Gedankenspiele lösen aber nicht das Kernproblem der Stromnetzbetreiber. Sie müssen das Netz in den nächsten Jah-

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ein thema in der

DELPHI-Studie 59 Prozent glauben, dass Verbraucher im Jahr 2040 eine Flatrate für Strom zahlen, die sich am Durchschnittsverbrauch und individuellen Bedürfnis nach Versorgungssicherheit orientiert.  www.delphi-energy-future.com

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MEINUNG • GRUNDWASSERQUALITÄT

Arzneimittelspuren im Gru Es muss endlich das Verursacher- und Vorsorgeprinzip umgesetzt werden. Auch Pharmakonzerne sollten ihren Teil zum Schutz des Wassers beitragen. Von MARTIN WEYAND

Fotos: Shutterstock (2), BDEW, Dirk Lässig

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b in Krankenhäusern, in der industriellen Massentierhaltung oder in Privathaushalten: Jeden Tag werden hierzulande viele Tonnen Medikamente verwendet. Aufgrund der demografischen Entwicklung und der besseren medizinischen Versorgung werden es in Zukunft sogar noch mehr. Ein großer Teil der medizinischen Wirkstoffe gelangt in das Abwassersystem und schließlich in die Kläranlagen. Von den rund 1.200 Humanarzneimittelwirkstoffen mit möglicher Umweltrelevanz wurden im Jahr 2012 in Deutschland insgesamt 8.120 Tonnen verbraucht. Das ist gegenüber 6.200 Tonnen im Jahr 2002 ein Anstieg um mehr als 20 Prozent in zehn Jahren. Auch von Feldern, auf die mit Tierarzneimitteln belastete Gülle als Dünger ausgebracht wird, können Arzneimittelspuren in das Grundwasser gelangen. Allein im Jahr 2012 wurden rund 1.600 Tonnen Antibiotika an Tierärzte abgegeben. Zudem werden viele Arzneimittel gezielt so entwickelt, dass sie mit einer kleinen Menge Wirkstoff eine große Wirkung erzielen. In der Natur können deshalb auch kleine Wirkstoffmengen einen großen Schaden anrichten. Jetzt wird klar, warum tonnenweise Medikamente die Abwasserentsorger vor große Herausforderungen stellen. Hinzu kommt, dass selbst die technisch hervorragend ausgestatteten Kläranlagen nicht alle Inhaltsstoffe aus dem Wasser holen können. Als Reaktion müssten die Anlagen kostspielig umgebaut werden. Die Rechnung für den Umbau würde bei den Endkunden landen. Doch wäre das fair? Sollten nicht auch die Profiteure der Medikamentenflut einen Teil zur Lösung beitragen? Der BDEW unterstützt deshalb nachdrücklich die Forderung des Bundesrates, dass in Deutschland endlich das Verursacher- und Vorsorgeprinzip umgesetzt werden soll, damit auch die Pharmakonzerne ihren

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Teil zum Schutz des Wassers beitragen. So sollen sie zur Veröffentlichung von Informationen zur Abbaubarkeit und Umweltrelevanz von Arzneimitteln verpflichtet werden. Und sie sollen finanzielle Verantwortung für durch den Einsatz von Arzneimitteln entstandene Umweltschäden übernehmen. Kleinräumige Modellprojekte wie in der Schweiz sind mit Deutschland nicht vergleichbar. Was wir brauchen, ist jetzt eine „wirkliche und umfassende Arzneimittelstrategie für Deutschland“, so wie dies bereits in der EU-Richtlinie für prioritäre Substanzen vereinbart worden ist. Für Verpackungen ist das mit den Dualen Systemen schon seit vielen Jahren so und hat sich bewährt. Deshalb sollte die fachgerechte Entsorgung der Medikamente auch im Arzneimittelgesetz verankert und damit geltendes europäisches Recht umgesetzt werden. Denn als Lebensmittel Nummer eins und unabdingbare Lebensgrundlage geht Wasser jeden etwas an ‒ auch die Pharmakonzerne.

»Sollten nicht auch die Profiteure der Medikamentenflut einen Teil zur Lösung beitragen?« Martin Weyand, Mitglied der Hauptgeschäftsführung und Hauptgeschäftsführer Wasser und Abwasser beim BDEW


GRUNDWASSERQUALITÄT • MEINUNG

ndwasser: Wer soll zahlen? Die Schweiz zeigt, wie es gehen kann. Denn es dürfte kaum gelingen, die vielen Verunreinigungen ihrem jeweiligen Produzenten zuzuordnen. Von SIEGFRIED THROM

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urch die Verfeinerung der Analysetechniken ist in den letzten Jahren immer deutlicher geworden, wie viele Stoffe sich als Mikroverunreinigungen im Oberflächenwasser finden lassen. Von Menschen ausgeschiedene Arzneistoffe sind darunter, aber auch Substanzen aus Kosmetika, Waschmitteln, Landwirtschaft und Lebensmitteln. Oftmals ist die Herkunft nicht eindeutig: Östrogene können beispielsweise von Nutztierbeständen stammen, aber auch von schwangeren Frauen, Anwenderinnen der „Pille“ sowie in kleinerem Maße von uns allen, weil sie zu den natürlichen menschlichen Ausscheidungsprodukten gehören. In jedem Falle machen Arzneistoffe nur einen kleinen Prozentsatz der insgesamt gefundenen Mikroverunreinigungen im Abwasser aus. Deshalb wäre es nicht gerechtfertigt, Geldforderungen speziell an die Pharmaindustrie zu stellen und andere Sparten unberücksichtigt zu lassen. Andererseits dürfte es kaum gelingen, die vielen Mikroverunreinigungen ihren jeweiligen Produzenten zuzuordnen und die Geldforderungen an diese dann auch noch fair nach dem Grad des „Problempotenzials“ der jeweiligen Stoffe zu adjustieren. Konfrontiert mit der gleichen Problemstellung, hat sich die Bevölkerung in der Schweiz schon 2013 in einer Volksabstimmung dafür entschieden, die Kosten für die Nachrüstung von Kläranlagen bei den Einwohnern zu erheben, statt auf einem Abgabensystem für potenziell schädliche Produkte zu beharren und mangels Operationalisierbarkeit praktisch keine Abgaben eintreiben zu können. Die Schweizer kostet das seither gerade einmal neun CHF pro Einwohner und Jahr. Bereits seit 1995 wird im Rahmen des Zulassungsverfahrens auch für Humanarzneimittel eine Umweltrisikobewertung durchgeführt. Deren Weiterentwicklung sowie die Datenerhebung für Arzneistof-

fe, die vor 1995 zugelassen wurden, sind Teil einer Initiative der europäischen Pharmaindustrie im Rahmen ihres Eco-Pharmaco-Stewardship-Programms, das 2015 begonnen wurde. Die forschenden Pharmaunternehmen wirken seit einigen Jahren bei der geforderten Minimierung des Eintrags von Arzneistoffen in die Umwelt in vielfältiger Weise mit. Dazu entwickeln sie Wirkstoffpflaster, Implantate und Retardformen, die mit geringeren Wirkstoffmengen auskommen. Neue Impfstoffe schützen vor Infektionen, die andernfalls medikamentös behandelt werden müssten. Vor allem aber enthält ein wachsender Anteil neuer Medikamente proteinbasierte Wirkstoffe wie beispielsweise Antikörper, die gut biologisch abbaubar sind.

»Es wäre nicht gerechtfertigt, Geldforderungen speziell an die Pharmaindustrie zu stellen.«

Dr. Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung/Entwicklung/ Innovation des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (vfa)

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UNTERNEHMERGEIST • STADT DER ZUKUNFT

Individuell wie ein Anzug vom Schneider Smart Energy City: Nachhaltigkeit wird zum Geschäftsmodell. Die Energieunternehmen der Zukunft entwickeln für jede Kommune eigene Lösungen. Sie werden zu Providern. Von RALF MIELKE

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STADT DER ZUKUNFT • UNTERNEHMERGEIST

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Foto: Vincent Callebaut/Lead Archibiotect

Das Pariser Architekturbüro Vincent Callebaut entwirft smarte Büro- und Wohnbauten für die Stadt der Zukunft.

mfrage auf dem Berliner Alexanderplatz: Wie sieht die Stadt der Zukunft aus? Die Antworten der Passanten verdichten die Wissenschaftler der Fraunhofer-Gesellschaft zu einem klaren Bild. Die Stadt der Zukunft ist energieeffizient, klimaneutral, nachhaltig und digital vernetzt: Sie ist smart. „Smart City ist das Buzzword unter den Stadtentwicklern“, sagt denn auch Franz-Reinhard Habbel vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. Freilich verstehe jede Kommune etwas anderes darunter oder setze andere Schwerpunkte. Zwei zen­ trale Fragen kristallisieren sich heraus: Wie wird die Energieversorgung gewährleistet? Wie wird innerstädtische Mobilität organisiert? Ausgangspunkt aller Smart-City-Konzepte sei die Digitalisierung, sagt Habbel. Erst die Digitaltechnologie ermögliche die Steuerung einer dezentralen Energieerzeugung, von Verbräuchen und Verkehrsbewegungen. „Jede Kommune braucht eine digitale Agenda“, konstatiert Habbel. Die Smart City steht auf einem digitalen Fundament. Die Realität 2016 kann manchmal noch nervend sein. Zum Beispiel für Fahrer herkömmlicher Pkw auf der Suche nach einem Parkplatz in ihrem Berliner Kiez. Dann weicht die Freude über einen freien Streifen am Straßenrand immer öfter der Ernüchterung: Der vermeintliche Parkplatz entpuppt sich als Ladestation für Elektroautos. 420 dieser E-Tankstellen will das Unternehmen Allego, eine Tochter des niederländischen Gas- und Stromnetzbetreibers Alliander, bis Oktober dieses Jahres im Auftrag des Berliner Senats aufstellen. Ende 2020 sollen es mehr als 1.000 sein. Kosten für die Stadt: 6,5 Millionen Euro. Die Ladesäulen sollen den Anteil von E-Mobilität in der Hauptstadt steigern und mithelfen, die hochgesteckten Klimaziele der größten deutschen Metropole zu erreichen. Bis 2050 will Berlin zur klimaneutralen Stadt werden, der Ausstoß von klimaschädlichem CO2 soll von derzeit rund 21 Millionen Tonnen pro Jahr auf 4,4 Millionen sinken. Ein guter Plan soweit. PAUSCHAL VERSUS INDIVIDUELL Die E-Tankstellen sind ein Mosaikstein in dem Gebilde, das unter dem Label Smart City in Berlin entsteht – wie auch in etlichen anderen deutschen Städten. In der smarten Kommune der Zukunft wird Energie künftig durch erneuerbare Energieträger erzeugt. Intelligente Speicher wissen, wer wann wo

Energie benötigt, und stellen sie im richtigen Maße zur Verfügung. In Häusern, die statt Energie zu verbrauchen Energie bereitstellen, leben und arbeiten Menschen, die mithilfe von Smartphone-Apps verknüpfte Verkehrssysteme für die Fortbewegung nutzen. Im günstigsten Fall geschieht dies zum Nutzen aller Bürger – bezahlbar, komfortabel und transparent. An dieser Stelle kommt die Energiewirtschaft ins Spiel: Am Rande einer Energiekonferenz in Berlin sagt E.ON-Sprecher Markus Nitschke den für einen Energieversorger erstaunlichen Satz: „Künftig werden wir mehr an einer eingesparten Kilowattstunde verdienen als an einer verbrauchten.“ Und entwirft rund um Erneuerbare Energien und Energieeffizienz, um intelligente Netze und smarte Speicher das Bild eines modernen Energiedienstleisters, der „die Energiewende in den Städten“ mitgestalten will. „Nachhaltigkeit ist ein Geschäftsmodell“, sagt Nitschke. In das der Konzern investiert, zum Beispiel im brandenburgischen Falkenhagen. Dort betreibt E.ON eine Power‑to‑Gas-Pilotanlage. Die Technologie zählt zu den vielversprechenden Ansätzen für smarte Energiespeicher. „Die Energieunternehmen der Zukunft entwickeln für jede Kommune eigene Lösungen“, sagt Nitschke. Von der Stange, das sei von gestern. Heute brauche es maßgeschneiderte Angebote. „Individuell wie ein Anzug vom Schneidermeister!“ KLEINE STÄDTE IM VORTEIL Smart ist dabei keine Erfindung der Metropolen. Im Gegenteil: Kleinere Städte können viel schneller und umfassender intelligente Lösungen für Energie und Verkehr, aber auch für E-Government einführen, sagt Franz-Reinhard Habbel vom Städteund Gemeindebund. Vor allem, wenn sie ihre lokalen Stadtwerke einbeziehen. „Die sind oftmals beweglicher als ihre großen Schwestern in den Ballungszentren“, so Habbel. Sie seien die wirklichen Antreiber der smarten Bewegung. „Stadtwerke werden zu Providern“, sagt Habbel voraus. Neben den klassischen Versorgungsaufgaben würden sie künftig auch die Funktion eines Datenspeichers und Informationsdienstleisters im Energiebereich übernehmen. Innovationskraft außerhalb der Me­ tropolen, dafür steht das Beispiel Freiburg: mit 220.000 Einwohnern nicht gerade eine Kleinstadt, aber doch mit überschaubaren Strukturen und einer BevölkerungsSTREITFRAGEN

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UNTERNEHMERGEIST • STADT DER ZUKUNFT

dichte, die deutlich unter jener von Stuttgart, Mannheim und Karlsruhe liegt, den anderen baden-württembergischen Großstädten. Freiburger weisen gerne darauf hin, dass sie schon Mitte der 1970er-Jahre den Bau eines Kernkraftwerks in der Nähe verhindert haben. Sie sehen darin die Geburtsstunde ihrer Green City. Später rückten dann Klimaschutz und Ressourcenschonung in den Mittelpunkt der kommunalen Politik. In den 90er‑Jahren entstanden zwei neue Stadtquartiere mit Passiv- und Plusenergiegebäuden, dezentraler Energieversorgung, teils autofrei. Beinahe 3.000 private Solaranlagen wurden seitdem installiert. Sogar die Profifußballer des SC Freiburg beziehen die Energie für ihre Duschen aus Sonnenenergie. Gleichzeitig schuf Freiburg die Bedingungen für die Ansiedlung von Betrieben aus dem Energiesektor. Das 2009 gegründete Cluster Green City Freiburg vertritt inzwischen die Aktivitäten von mehr als 150 Unternehmen aus der Solar- und Umweltwirtschaft. Heute arbeiten nach Angaben der Stadt 12.000 Menschen im Bereich Umweltwirtschaft und -wissenschaft und

erwirtschaften dabei rund 650 Millionen Euro pro Jahr. Die Stadt spricht vom Freiburger Mix und vielleicht ist das das Erfolgsrezept: dass Freiburg, lange bevor alle Welt von Vernetzung sprach und damit vor allem die digitale meinte, auf die Vernetzung der verschiedenen Akteure aus Bürgerschaft, Wirtschaft und Wissenschaft setzte. Die Liste der Projekte ist lang; eine Anlage zum Speichern von Bremsstrom von Straßenbahnen ist darunter, die größte Biogasanlage des Landes Baden-Württemberg und auch ein Kunstdepot, das mehr Energie erzeugt, als es verbraucht. Nun will die grüne Stadt richtig smart werden. „Es geht darum, Kommunikationsund IT-Technologie so zu nutzen, dass bestehende Strukturen effizienter werden“, sagt Peter Majer, Bereichsleiter Innovation beim Energieversorger Badenova, Partner der Stadt Freiburg nicht nur bei diesen Projekten. Vor allem das Vorhaben Green Industriepark gestaltet sich kompliziert. Das Projekt habe bisher drei Jahre Arbeit gekostet und einen sechsstelligen Geldbetrag, sagt Majer, allein um die Fördergelder

Green City Freiburg Freiburg fördert die Entwicklung und den Wissenstransfer rund um Erneuerbare Energien, Nachhaltigkeit, Energieeffizienz, Planen und Bauen sowie Umwelttechnologie. Dabei wird die Region miteinbezogen.

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zu erhalten. Die seien zwar bewilligt, aber immer noch nicht ausgeschüttet. Unternehmen drohen deshalb abzuspringen. „Es fehlt nicht an Ideen“, sagt Majer, „sondern an Geld, sie umzusetzen.“ Eine Kommune könne so etwas nicht alleine stemmen. Badenova hat deshalb einen Innovationsfonds aufgelegt. 1,6 Millionen Euro aus dem jährlich erzielten Gewinn stellt das Unternehmen für Projekte im Klima- und Wasserschutz zur Verfügung. Weil es nicht alleine zu stemmen ist, hat Köln sich aufgemacht, Leuchtturmstadt des EU-Projekts GrowSmarter zu werden. Die Stadt hat mit seinen Partnern, darunter der Energieversorger RheinEnergie, neben Stockholm und Barcelona im Oktober 2014 den Zuschlag erhalten. Für GrowSmarter wird die Stegerwaldsiedlung in Köln-Mülheim in ein modernes Modellquartier umgebaut. Im Idealfall, so heißt es vonseiten der Stadt, „entsteht eine Blaupause, welche dann auch in anderen Stadtbezirken in Köln Anwendung finden kann“. Die Stegerwaldsiedlung ist das älteste Nachkriegsquartier in Köln, errichtet zwischen 1951 und 1956 als Wohngebiet für die Industriearbeiter aus Deutz und Mülheim. Das Viertel ist alles andere als hip, die Stadt spricht von einer verschärften sozialen Lage, Geschäftsflächen stehen leer. All das soll sich ändern. Nach und nach werden die Gebäude energetisch saniert, die Energieversorgung mittels Photovoltaik und


STADT DER ZUKUNFT • UNTERNEHMERGEIST

Das Fraunhofer Informationsnetzwerk forscht an der Stadt von morgen: In Smart Cities tauschen Haushalte und Energieversorger für den Verbraucher transparent Daten und fördern so einen bewussten Stromverbrauch.

sagt Britta Havemann von der Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung über die Rolle der Branche in den Smart Cities. Sie verweist auf das Projekt WindNODE, für das sich Technologieunternehmen, Stromerzeuger und Netzbetreiber in Nordostdeutschland zusammengeschlossen haben, um Energien auf integrierte Weise zu erzeugen, zu verbrauchen und zu speichern – und dabei mit Energienutzern intelligent zu kooperieren. Ziel ist es, dass die „Systemteilnehmer über ein ,Internet der Energie‘ in annähernd Echtzeit miteinander kommunizieren“, heißt es auf der Webseite. Das Land Berlin hat im vergangenen Jahr eine Smart-City-Strategie verabschiedet, eine mehr als 40 Seiten starke Absichtserklärung, die neben den grünen Aspekten wie Ressourcenschonung, Energieeffizienz und Klimaneutralität auch die Bereiche Sicherung der Daseinsvorsorge, transparente Entscheidungskultur und die „Minderung negativer Begleiterscheinungen des Lebens in der urbanen Dichte“ (stressbedingte Krankheitsformen, Beeinträchtigungen des Sicherheitsgefühls) umfasst. Mit der Entwicklung konkreter Umsetzungen will der Senat in diesen Wochen beginnen.

DELPHI

BÜRGER GESTALTEN STÄDTE Die Umwandlung bestehender Quartiere in smarte Stadtviertel könnte ein Königsweg sein. So sehen es jedenfalls die Wissenschaftler am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu). „Es ist immer besser, Bestehendes Schritt für Schritt zu verbessern, statt lauter Show Cases zu produzieren“, sagt Dr. Jens Libbe, Bereichsleiter In­frastruktur und Finanzen beim Difu. Es gehe darum, die smarte Stadt nah

die Verknüpfung von Mobilitätssystemen, durch Parkleitsysteme, die den Parksuchverkehr verringern, durch das Zusammenführen von Sektoren. Wie kann zum Beispiel dezentral aus Abfall neue Energie gewonnen werden? Welche Wege gibt es, Energie in Autobatterien zu speichern? Libbe sagt: „Bisher wird Smart City zu oft noch als Aufgabe der Wirtschaftsförderer begriffen.“ Dabei begünstige die Digitalisierung neue Formen der Stadtentwicklung: „Bürger gestalten Städte“, sagt Libbe. „Da ist etwas in Gang gekommen, das von unten nach oben wächst.“ Die Städte dürften sich das nicht aus der Hand nehmen lassen. Die Frage sei, welche technischen Lösungen wirklich nachhaltig seien und keine hohen Folgekosten für die Kommunen mit sich brächten. „Es wird spannend zu sehen sein, wie sich die Energieversorger positionieren“,

EL PH I Stud

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intelligenten Speichern dezentral. Ein virtuelles Kraftwerk wird die Energieströme steuern, die Bewohner sollen künftig dank Smart Meter ihren Energieverbrauch kontrollieren. Der Verkehr in der Stegerwaldsiedlung soll durch E-Mobility geprägt sein. Ladestationen für Elektrofahrzeuge an sogenannten Mobilitätshubs sollen dazu beitragen. Bis 2020 fließen dafür EU-Mittel in Höhe von 7,3 Millionen Euro an das Kölner GrowSmarter-Konsortium.

Lesen Sie dazu an den Bedürfnissen der Menschen in ihrem auch die unmittelbaren Umfeld zu entwickeln: durch Studie DELPHI

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Fotos: Regionalcluster Freiburg Green City–FWTM, LAVA (Laboratory for Visionary Architecture)

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RALF MIELKE ist Redakteur bei C3. Davor war er bei der Berliner Zeitung und hat über Medien­ themen geschrieben.

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DELPHI-Studie 65 Prozent gehen davon aus, dass im Jahr 2040 hocheffiziente „Sustainable Cities“ entstanden sind, die ihren Energiebedarf durch Prosuming in intelligenten Micro Grids decken.  www.delphi-energy-future.com

STREITFRAGEN

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MYTHENCHECK • REBOUND-EFFEKT

Führen energiesparende Geräte zu einem höheren Verbrauch?

der Rebound-effekt Gesparte Energie ist gespartes Geld. Das kann man auch wieder ausgeben. Was passieren kann, wenn ein reduzierter Energieverbrauch zu Konsumsteigerungen führt. Von Y VONNE SCHRÖDER

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Foto: imago

as Engagement hat einen Namen: Energieeffizienz. Ganz oben steht sie auf der Klimaschutz-Agenda der Politik, die sie damit zur grundlegenden Voraussetzung für eine erfolgreiche Energiewende auserkoren hat. Industrie und Dienstleister bringen immer mehr Produkte und Dienstleistungen auf den Markt, die immer weniger Energie verbrauchen. Die Umwelt wird geschont und die Kosten pro Haushalt sinken. Es sieht nach einer Win-win-Situation aus: Wirtschaftswachstum und ein nachhaltiger Umgang mit Ressourcen gehen Hand in Hand. Es wird ja weniger Energie verbraucht. Eigentlich. Die LED-Lampe zum Beispiel verbraucht bis zu 80 Prozent weniger Energie als die alte Glühlampe. Da kann das Licht dann schon mal länger an bleiben. Und der neue Kühlschrank der Energieeffizienzklasse A+++ verbraucht auch mit einem größeren Eisfach immer noch weniger Strom als das Vorgängermodell. Die Kosten, die so eingespart werden, können jetzt an anderer Stelle ausgegeben werden – für ein weiteres neues Küchengerät oder einen Wochenendtrip nach London oder Barcelona.

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SPAREFFEKT LÖST SICH AUF Dieses Phänomen wird als Rebound, als Abprall bezeichnet: Energieeffiziente Produkte und Dienstleistungen heizen den Konsum an, STREITFRAGEN — Juni 2016


EL PH I Stud REBOUND-EFFEKT • MYTHENCHECK

ein thema in der

DELPHI-Studie 48 Prozent glauben, dass im Jahr 2040 durch stark verbreitete Komfortlösungen für private Haushalte der Energieverbrauch erheblich gestiegen sein wird.  www.delphi-energy-future.com

Energie gespart, noch ein Gerät gekauft: Ansturm auf einen Media Markt

was zu einem steigenden Energieverbrauch führt. Die Folge: Die erwarteten Einsparungen werden nur zum Teil oder überhaupt nicht erreicht. „In einigen Fällen kann die Effizienzsteigerung sogar zu erhöhtem Verbrauch führen. Ein Rebound-Effekt von über 100 Prozent wird als Backfire, also als ein Rückschlag bezeichnet“, erklärt Reinhard Madlener, Professor für Energieökonomik an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Das Beispiel der Energiesparlampe, die nun länger brennen bleibt, beschreibt einen direkten Rebound: Mit der Effizienzsteigerung tritt eine unmittelbare Veränderung bei der Nutzung des betreffenden Produkts auf. Von einem indirekten Rebound spricht man, wenn die vermeintlich eingesparten Kosten für andere Dinge ausgegeben werden. „Energiesparende Technik beruhigt unser Gewissen“, sagt Madlener. „Eine Energiesparlampe ausnahmsweise einmal länger brennen zu lassen, ist okay.“ Zum Problem wird es erst dann, wenn sie jetzt ständig länger an ist als früher die herkömmliche Glühlampe. „Denn sonst wird am Ende vielleicht mehr Strom verbraucht als vorher.“ MEHR IST TROTZDEM WENIGER Die Sozialpsychologen erklären dieses Phänomen so: Der Konsument nimmt die erhöhte Effizienz eines Produkts wahr, etwa durch das Einsparungsversprechen der Produkthersteller. Er hat aber keine genaue Vorstellung von den tatsächlichen Kosten, die ein Gerät verursacht. Es ist ein subjektives Preisempfinden. Deswegen spricht man auch von einem mentalen Rebound. Ein Beispiel: 2011 haben Wissenschaftler des Tokyo Institute of Technology in Japan eine empirische Untersuchung zum Verhalten von Autofahrern durchgeführt, die sich ein umweltfreundliches Hybrid-Modell gekauft hatten. Das Ergebnis: Diejenigen, die sich ein ökologisches Auto, zum Beispiel einen Toyota Prius, zugelegt STREITFRAGEN

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MYTHENCHECK • REBOUND-EFFEKT

Fotos: dpa Picture‑Alliance, plainpicture

hatten, waren ein Jahr nach dem Kauf gut 1,6‑mal mehr Kilometer gefahren als mit dem benzinbetriebenen Pkw zuvor. Die Motivation, energiesparend zu handeln, wird durch die Zusage, dass die neuen Produkte Energie sparen, gemindert. „Jetzt, da ich ein Öko-Auto fahre, kann ich auch richtig, also mehr fahren. Immerhin verbraucht es jetzt nicht nur weniger, es ist ja auch umweltfreundlich.“ Das schlechte Gefühl beim Energieverbrauchen wird durch ein gutes ersetzt. Weniger Auto fahren, Licht ausschalten oder auch Fenster schließen sind Aktionen, die nun unter Umständen vernachlässigt oder aufgegeben werden. Sie sind nicht mehr ökonomisch und auch nicht ökologisch wichtig. Die stärkere Nutzung der Erneuerbaren Energien verschärft diesen Effekt. Die neue Energie ist vermeintlich billig, eigentlich immer verfügbar und umweltfreundlich und daher zu 100 Prozent moralisch unbedenklich. Was also spricht dagegen, mehr davon zu konsumieren? „Was einst als schädlich gebrandmarkt wurde, wird nun ökologisch vertretbar. Und dann umso häufiger gekauft“, schrieb der Ökonom Tilman Santarius 2012 in der Fachzeitschrift „Politische Ökologie“. „Zudem zeigen etliche empirische Studien, dass der Konsum ethischer Produkte dazu führen kann, dass Konsumenten es anschließend für gerechtfertigt halten, an anderer Stelle unethisch zu konsumieren. Das dürfte auch für energieeffizientere Produkte gelten. Menschen, die ein Hybrid-Auto erworben haben, könnten es nun für gerechtfertigt erachten, öfter mal mit dem Billig-Flieger zum Brunchen nach Berlin zu jetten.“

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SCHUB DURCH NEUE GERÄTE Wie hat sich nun der Stromverbrauch im Haushalt in den vergangenen Jahren konkret entwickelt? Ein Blick in die Statistiken verrät, dass der Gesamtstromverbrauch der Haushalte nur bis 2006 gestiegen ist. Seitdem nimmt er Jahr für Jahr leicht ab. Die Gründe für diese Entwicklung sind darin zu suchen, dass vor allem Haushaltsgroßgeräte wie Waschmaschinen oder Kühlschränke in den vergangenen Jahren immer effizienter geworden sind. In diesem Bereich sind die Einsparpotenziale besonders hoch, wie ein Beispiel zeigt: Eine Kühl-Gefrierkombination der besten Energielabelklasse A+++ verbraucht rund 70 Prozent weniger Strom als ein vergleichbares Gerät aus dem Jahr 2000. Der Stromspareffekt bei der Weißen Ware STREITFRAGEN — Juni 2016

Die Aufnahme ist von 1960. Heute stehen nicht weniger Geräte in deutschen Haushalten. Und es kommen immer mehr dazu.

wird aber durch einen gegenläufigen Trend konterkariert. Denn parallel zu den effizienten Kühlschränken und Waschmaschinen hat die Anzahl an Geräten der Informations-, Kommunikations- und Unterhaltungselektronik in den Haushalten stark zugenommen. Die Rede ist von Handys, Tablets, Spielekonsolen, Modems, Flachbildfernsehern, Druckern: Die Liste ließe sich weiter fortsetzen. Der Verbrauch dieser Neuankömmlinge ist seit den 1990er‑Jahren stark gestiegen. Auf sie entfällt mittlerweile ein Viertel des Stromverbrauchs im Haushalt. Die Geräte werden zudem größer und leistungsfähiger. Ein Beispiel für die rasante Entwicklung im Markt der Unterhaltungselektronik ist der Fernseher: Seit 2000 wurden Röhrengeräte fast komplett durch Flachbildschirmgeräte ersetzt. Zudem geht der Trend in Richtung immer größerer Modelle. So ist ein größerer Bildschirm laut Umfragen der meistgenannte Grund für die Neuanschaffung eines Fernsehers. Anders als bei Weißer Ware scheint


REBOUND-EFFEKT • MYTHENCHECK

ABSATZ VON WEISSER WARE STEIGT Elektrische Haushaltsgeräte mit hohen Energieeffizi‑ enzstandards weisen herausragende Zuwachsraten auf. Beispielsweise stieg der Marktanteil energieef‑ fizienter Kühlschränke von 2010 bis 2011 von 28,6 Prozent auf 38,2 Prozent an. (Die Basis bildet eine Studie des Schweizer Instituts INFRAS im Auftrag des Umweltbundesamtes.)

das Bewusstsein für den Stromverbrauch dieser Geräte bei den Bürgern noch nicht stark ausgeprägt zu sein. Experten sind sich einig: Im Unterschied zu Haushaltsgeräten wird der Stromverbrauch von Geräten der Informations- und Kommunikationstechnik noch immer unterschätzt. So ist vielen Verbrauchern gar nicht bewusst, dass diese Geräte nicht nur während der Nutzung, sondern auch im Stand-by-Modus Energie verbrauchen – und die Stromrechnung steigen lassen. FORSCHUNGSOBJEKT REBOUND Das Ergebnis einer Studie im Auftrag der Europäischen Kommission zeigt auf, dass Rebound-Effekte zwischen zehn und 80 Prozent der ursprünglichen Energieeinsparung zunichte machen können. Genaue Zahlen gibt es derzeit nicht. Volkswirtschaftler Stephan Bruns von der Universität Kassel will das nun ändern und handfeste Daten liefern. Das hat er sich mit einem Rebound-Forschungsprojekt zur Aufgabe gemacht. „Was uns interessiert, ist, wie die Energieeffizienz die Energienachfrage auf gesamtwirtschaftlicher Ebene beeinflusst.“ Das sei schwierig zu erkennen, weil die Energienachfrage auch von vielen an-

Wenn ein Drink wenig Kalorien hat, dann kann man ruhig zwei Gläser nehmen.

deren Faktoren beeinflusst werde, wie zum Beispiel dem Energiepreis. „Die Verbilligung von Energie und Rohstoffen ist die wirksamste Einladung zu immer mehr Ressourcenkonsum, also dem Rebound-Effekt“, sagt Professor Ernst Ulrich von Weizsäcker. Der ehemalige Direktor des Instituts für Europäische Umweltpolitik in Bonn hat zusammen mit Co-Autoren das Buch „Faktor 5“ geschrieben. Dort wird erklärt, wie die Ressourcenpreise (auch für Energie) in den vergangenen 200 Jahren immer weiter gesunken sind. „Effizienz alleine löst kein ökologisches Problem.“ Tatsächlich lassen sich Zusammenhänge zwischen frei verfügbarem Einkommen und den Kosten für Energie nachweisen. Eine Studie zur Umweltpolitik und sozialen Gerechtigkeit im Auftrag des Umweltbundesamtes aus dem Jahre 2008 zeigt, dass Geringverdiener die wahren Energiesparer sind: Sie haben kleinere Wohnungen, weniger Autos, fliegen seltener in den Urlaub und müssen sich bei Anschaffungen eher zurückhalten. Das bestätigen auch aktuelle Analysen: Der Stromverbrauch im Osten Deutschlands war im vergangenen Jahr rund acht Prozent niedriger als in den alten Bundesländern. Als Hauptursachen dafür werden höhere Strompreise in diesen Regionen sowie eine um 17 Prozent geringere Kaufkraft als in den alten Bundesländern genannt. „Energiesparen fängt bei jedem einzelnen an“, sagt Reinhard Madlener. „Ein Umdenken funktioniert aber meist nicht, wenn es von der Politik verordnet wird. Das muss aus eigener Überzeugung durch Änderung der Werte und Haltung passieren. Jeder sollte sich einfach einmal die Frage stellen: Wie könnte ich mit etwas weniger Ressourcenverbrauch gleich glücklich sein?“ Diese Überlegung greift auch eine neue App auf, die von dem US-amerikanischen Unternehmen Opower entwickelt wurde. Damit können Verbraucher spielerisch und mit Spaß im Alltag Energie sparen. Als Anreiz können die Nutzer über Ranglisten miteinander in den Wettbewerb treten. Wer besonders viel einspart, wird belohnt. Die schönste Belohnung ist dann aber für die meisten die Energierechnung am Ende des Jahres. Das wäre eine wirksame Vertriebsstrategie für die Energieversorger und eine Win-win-Situation: für die Verbraucher und die Umwelt. YVONNE SCHRÖDER ist Senior Editor bei C3 und Expertin für Energiethemen.

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KUNDENDIENST • SMART METER

Die Tage der alten Stromzähler in Deutschland sind gezählt. Ab 2020 bekommen die ersten Kunden intelligente Smart Meter eingebaut.

Wiertsollte ein t u o l l o R r e t e Sma -M im Idealfall aussehen?

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Foto: Ragnar Schmuck, Shutterstock

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ls Kunde bin ich tatsächlich ge- feranten zu tun hat. Das ist aber nicht der eine gewisse Herausforderung. Die neuen spannt, was ich mir als Netzbe- Fall. Der Gesetzgeber hat vorgesehen, dass Geräte werden also eingebaut, aber es gibt treiber schreiben werde. Denn der Kunde es mit einem weiteren Mitspieler noch keinen Zusatznutzen. Das ist fast wie ich habe viele Fragen: Was be- zu tun hat, nämlich dem Messstellenbe- das Henne-Ei-Problem. Wenn noch keikomme ich für ein Gerät und treiber. Einer liefert und der andere misst ne Vertriebsprodukte da sind, kann man was kann das? Bekomme ich nur den Verbrauch. Das ist vielleicht mit ei- sie nicht mit den neuen Geräten nutzen, das moderne Gerät oder auch das intelli- nem Smartphone vergleichbar. Man kauft die neuen Vertriebsprodukte werden aber gente? Und wodurch unterscheiden sich die das Gerät eines Herstellers seiner Wahl nicht entwickelt, wenn die Geräte nicht beiden eigentlich? Dann mache ich mir als und die Apps kann man aus einem Store eingebaut sind. Apps wurden aber auch Kunde auch darüber Gedanken, welchen herunterladen. erst entwickelt, nachdem die Smartphones Mehrwert ich durch dieses Gerät habe. Das Wenn wir ein Gerät beim Kunden ein- da waren – und das ziemlich rasant. sind alles Fragen, die wir als Netzbetreiber bauen, müssen wir als Netzbetreiber naIch möchte als Kunde auch gerne wissen, beantworten müssen. Wir müssen aus der türlich darauf hinweisen, dass er sich statt welche Daten aus meinem Haushalt herausBrille des Kunden schauen und nicht aus uns auch einen anderen auswählen kann. gehen, und da werden wir als Netzbetreider Brille des Netzbetreibers. Dazu sind wir gesetzlich verpflichtet. Dann ber stärker informieren müssen als heute, Das Gesetz sieht den Einbau zweier Zäh- sollten wir den Nutzen des Geräts erklären. wer alles die Daten nutzen wird oder wann lerarten vor: einer modernen und wie die Daten überhaupt abMesseinrichtung und eines intelgerufen werden. Und ich wünWir müssen also aus der Brille des Kunden schauen sche mir auch regelmäßig einen ligenten Messsystems. Welcher Kunde was bekommt, misst sich Bericht, vielleicht per E‑Mail, und nicht aus der Brille des Netzbetreibers. am Verbrauch. Wer unter 6.000 welche Daten von meinem ZähKilowattstunden verbraucht, beler abgerufen worden sind und kommt die moderne Messeinrichtung, wer Etwa, wie man damit seinen Energiever- wann und wer die bekommen hat. Es kann darüber liegt das intelligente Messsystem. brauch leichter und besser erkennen und sein, dass ich dem Vertrieb XY die ErlaubEs gibt also eine einfache Variante und eine Energieeinsparmöglichkeiten erschließen nis gegeben habe, meine Daten zu sehen, aufwendigere. Und ich kann aufrüsten. Es kann. Da stellt sich für mich die span- weil ich mit ihm einen Vertrag abschließen handelt sich um ein Bausteinsystem. Die nende Frage, wie der jeweilige Kunde mit wollte. Aber ich möchte nicht, dass er das Kunden erhalten zunächst den Baustein, „seinem“ Smart Meter umgeht. Das eine auf ewig sieht. Das möchte ich doch schon der für ihren Verbrauch – jedenfalls theo- Gerät ist „nur“ eine moderne Messein- gerne als Kunde in der Hand haben. Aber retisch – optimal ist. Die moderne Messein- richtung, die elektronisch zählt und die die Gefahr, dass man ausspioniert wird, richtung wird ungefähr 50 Cent pro Monat auch den historischen Verbrauch darlegen geht gegen null. Denn mit den technischen mehr kosten. Das intelligente Messsystem kann, und das andere ist eine „intelligente“ Maßgaben, die tatsächlich umgesetzt werfünf, sechs Euro im Monat mehr. Messeinrichtung, die auch den Verbrauch den, ist das nicht realisierbar. Wenn es soweit ist, bekommt der Kun- elek­t ronisch übermittelt, den man im InAuf jeden Fall ist die Umstellung auf de ein Angebot von seinem Netzbetreiber. ternet oder auf einer Plattform darstellen Smart Meter ein großer Schritt. Wir müsDas wird zunächst verwirren. Denn wer kann. Dazu braucht es natürlich auch Apps sen als Netzbetreiber darüber aufklären, nicht vom Fach ist, geht davon aus, dass und neue Vertriebsprodukte. Aber so weit dass durch diese Modernisierung Dinge der Smart Meter was mit dem Energielie- ist die Branche noch nicht. Und darin liegt möglich werden, die wir im Energiesystem


SMART METER • KUNDENDIENST

der Zukunft brauchen. Denn es wird viele verschiedene Energielebensformen geben. Und dafür brauchen wir spezielle Konzepte, wie gemessen und abgerechnet werden soll. Mit einer zunehmenden dezentralen Energieversorgung werden verschiedene – heute noch gar nicht bekannte – Konzepte der Energieerzeugung, des -verbrauchs und des -austauschs entstehen und damit auch die Notwendigkeit, das zu messen. Wir müssen also genau wissen, was vor Ort passiert. Daher ist meine Prognose, dass die Verteilnetzbetreiber hier auch in Zukunft eine erhebliche Rolle einnehmen müssen, diese Daten aufzunehmen und auch diese Konzepte mit zu begleiten. Dezentrale Energieversorgung heißt dezentrale Energiekonzepte, also vom Verteilnetzbetreiber durchgeführte Messungen und Bilanzierungen. Wir werden irgendwann eine große Vielfalt an Tarifstrukturen haben. Vielleicht gibt es sogar einen Geburtstags‑Stromtarif, bei dem man an seinem Geburtstag nichts bezahlen muss. Mit dem herkömmlichen alten Zähler wäre das nicht machbar. Mit dem neuen sind diese – vielleicht heute noch verrückten, aber morgen ganz normalen – Ideen umsetzbar.

Erik Landeck möchte auf jeden Fall wissen, welche Daten sein Smart Meter sendet.

DR. ERIK LANDECK ist Geschäftsführer der Stromnetz Berlin GmbH und der Vattenfall Europe Netzservice GmbH.

 Mehr zu diesem Thema auf streitfragen.de/impulse

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1965 An Bord von Raumfähren sollten Brennstoffzellen dabei helfen, Energie zu erzeugen sowie Trinkund Kßhlwasser herzustellen.


BRENNSTOFFZELLE • ZEITREISE

Wasser ist die Kohle der Zukunft, aber ... ... seit ihrer Erfindung vor rund 180 Jahren wird die Brennstoffzelle mit Hoffnungen versehen, die sie nie einlösen konnte. Steht jetzt der Durchbruch bevor? Von MARC LÜT TGEMANN

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Foto: NASA; Illustration: C3 Visual Lab

uch wer den Chemieunterricht nur noch blass in Erinnerung hat, wird mit dieser Formel etwas anfangen können: 2 H2 + O2 -> 2 H2O. Man nimmt Wasserstoff (H), lässt ihn mit Sauerstoff (O) reagieren und erhält Wasser (H 2 O). Weil diese Reaktion exotherm ist, wird dabei Energie frei – Energie, die zum Antrieb von Maschinen verwendet werden kann. Klingt bestechend einfach, dieses Prinzip der Brennstoffzelle, weshalb sie vom Zeitpunkt ihrer Erfindung an bis heute mit großen Hoffnungen versehen – und manchmal vielleicht auch überfrachtet – war und ist. Aber der Reihe nach. DIE ERFINDER Die Brennstoffzelle hat zwei Väter. Entdecker ihres grundlegenden Prinzips ist der deutsch-schweizerische Chemiker Christian Friedrich Schönbein. Bei einem Versuch ließ er im Jahr 1838 Platindrähte in einer Elek­ trolytlösung mit Wasserstoff und Sauerstoff umspülen. Zwischen diesen Drähten konnte er Spannung messen und wusste so: Es wurde Energie erzeugt. Schönbein veröffentlichte seine Ergebnisse 1839, der walisische Chemiker Sir William Robert Grove las sie und begann einen Briefwechsel mit Schönbein zu dem Thema. Auf Grundlage dieses Austauschs forschte er weiter und entwickelte schließlich die Variante einer galvanischen Zelle, in der das Brennstoffzellenprinzip zur stetigen Energieerzeugung angewendet werden kann. Der Anfang war gemacht.

DIE VISIONEN Das 19. Jahrhundert war eine Zeit kühnen Fortschrittsglaubens und damit auch eine für Utopisten und Visionäre. Einer der bekanntesten ist der Franzose Jules Verne, Jahrgang 1828, der die Welt bis heute mit fantastisch anmutenden Science-Fiction-

Romanen fasziniert. Seine Protagonisten ließ er zum Mittelpunkt der Erde reisen und um den Mond, 20.000 Meilen unter das Meer und in 80 Tagen um die Welt. Auch zum Prinzip der Brennstoffzelle hatte Verne etwas zu sagen und ließ den Ingenieur Cyrus Smith in „Die geheimnisvolle

SO FUNKTIONIERT DIE BRENNSTOFFZELLE Wasserstoffatome WasserstoffProton Sauerstoff Elektron

E-Motor

Ähnlich wie Batterien produzieren Brennstoffzellen Gleichstrom bei niedriger Spannung. Eine Batterie verbraucht zur Stromerzeugung einen chemischen Stoff, der in dem Zellenblock selbst enthalten ist. Bei den Brennstoffzellen dagegen wird der Brennstoff dem Zellenblock kontinuierlich zugeführt, ähnlich wie Benzin- oder Dieselkraftstoff bei einem Verbrennungsmotor.

Wasserstoffgas

warmes Wasser Anode

Membran

Kathode

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ZEITREISE • BRENNSTOFFZELLE

DIE WANDELVOLLE GESCHICHTE EINER TECHNOLOGIE

1896 Der Amerikaner William Jacques entwickelt die erste Brennstoffzelle für den Haushalt. 1921 Emil Baur, Schweizer Professor für physikalische Chemie, konstruiert die erste Schmelzkarbonat-Brennstoffzelle. 1939 Der englische Ingenieur Francis Thomas Bacon vollendet 1939 eine Brennstoffzelle, die Nickelnetz­elektroden nutzt und unter Hochdruck betrieben werden kann. 1958 Francis Thomas Bacon stellt die alkalische Brennstoffzelle vor, in der er Elektroden mit einem Durchmesser von zehn Zoll in einem Stapel angeordnet hatte. 1959 Der US-amerikanische Maschinenbaukonzern Allis-Chalmers präsentiert mit einem brennstoffzellenbetriebenen Traktor das weltweit erste größere Fahrzeug, das mit dieser Antriebstechnologie ausgestattet ist. 1979 In Europa wird der dreistufige HM7-Raketenmotor entwickelt und in die „Ariane“ eingebaut. Die Europa-Rakete benutzt vom Start bis zur Landung nur noch Wasserstoff. 1997 Weltweit arbeiten rund 150 Heizkraftwerke mit Phosphorsäurebrennstoffzellen. 2015 Dem britischen Tech-Unternehmen Intelligent Energy gelingt es, eine Brennstoffzelle in ein iPhone 6 einzubauen. Damit verlängert sich die Laufzeit des Akkus auf sieben Tage.

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1967 Die Fahrzeughersteller begannen in den 1960er-Jahren mit Experimenten an Autos mit Brennstoffzellenantrieb.

Insel“ flammend verkünden, was dereinst Kohle als wichtigsten Energieträger ablösen könnte: „Das Wasser, das in seine Elementarbestandteile zerlegte Wasser, zerlegt durch Elektrizität, die bis dahin zur mächtigen und leicht verwendbaren Kraft erwachsen sein wird. Ich bin davon überzeugt, meine Freunde, dass das Wasser dereinst als Brennstoff Verwendung findet, dass Wasserstoff und Sauerstoff, seine Bestandteile, zur unerschöpflichen und bezüglich ihrer Intensität ganz ungeahnten Quelle der Wärme und des Lichts werden. Das Wasser ist die Kohle der Zukunft.“ Nicht nur Vernes imaginärer Wissenschaftler, auch echte wie der Chemienobelpreisträger Wilhelm Ostwald sahen das große Potenzial einer Energieerzeugung durch die Brennstoffzelle. Sie hat einen deutlich höheren Wirkungsgrad als Konkurrenztechnologien wie der Verbrennungsmotor, sie stellt Energie emissionsfrei zur Verfügung – gerade in den Gebieten, in denen Indus­ trieschornsteine das Landschaftsbild prägten und Abgase die Luft verpesteten, eine verheißungsvolle Vorstellung. Allein: Zur Alternative etablierter Technologien konnte die Brennstoffzelle lange Jahre vor allem deshalb nicht heranreifen, weil Wasserstoff in großem Maßstab herzustellen aufwendig, energieintensiv und damit teuer ist. REVIVAL In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieb die Brennstoffzelle in ihrer Nische.

Manch ein Forscher probierte hier und dort etwas, der Brite Francis Thomas Bacon beispielsweise, der ab den 1940er-Jahren wichtige Grundlagenarbeit leistete. Zurück ins Licht der breiten Öffentlichkeit brachte es die Technik dann in den 1960er-Jahren: Die NASA setzte auf Brennstoffzellen, um an Bord von Raumfähren Energie zu erzeugen und Trink- und Kühlwasser herzustellen. Alles, was es dazu brauchte, waren Wasserstoff- und Sauerstofftanks sowie eine Brennstoffzelle, in der die Reaktion stattfand. Viele Jahre und Missionen über funktionierte das sehr gut, bis es 1970 beinahe eine Katastrophe gegeben hätte: An Bord der Apollo 13 explodierte ein Sauerstofftank, die Leitung eines weiteren wurde dadurch beschädigt. An Bord konnte nur noch wenige Stunden Energie produziert werden, die Raumfähre musste schleunigst zur Erde zurückkehren. Das berühmte „Houston, we’ve had a problem“ der Apollo 13 – es hat mit der Brennstoffzelle zu tun. Im Automobilbau begannen in den 1960er-Jahren die Experimente an Autos mit Brennstoffzellenantrieb. General Motors stellte 1966 den GM Electrovan vor, einen umgebauten Kleinbus. Der Wagen hatte eine Reichweite von 240 Kilometern und fuhr maximal etwa 110 Kilometer je Stunde – durchaus alltagstaugliche Werte. Weniger alltagstauglich: Er wog mehr als drei Tonnen und die Ladefläche des Autos wurde fast vollständig vom Antrieb genutzt. Weil die Ingenieure offenbar nicht

Fotos: imago, Alamy, Science & Society/Fotofinder.com, ddp images

1838/39 Der deutsch-schweizerische Chemiker Christian Friedrich Schönbein und der englische Chemi­ker William Robert Grove erfinden die Brennstoffzelle.


BRENNSTOFFZELLE • ZEITREISE

erwarteten, dieses Problem schnell zu lösen, verschwand die Brennstoffzelle wieder in der Schublade. In den 1990er-Jahren verhalf MercedesBenz ihr mit der Forschungsfahrzeug­reihe NECAR zum Comeback, andere Autohersteller zogen nach – bis 2014 schließlich Toyota die Autowelt erstaunte und mit dem Mirai das erste Serienfahrzeug mit Brennstoffzellenantrieb auf den Markt brachte. Was – neben dem hohen Preis von knapp 80.000 Euro – aber noch in weiten Teilen der Welt viele Menschen vom Kauf eines Mirai abhält: Das Netz an Wasserstofftankstellen ist außerordentlich dünn. In Deutschland gibt es etwa 50 davon, die über 14.000 normalen Tankstellen gegenüberstehen. Das Dilemma: Solange es nicht genügend Tankstellen gibt, werden die Verkaufszahlen nicht signifikant steigen – und solange es nicht genügend Fahrzeuge gibt, fehlt der Grund, Tankstellen einzurichten. Ein klassisches Henne-Ei-Problem.

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DIE ZUKUNFT Es gilt weiter, was schon lange für die Brennstoffzelle gilt: Sie ist ein einziges „Ja, aber“. Ja: Fossile Brennstoffe werden eines Tages versiegen, die Menschen werden anders Energie erzeugen müssen. Die Brennstoffzelle eignet sich dafür. Aber: Sie ist bei Weitem nicht die einzige Alternative, regenerative Energien haben mindestens ebenso viel Potenzial. Ja: Die Brennstoffzelle ist gerade als Auto­a ntrieb attraktiv, verspricht emissionsfreie Mobilität. Aber: Emissionsfrei ist nur der Betrieb des Autos. Die Ökobilanz der Herstellung des Wasserstoffs ist nur dann gut, wenn dieser mithilfe von Ökostrom gewonnen wurde. Ja: Ein Tankstellennetzwerk aufzubauen, ist kein unüberwindliches Hindernis. Aber: Die Aufgabe, eine Tankstelleninfrastruktur aufzubauen, schieben Staat und Privatwirtschaft schon länger einander zu, ohne entschlossen zu handeln. Zurück zu Cyrus Smith aus Jules Vernes „geheimnisvoller Insel“, der dem Wasserstoff eine große Zukunft als Energieträger voraussagt. Hat er nun Recht? Allen Abers zum Trotz wahrscheinlich schon. Nur wann diese Zukunft genau beginnt, kann gerade niemand sagen.

Das Modell eines Brennstoffzellen-Mikrokraftwerks (BlueGen) zur Versorgung von Wohngebäuden und kleinen Gewerbeeinheiten mit Strom und Wärme

MARC LÜTTGEMANN arbeitet als Redakteur bei C3 und schreibt über Wissenschaftsthemen.

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SPIEL • MALEN NACH ZAHLEN

Foto: Shutterstock (2); Illustration: C3 Visual Lab

Hier kommt die Spezialität des Hauses

Es ist ein reines Natur­ produkt, klar, kühl und gesund. 5.699 Unter­ nehmen investieren jährlich rund 2,5 Mrd. Euro, damit es unbe­ denklich rund um die Uhr genossen werden kann – und das für jeden Bürger für durch­ schnittlich 24 Cent am Tag. Da es stets bestens kontrolliert wird, ist es einfach unser Lebens­ mittel Nummer 1. Neugierig?

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SCHLAGZEILEN • MEDIENCHECK

SCHLAGZEILEN, die wir gern lesen würden

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TERMINE • VERANSTALTUNGEN

Was kommt Die Energie- und Wasserbranche ist in Bewegung. Fortwährend finden Kongresse, Tagungen und Foren zu aktuellen politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Themen statt. 12.–13. September Wasserwirtschaftliche Jahrestagung, Berlin 26. September BDEW-Veranstaltung „Smart ist das neue Grün – Digitalisierung der Energiewende” 27.–30. September WindEnergy Hamburg 13. Oktober Forum für kleinere und mittlere Stadtwerke, Wetzlar 8.–10. November gat Gasfachliche Aussprache­ tagung/wat Wasserfachliche Aussprachetagung, Essen

Impressum Herausgeber BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V. Reinhardtstraße 32 10117 Berlin streitfragen@bdew.de www.bdew.de

Hauptgeschäftsführung Stefan Kapferer, Vorsitzender der BDEW-Haupt­­ge­schäftsführung und Mitglied des Präsidiums Gesamtverantwortung Mathias Bucksteeg Chefredaktion Henning Jeß Redaktionsschluss Mai 2016 Konzept und Realisierung C3 Creative Code and Content GmbH, unter redaktioneller Mitarbeit von Ricarda Eberhardt, Birgit Heinrich (Bildwelt), BDEW Autoren dieser Ausgabe Meike Bruhns, Uli Dönch, Tom Levine, Marc Lüttgemann, Ralf Mielke, Yvonne Schröder Druck und Verarbeitung Buch- und Offsetdruckerei H. Heenemann GmbH & Co. KG Bessemerstraße 83–91 12103 Berlin www.heenemann-druck.de

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OUTRO • DÜNGEVERORDNUNG

OUTRO Streitpunkt Wasser »Die heutige Einreichung der Klage überrascht vor dem Hintergrund, dass derzeit ein konstruktiver Austausch zwischen der EU-Kommission und der Bundesregierung über den Entwurf für eine neue Düngeverordnung stattfindet.«

Foto: Shutterstock

Pressemeldung Deutscher Bauernverband, 28. April 2016

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DÜNGEVERORDNUNG • OUTRO

»Das ist ei ne Oh rfeige fü r di e deutsche Landwi rtschafts­ politik . Überraschend kommt si e aller-­ di ngs ni cht. (.. .) Es war absehbar , dass di e EU -Komm issi on irgendwann klagen würde.« BDEW in der Neuen Osnabrücker Zeitung, 29. April 2016

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