BDEW-Magazin "Streitfragen!" - 01/2014 - Europäische Energiepolitik

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Streitfragen! Die Energie- und Wasserwirtschaft im Dialog | Das Magazin 01|2014


LIEBE LESERIN, LIEBER LESER, 2014 ist ein entscheidendes Jahr für Europa: Im Mai wird das Europäische Parlament neu gewählt und im Herbst eine neue Europäische Kommission benannt. Diese institutionellen Veränderungen sind auch für die europäische Energie- und Wasserpolitik von großer Bedeutung. Europa muss vor allem in der Klimapolitik wieder eine ambitionierte Vorreiterrolle übernehmen. Mit Blick auf die langfristigen Investitionszyklen für Unternehmen ist es entscheidend, so früh wie möglich verlässliche Rahmenbedingungen bis 2030 für den Klimaschutz zu erhalten. Die deutsche Energiewirtschaft unterstützt die Europäische Kommission und die Bundesregierung ausdrücklich dabei, ein europaweit einheitliches CO2-Minderungsziel bis 2030 von mindestens 40 Prozent einzuführen.


Wir brauchen in der Energie- und Klimapolitik mehr statt weniger Europa und einen neuen Energiemarkt mit einheitlichen europäischen Spielregeln. Nur so schaffen wir es, den EU-Energie-Binnenmarkt zu vollenden. Auch die Energiewende in Deutschland kann mittelfristig nur erfolgreich sein, wenn sie in eine vorwärtsweisende europäische Energiepolitik integriert ist. Bei der Gesetzgebung auf europäischer Ebene sind viele Akteure beteiligt, deren Einfluss sich auch verändert. So hat das Europäische Parlament durch den LissabonVertrag erweiterte Kompetenzen erhalten. Wir beobachten parallel auch, dass zunehmend Positionen in informellen Trilogverhandlungen ausgelotet werden. Alle Beteiligten müssen in dem sich ändernden System ihre Rolle finden. Sicher ist: Interessen vertreten, streiten und Kompromisse finden gehören auch auf europäischer Ebene zum Alltag. Ein Beispiel: Im Januar 2014 hat die Europäische Kommission ihre Vorschläge für einen klima- und energiepolitischen Rahmen unterbreitet. Das Europäische Parlament hat sie kurzum als »kurzsichtig und unambi­ tioniert« abgelehnt und fordert in einer Resolution u.a. verbindliche Ziele für eine CO2-Reduktion, Energieeffizienz und den Ausbau Erneuerbarer Energien für jedes Mitgliedsland. Der Europäische Rat hingegen kann sich leider gegenwärtig nicht auf konkrete Zielvorgaben bis 2030 einigen. Diese zentrale Frage wird uns auch in der neuen Legis­ laturperiode ab Herbst 2014 weiter intensiv beschäftigen. Wir brauchen hier ganz klar einen verbindlichen Fahrplan und verlässliche Rahmenbedingungen. Die Staatsund Regierungschefs sind aufgefordert, eindlich zu handeln und klare Rahmen­ bedingungen für eine gemeinsame europäische Energie- und Klimapolitik fest­ zulegen. In dieser Ausgabe lassen wir viele Protagonisten zu Wort kommen, deren Wirken für die europäische Energie- und Wasserpolitik von zentraler Bedeutung ist. Denken auch Sie europäisch. Gehen Sie zur Wahl und tragen Sie damit zum demokratischen Fundament eines in Vielfalt geeinten Europas bei. Viel Freude beim Lesen!

Hildegard Müller STREITFRAGEN 01|2014

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S.44 EU-WEITE REGELN FÜR DEN GASMARKT

Der europäische Gasmarkt hat sich entscheidend verändert. Vor diesem Hintergrund diskutieren Alberto Pototschnig, ACER, und Stephan Kamphues, ENTSOG, über die Notwendigkeit – und die Grenzen – von Regulierung und Harmonisierung

S.10

S.18

S.36

AUF DEM WEG ZUM EU-ENERGIE-BINNENMARKT

EIN BINNENMARKT FÜR NORDWESTEUROPA

ZENTRAL? DEZENTRAL? GESCHMACKSSACHE

Dr. Johannes Teyssen, CEO von E.ON und Präsident

Jean-François Conil-Lacoste, EPEX SPOT, und

Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt, EU-Kommission,

von EURELECTRIC, spricht sich für eine europaweit

Dr. Konstantin Staschus, ENTSO-E, über die Vorteile

und Prof. Dr. Peter Birkner, Mainova AG, diskutieren

abgestimmte Energiepolitik aus

einer Kopplung der nationalen Strommärkte

das Für und Wider zentraler und dezentraler Strukturen bei den Verteilnetzen

02

STREITFRAGEN 01|2014


ENERGIEPOLITIK IN EUROPA

S.06

S.36

»WIR SIND EIN FRÜHWARNSYSTEM«

Dr. Michael Wunnerlich, Geschäftsführer der BDEWVertretung bei der EU in Brüssel, über die Herausforderungen auf europäischer Ebene

S.10

AUF DEM WEG ZUM EU-ENERGIE-BINNENMARKT

Dr. Peter Birkner, Mainova AG, und Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt, GD Energie der EU-Kommission, über die Rollenverteilung in einem intelligenten Energiesystem

S.40

Dr. Johannes Teyssen, CEO von E.ON und Präsident von EURELECTRIC, spricht sich für eine europaweit abgestimmte Energiepolitik aus

S.14

28 EUROPÄISCHE BINNENMÄRKTE

Claude Turmes, energiepolitischer Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament, plädiert für drei regionale Kooperationszonen im Bereich Erneuerbarer Energien

S.18

S.24

S.42

S.44

EU-WEITE REGELN FÜR DEN GASMARKT

Der europäische Gasmarkt hat sich verändert. Alberto Pototschnig, ACER, und Stephan Kamphues, ENTSOG, diskutieren über Regulierung und Harmonisierung

»KEINE NATIONALEN ALLEINGÄNGE«

WASSERWIRTSCHAFT

EIN ZIEL, VIELE WEGE

Was sagen andere Länder zu den energiepolitischen Zielen bis 2030? Anworten von Pierre-Alain Graf, Swissgrid, und Angela Knight, Energy UK

S.32

»DER EUROPÄISCHE ASPEKT IST EIN MUSS BEI DER AUSBILDUNG UNSERER ENERGIEFÜHRUNGSKRÄFTE«

Prof. Dr. Marc-Oliver Otto legt beim Studiengang »Internationale Energiewirtschaft« an der Hochschule Ulm Wert auf internationale Erfahrung

EU-Energiekommissar Günther Oettinger über die europäische Energiepolitik nach dem Lissabon-Vertrag

S.28

»ES IST EINE DEUTLICHE TRENDWENDE IN DER EU-GESETZGEBUNG EINGELÄUTET«

Dr. Paul Weissenberg, EU-Kommission, über die Bedürf­nisse kleiner und mittelgroßer Unternehmen der Energie- und Wasserwirtschaft

EIN BINNENMARKT FÜR NORDWESTEUROPA

Jean-François Conil-Lacoste, EPEX SPOT, und Dr. Konstantin Staschus, ENTSO-E, über die Vorteile einer Kopplung der nationalen Strommärkte

ZENTRAL? DEZENTRAL? GESCHMACKSSACHE

S.50

»WIR KÖNNEN UNS KEINEN STILLSTAND LEISTEN«

Für Lex Hartman, Geschäftsführer TenneT, sind regionale Kooperationen ein wichtiger Zwischenschritt zum EU-Energie-Binnenmarkt

VORBEHALTE GEGEN DIE MARKTÖFFNUNG

Erhard Ott, Bundesvorstand ver.di, über das geplante transatlantische Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA

S.52

GEBÜHREN VERSUS PREISE

Andreas Mundt, Bundeskartellamt, und Prof. Dr. Christoph Brüning, Universität Kiel, sind unterschiedlicher Ansicht über Gebühren und kartellrechtliche Missbrauchs­aufsicht

IMPRESSUM HERAUSGEBER

BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V. Reinhardtstraße 32 10117 Berlin streitfragen@bdew.de www.bdew.de REDAKTION

Mathias Bucksteeg Sven Kulka

KONZEPT UND REALISIERUNG

Kuhn, Kammann & Kuhn GmbH, unter redaktioneller Mitarbeit von Wolf Szameit und Wolf-Dieter Michaeli. Meltem Walter (Bildwelt), Ricarda Eberhardt. DRUCK UND VERARBEITUNG

Druck Center Drake + Huber, Bad Oeynhausen

BILDNACHWEIS

Roland Horn: Titelseite, S. 02, S. 06, S. 10 – 13, S. 18 – 19, S. 22, S. 36, S. 44 – 45, S. 49, S. 50, S. 53 – 55. Laurence Chaperon: Editorial. gettyimages: S. 04. Europäisches Parlament: S. 15. picture-alliance/dpa: S. 24. Swissgrid: S. 29. Energy UK: S. 31. Christian Lietzmann: S. 32. Europäische Kommission: S. 41. Hochschule Ulm: S. 43 Redaktionsschluss: März 2014

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MACHTZENTREN IN DER EU-ENERGIEPOLITIK Der europäische »Energie-Burger« ist bunt belegt. Die wichtigsten Zutaten im Überblick.

1 Europäische Kommission

2 Europäischer Rat

3 Europäisches Parlament

4 Rat der Europäischen Union

5

ENTSOG/ENTSO-E

6

ACER, CEER, ESMA

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Die Europäische Kommission

Der Europäische Rat

Das Europäische Parlament

Die Europäische Kommission ist das Exekutiv-Organ der EU. Sie gilt als »Hüterin der Verträge«, da sie die Anwendung europäischen Rechts durch die Mitgliedstaaten sicherstellt. Nur die Kommission darf dem Europäischen Parlament (EP) und dem Europäischen Rat neue Gesetzesvorschläge vorlegen. Dieses Initiativrecht nutzte die Kommission beim Vorschlag für eine Richtlinie zur Vergabe von Dienstleistungskonzessionen. Obwohl EP und Rat ein solches Regelwerk als nicht notwendig ansahen, legte die Kommission einen Entwurf vor. Auf Druck des Parlaments und des Rates wurde der Vorschlag stark verändert und blieb am Ende weit hinter den ursprünglichen Vorstellungen der Kommission zurück. Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon können auch EU-Bürger die Kommission auffordern, Gesetzentwürfe vorzulegen. Entwickelt werden die Vorschläge in den zuständigen Generaldirektionen (GDs), die einem der 28 Kommissare unterstehen. Jeder Mitgliedstaat stellt einen Kommissar, die Amtszeit beträgt fünf Jahre. Deutschland besetzt derzeit mit Kommissar Günther Oettinger die GD Energie (s. Beitrag auf Seite 24). Die Kommissare übernehmen die politische Führung der Kommission. Sie sollen ihre Entscheidungen unabhängig treffen und nur die gemeinsamen Interessen der EU vertreten.

Im Europäischen Rat treffen sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union mindestens zweimal pro Halbjahr zum sogenannten EU-Gipfel. Zusammen mit dem Ministerrat repräsentiert der Europäische Rat die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten. Der Europäische Rat hat keine Gesetzgebungskompetenz. Er soll als übergeordnete Institution Kompromisse zwischen den Mitgliedstaaten finden und strategische Entscheidungen für die Weiterentwicklung und die Politik der EU treffen. Entscheidungen müssen grundsätzlich einstimmig getroffen werden. Der Präsident des Europäischen Rates wird für zweieinhalb Jahre gewählt. Er darf neben seinem Präsidentenamt keinen weiteren politischen Posten innehaben. Seit 2009 steht der Belgier Herman van Rompuy als Präsident an der Spitze des Europäischen Rates. Seine Aufgabe lautet, Impulse zu geben, die Kontinuität der Arbeit des Europäischen Rates zu gewährleisten, bei Konflikten zu vermitteln und Kompromisse vorzuschlagen. Dabei hat er kein eigenes Stimmrecht. Nach jeder Tagung des Europäischen Rates informiert der Präsident das Europäische Parlament über die Themen, die im Kreis der Staats- und Regierungschefs behandelt wurden.

Das Europäische Parlament (EP) mit künftig 751 Abgeordneten ist das einzige direkt gewählte Organ der Europäischen Union. Die Anzahl der Sitze ist für jeden Mitgliedstaat entsprechend der Bevölkerungszahl festgelegt. Die Abgeordneten bilden entsprechend ihrer politischen Richtung und unabhängig von ihrer Nationalität Fraktionen. Die Kompetenzen des EP wurden zuletzt durch den Vertrag von Lissabon deutlich erweitert. Dieses seit 2009 geltende Primärrecht der EU misst unter anderem der Energiepolitik besondere Bedeutung zu. Auf diesem Feld ist das Parlament bei der Beratung und Entscheidung über Gesetzgebungsvorschläge der Europäischen Kommission gleichberechtigt mit dem Ministerrat. Ministerrat und Europäisches Parlament beschließen die Gesetze. Im Februar 2014 forderte das EP verbindliche Energie- und Klimaziele: Bis 2030 soll der Ausstoß von Treib­hausgasen in der EU gegenüber 1990 um mindestens 40 Prozent gesenkt, die Energieeffizienz um 40 Prozent gesteigert werden. Außerdem sollen 30 Prozent des Stroms durch Erneuerbare Energien erzeugt werden. In der Debatte um die Klima- und Energiepolitik geht das Europaparlament mit seinen Forderungen weit über die Pläne der Kommission, aber auch der meisten Mitgliedstaaten hinaus.

Der Rat der Europäischen Union

ENTSOG und ENTSO-E

ACER, CEER, ESMA

Im Rat der Europäischen Union (auch Rat oder Ministerrat genannt) sind die Regierungen der 28 Mitgliedstaaten durch ihre Minister vertreten. Den Vorsitz des Gremiums übernimmt nach dem Rotationsprinzip alle sechs Monate ein anderer Mitgliedstaat. In der ersten Jahreshälfte 2014 führt Griechenland den Vorsitz, danach ist Italien an der Reihe. Der Ministerrat berät und entscheidet zusammen mit dem Europäischen Parlament über von der Kommission vorgelegte Gesetzesvorschläge. Außerdem koordiniert der Rat die Politik der Mitgliedstaaten in den verschiedenen Fachbereichen wie Wettbewerb, Umwelt und Energie. Die Fachminister der Mitgliedstaaten treten in der Regel vier Mal pro Jahr zusammen. Vorbereitet werden die Rats­ tagungen durch den Ausschuss der Ständigen Vertreter (Coreper). Darin sitzen Vertreter der Mitgliedstaaten, die den Rang von Botschaftern bei der EU haben. Im März 2014 diskutierten der Umweltministersowie der Energieministerrat die von der Kommission vorgelegten Umwelt- und Klimaziele. Dabei zeichneten sich unterschiedliche Vorstellungen ab. Deutschland setzt sich für ambitionierte EU-weite Ziele ein: ein Treib­hausgas-Minderungsziel von mindestens 40 Prozent, ein Erneuerbare-Energien-Ziel von 30 Prozent sowie ein verbindliches Energieeffizienzziel.

Die Europäischen Netzwerke der Betreiber von Stromübertragungs- (ENTSO-E) und Gasfernleitungen (ENTSOG) wurden im Zuge der Entflechtungsregeln des Dritten Energie-Binnenmarktpakets im Jahr 2009 geschaffen. Damit entstanden eigenständige Verbände der in Europa tätigen Übertragungs- und Fernleitungsbetreiber. Zu ihren gesetzlich festgelegten Aufgaben gehört die Erarbeitung europäischer Regeln für die Netzbewirtschaftung und die Strom- und Gasmärkte, der sogenannten Netzkodizes (»Network Codes«). ENTSOG (s. Beitrag auf Seite 44) und ENTSO-E arbeiten dabei auf der Basis von von ACER formulierter Rahmenleitlinien (»Framework Guidelines«) und im Zusammenspiel mit der Europäischen Kommission. Außerdem sind sie im Rahmen der zweijährlich erstellten europäischen Zehn-Jahres-Netzentwicklungspläne (TYNDP) sowie ihrer zum Sommer und zum Winter vorgelegten Prospektivberichte zuständig für die europäische Netzplanung und die Bewertung im Hinblick auf die Versorgungssicherheit. Darüber hinaus übernehmen sie Aufgaben bei der Auswahl und Umsetzung der europäischen Energieinfrastrukturvorhaben von gemeinsamem Interesse sowie bei der Erhebung von Markt- und Netznutzungsdaten.

ACER, die Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden, soll unter anderem die nationalen Regulierungsbehörden auf EU-Ebene unterstützen (s. Beitrag auf Seite 44). CEER steht für Council of European Energy Regulators. Der Rat der europäischen Energieregulierungsbehörden dient 32 Ländern als Plattform für den Austausch zu allen relevanten Themen, die nicht im Zuständigkeitsbereich von ACER liegen. CEER befasst sich insbesondere mit Verbraucherschutz, regulatorischen Aspekten der Endkundenmärkte und mit der Förderung Erneuerbarer Energien. ESMA, die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde, hat 2011 gemeinsam mit den Aufsichtsbehörden für Banken und Versicherungen ihre Arbeit aufgenommen. Anlass war die weltweite Finanzkrise. Die europäischen Aufsichtsbehörden sollen zusammen mit den nationalen Behörden eine effektive Finanzaufsicht für den europäischen Binnenmarkt schaffen. Da die ESMA auch Regeln für die Meldung von Derivategeschäften entwickelt, hat ihre Arbeit Auswirkungen auf die Energiewirtschaft.


» WIR SIND EIN FRÜHWARNSYSTEM.« 06

STREITFRAGEN 01|2014 ENERGIEPOLITIK IN EUROPA


DR. MICHAEL WUNNERLICH

ist Mitglied der Geschäftsführung des BDEW und Geschäftsführer der BDEW-Vertretung bei der EU in Brüssel .

Die BDEW-Vertretung in Brüssel bündelt die Interessen der deutschen Energie- und Wasserwirtschaft auf europäischer Ebene. Dr. Michael Wunnerlich erklärt Hintergründe und Herausforderungen. Die Europawahlen stehen an. Wie wichtig sind Europa und die europäische Gesetzgebung generell für die nationale Energiepolitik? Erwarten Sie nach den Wahlen einen inhaltlichen Richtungswechsel in der europäischen Energiepolitik? DR. MICHAEL WUNNERLICH Europa ist unbestritten sehr wichtig für unsere Branchen Energie und Wasser. Geschätzte 80 Prozent der Wirtschaftsgesetzgebung kommen aus Brüssel oder werden maßgeblich durch Brüssel bestimmt. Dazu zählt seit dem Lissabon-Vertrag auch die Rechtssetzungskompetenz für die Energiepolitik, die mit dem Lissabon-Vertrag als neue Zuständigkeit verankert wurde. Das bedeutet, dass die EU erstmals die primärrechtliche Kompetenz für eine umfassende europäische Energiepolitik hat. Gleichwohl verbleibt die Ausgestaltung des Energiemix weiterhin in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. In einer Zeit, in der Europa Antworten auf schwierige wirtschafts- und gesellschaftspolitische Fragen wie beispielsweise den Klimawandel und die Sicherung der Energieversorgung finden muss, kann kein einzelner Mitgliedstaat und keine nationale Regierung wirksam alleine handeln. Europa muss mit einer Stimme sprechen und in demokratisch verantwortlicher und transparenter Weise eng zusammenarbeiten. Energie- und Klimapolitik sind drängende Zukunftsaufgaben, bei denen Wettbewerbsfähigkeit, Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit gleichermaßen zu berücksichtigen sind. Ein europäischer Ansatz ist unverzichtbar, da rein nationale Regelungen bei diesen Themen einfach nicht ausreichen. Außerdem enden Energieflüsse und somit die Energieversorgung längst nicht mehr an nationalen Grenzen. Insofern glaube ich, dass man nicht davon ausgehen kann, dass die europäi-

sche Energiepolitik nach der Wahl zum Europäischen Parlament eine 180-Grad-Wende vollziehen wird, zumal der europäische Energie-Binnenmarkt immer noch nicht vollständig vollendet ist. Auch die zukünftige Energiepolitik der EU wird vor den Haupt­ herausforderungen wie der Frage nach Versorgungssicherheit, klimafreundlicher Energieversorgung und Wettbewerbssicherheit stehen und dafür Lösungen finden müssen. Je nach Ausgang der Wahl werden sich höchstens die energiepolitischen Schwerpunkte etwas verschieben. So wird erwartet, dass es gegebenenfalls eine Schwerpunktverlagerung in Richtung Wettbewerbsfähigkeit der Industrie geben könnte, in der das Augenmerk auf die Rolle der in der EU hohen Energiepreise und der Klimapolitik im Verhältnis zu anderen Weltregionen gelenkt wird. Hat sich die politische Praxis mit Blick auf Gesetzgebungsverfahren nach dem Lissabon-Vertrag verändert? WUNNERLICH Ziel des Lissabon-Vertrags war es, die jahrelange Reformdebatte der EU abzuschließen und die politische Handlungsfähigkeit, die Verteilung der Zuständigkeiten für die Gesetzgebung sowie die Transparenz von Gesetzgebungsprozessen zu verbessern. So hat der Lissabon-Vertrag die Gesetzgebungskompetenz des Europäischen Parlaments erweitert und es auf die gleiche Stufe wie den Ministerrat gestellt. Damit kann das EP nun bei fast allen EU-Gesetzen mitbestimmen und über deren Inkrafttreten mitentscheiden. Mehr Macht bedeutet aber auch mehr Verantwortung, die das Parlament auch zunehmend wahrnimmt. Allerdings beobachten wir, dass Gesetzgebungsverfahren immer mehr in sogenannten informellen Trilogverhandlungen abgekürzt und abgeschlossen werden. Das heißt, es finden nicht-öffentliche Verhandlungen

ENERGIEPOLITIK IN EUROPA STREITFRAGEN 01|2014

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» ENERGIEFLÜSSE UND SOMIT DIE ENERGIEVERSORGUNG ENDEN LÄNGST NICHT MEHR AN NATIONALEN GRENZEN.«

zwischen der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat statt, um frühzeitig einen möglichen Kompromiss zwischen den Positionen der drei Institutionen auszuloten. Hintergrund ist der Wunsch nach einer schnellen Entscheidungsfindung und der Abkürzung eines teilweise langwierigen Verfahrens mit erster und zweiter Lesung und gegebenenfalls anschließendem Vermittlungsverfahren. Grundsätzlich ist eine schnelle Entscheidungsfindung zu begrüßen. Doch manchmal sollten weitreichende Entscheidungen mit etwas mehr zeitlichem Spielraum und auch mit größerer Transparenz für die betroffenen Stakeholder – wie z.B. für uns als Verband – getroffen werden. Der Vorteil von Trilogverhandlungen ist allerdings, dass die europäischen Institutionen bereits zu einem frühen Zeitpunkt einen Dialog miteinander beginnen. Dadurch ist die Zusammenarbeit im Mitentscheidungsverfahren von Parlament, Ministerrat und Kommission unbestritten besser geworden, und es wird zielstrebiger auf einen gemeinsamen Konsens hingearbeitet als früher. Wie laut ist die Stimme unserer Branche in Brüssel? Wie wird die BDEW-Position in den europäischen Dachverbänden vertreten? WUNNERLICH Man muss keine laute Stimme haben, um sich Gehör zu verschaffen. Viel wichtiger ist fachliche Kompetenz! Mit dem engagierten Team der EU-Vertretung in Brüssel ist der BDEW dafür hervorragend aufgestellt.

Wir vertreten in Brüssel die gebündelten Interessen unserer mehr als 1 800 Mitglieder der deutschen Energie- und Wasserwirtschaft, als zentraler Ansprechpartner der Abgeordneten des Europäischen Parlamentes, der Vertreter der Europäischen Kommission, aber auch der in Brüssel ansässigen Stakeholder aus Wirtschaft, Politik und Verbänden. Dies geschieht natürlich in enger Abstimmung mit der BDEW-Hauptgeschäftsstelle und den BDEW-Gremien in Berlin, in denen die Positionierung des BDEW für energie- und wasserwirtschaftliche Fragen gemeinsam mit unseren Mitgliedern erarbeitet wird. Wir sind zunächst einmal das Frühwarnsystem für unsere Mitglieder in der Energie- und Wasserwirtschaft für alle anstehenden Initiativen, die in Brüssel ihren Ursprung haben. Stehen dann beispielsweise neue Gesetzgebungsinitiativen an, wenden sich aber auch Abgeordnete und Mitarbeiter der Kommission im Vorfeld oder im laufenden Prozess mit Fachfragen an uns. Dieses Fachwissen wird von unseren europäischen Gesprächspartnern als Branchenposition sehr geschätzt und ist für die Entscheidungsfindung wichtig. Wir nehmen darüber hinaus regelmäßig an den öffentlichen Konsultationen etwa der Europäischen Kommission oder auch der europäischen Energieregulierer teil. Der BDEW ist im sogenannten Transparenzregister der EU eingetragen. Das Transparenzregister enthält einen einheitlichen Verhaltenskodex für den Umgang und die Zusammenarbeit mit den europäischen Institutionen, zu dem sich alle eingetragenen Personen verpflichtet haben. Der BDEW ist zudem aktives Mitglied in den europäischen Dachverbänden EURELECTRIC, EUROGAS, EUREAU und CEEP. Die Stellungnahme eines europäischen Dachverbandes verstärkt die nationale Positionierung, indem er sie erweitert und somit die Interessen und die Haltung der gesamten Branche europaweit artikuliert. Dies ist auch wichtig, da bei vielen europäischen Stakeholder-Konsultationen nur die europäischen Dachverbände teilnehmen dürfen.

EUROPA VOR DER WAHL Die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) beginnen am 22. Mai 2014 mit den Abstimmungen in Großbritannien und den Niederlanden. Insgesamt können bis zum 25. Mai 2014 rund 400 Millionen Wahlberechtigte in den 28 EU-Ländern ihre Stimme abgeben. Um die im Vertrag von Lissabon neu festgelegte Gesamtzahl von 751 Sitzen des Europäischen Parlaments einzuhalten, werden zwölf Mitgliedstaaten je einen Sitz und Deutschland drei seiner bisherigen 99 Sitze verlieren. Die europäischen Parteien schicken erstmals Spitzenkandidaten ins 08

Rennen und treten mit politischen Programmen in einem europaweiten Wahlkampf gegeneinander an. Der Ausgang der Wahl schafft die Grundlage für die Neubesetzung der wichtigsten Posten der EU. Dazu gehören der Kommissionspräsident und die weiteren Mitglieder der Kommission. Neu zu bestimmen sind außerdem der Präsident des Europäischen Rates, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Präsident des EP. Bereits zwei Tage nach der Wahl kommen die Staats- und Regierungschefs im Euro­

päischen Rat zusammen, um über das Ergebnis zu beraten. Unter Berücksichtigung des Wahlergebnisses schlägt der Rat dem EP einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vor. Sobald ein neuer Kommissionspräsident vom EP gewählt ist, benennen die Regierungen der übrigen EU-Länder jeweils einen Kandidaten als Mitglied der Kommis­ sion. Akzeptiert das EP die Gesamtheit der Bewerber, ernennt der Europäische Rat die neuen Kommissarinnen und Kommissare. Die Amtszeit der derzeitigen Kommission endet am 31. Oktober 2014.


DACHVERBÄNDE IN BRÜSSEL EUROGAS

EURELECTRIC

EUROGAS wurde im Jahr 1990 als Interessenverband der europäischen

EURELECTRIC ist der Verband der europäischen Elektrizitätswirtschaft,

Gaswirtschaft mit Sitz in Brüssel gegründet und kümmert sich neben all-

der eine Vielfalt von Themen bearbeitet, darunter Energiemärkte und -po-

gemeinen Fragen zum Thema Erdgas vor allem um Fragen des Groß- und

litik, nachhaltige Entwicklung, Verteilnetze und Einzelhandel. EURELEC-

Einzelhandels sowie der Verteilnetze. Neben dem BDEW und weiteren

TRIC ist ein Verband der nationalen Verbände, mit dem BDEW als Mitglied

nationalen Verbänden zählen zu seinen rund 50 Mitgliedern auch euro-

für Deutschland. Aktueller EURELECTRIC-Präsident ist Dr. Johannes

päische Gasunternehmen und internationale Organisationen. Als euro-

Teyssen, Vorstandsvorsitzender der E.ON SE. Als europäischer Stakehol-

päischer Stakeholder vertritt EUROGAS die Interessen der europäischen

der vertritt EURELECTRIC die Interessen der europäischen Stromwirt-

Gaswirtschaft insbesondere gegenüber den EU-Institutionen, den euro-

schaft insbesondere gegenüber den EU-Institutionen, den europäischen

päischen Zusammenschlüssen der Energieregulierer (ACER und CEER)

Zusammenschlüssen der Energieregulierer (ACER und CEER) und dem

und dem mit gesetzlichem Auftrag versehenen Verband der europäischen

Verband der europäischen Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E).

Fernleitungsnetzbetreiber (ENTSO-G). Ein wichtiger Teil der Arbeit von

Ein wichtiges Element der Arbeit von EURELECTRIC ist zudem die

EUROGAS ist zudem die Mitarbeit in europäischen Gremien, Arbeitsgrup-

Mitarbeit in europäischen Gremien, Arbeitsgruppen und Foren wie z.B.

pen und Foren wie z.B. dem Erdgasregulierungsforum (»Madrid Forum«)

dem Elektrizitätsregulierungsforum (»Florenz Forum«).

oder der Koordinierungsgruppe Erdgas. Dabei setzt sich EUROGAS vor al-

In seinem kürzlich veröffentlichten »Manifesto« spricht sich EURE-

lem für eine gestärkte Rolle von Erdgas im europäischen Energiemix und

LECTRIC für eine weitere Dekarbonisierung der Energiewirtschaft, eine

einen funktionierenden Energie-Binnenmarkt als Basis für eine bezahlba-

Begrenzung von Markteingriffen und die Stärkung der Verbraucher aus.

re, nachhaltige und sichere Energieversorgung ein.

CEEP

EUREAU

CEEP ist der europäische Dachverband der öffentlichen Arbeitgeber und

EUREAU ist der Verband der europäischen Wasserwirtschaft. Er vertritt

Unternehmer. Damit vertritt er die Interessen von Unternehmen, die im

die Interessen der europäischen Wasserver- und –entsorgungsunterneh-

Rahmen der Daseinsvorsorge tätig sind (z.B. öffentlicher Nahverkehr,

men gegenüber den Europäischen Institutionen und spiegelt damit die

Energie- und Wasserversorgung) und in einigen Ländern auch der öffent-

gesamte Vielfalt privater sowie öffentlicher Wasserversorger wider. EU-

lichen kommunalen Behörden. Mitglieder bei CEEP sind sowohl nationale

REAU ist ein Verband der nationalen Verbände, in dem sich der BDEW den

Verbände, wie der BDEW, als auch Unternehmen direkt. Die Mitglieds-

Sitz für Deutschland mit dem DVGW teilt.

unternehmen und Verbände von CEEP sind in den einzelnen Ländern in

Als europäische Stimme der Wasserwirtschaft bearbeitet EUREAU

nationalen Sektionen organisiert. Die deutsche Sektion ist der Bundesver-

eine Vielzahl an Themen, darunter die Überarbeitung der Umweltquali-

band öffentliche Dienstleistungen (BvÖD) in Berlin. Die Ausarbeitung der

tätsnormen, Breitbandausbau und Positionen zur Schiefergasgewinnung.

fachlichen Positionen erfolgt bei CEEP sowohl in den in Brüssel tagenden

Die Ausarbeitung der fachlichen Positionen erfolgt bei EUREAU in drei

Ausschüssen (Umwelt, Wasser, Energie, lokale Unternehmen, Dienstleis-

Ausschüssen: dem Trinkwasserausschuss (Eu1), dem Abwasserausschuss

tungen von allgemeinem Interesse (SGI)) als auch in den nationalen Sekti-

(Eu2) und dem Ausschuss Recht und Betriebswirtschaft (Eu3) sowie in dar-

onen in den jeweiligen Mitgliedstaaten. Positionen werden zwischen den

unter angesiedelten Arbeitsgruppen und Task Forces. In den Ausschüssen

zuständigen Ausschüssen und den nationalen Sektionen abgestimmt und

sind jeweils zwei Vertreter pro nationalen Verband vertreten. Der BDEW

von der Generalversammlung verabschiedet.

hat entschieden, in erster Linie Vertreter aus Mitgliedsunternehmen in die

Der BDEW übermittelt seine Position in kontinuierlicher Mitarbeit

EUREAU-Ausschüsse zu entsenden.

in die zuständigen CEEP-Ausschüsse und stellt somit sicher, dass diese Position auch in die Stellungnahme des Dachverbandes mit einfließt. Als europäischer Stakeholder vertritt CEEP diese Positionen gegenüber den Europäischen Institutionen und ist als einer von drei eingetragenen Sozialpartnern der Europäischen Kommission wichtiger Ansprechpartner in allen Fragen zum Thema Daseinsvorsorge.

ENERGIEPOLITIK IN EUROPA STREITFRAGEN 01|2014

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DR. JOHANNES TEYSSEN

ist Vorstandsvorsitzender der E.ON SE und Pr채sident von EURELECTRIC, dem Branchenverband der europ채ischen Elektrizit채tswirtschaft.

AUF DEM WEG ZUM EU-ENERGIEBINNENMARKT 10

STREITFRAGEN 01|2014 ENERGIEPOLITIK IN EUROPA


Statt den Energie-Binnenmarkt zu vollenden, gehen die EU-Länder in der Energiepolitik eigene Wege. Der Chef des größten deutschen Energiekonzerns plädiert für eine Rückbesinnung auf ein europaweit ab­ gestimmtes Vorgehen. Herr Teyssen, der europäische Energie-Binnenmarkt soll laut Plan bis Ende 2014 vollendet sein. Bei wie viel Prozent stehen wir? Was fehlt zu 100 Prozent? DR. JOHANNES TEYSSEN Von 100 Prozent sind wir ein gutes Stück entfernt, und die Entwicklung der letzten Jahre war auch eher negativ. Die Mitgliedstaaten definieren zunehmend ihre eigene Energiepolitik zulasten einer europäischen Marktintegration. Dieses Auseinanderwachsen kann man auch an den Börsenpreisen erkennen. So bewegten sich die Preise in Mitteleuropa, also der Region mit der höchsten Marktintegration, noch vor zwei Jahren in einem Korridor von fünf Euro Unterschied. Inzwischen hat sich dieser Korridor verdreifacht. Das spricht nicht gerade für eine gelingende Binnenmarktintegration. Bei der technischen Harmonisierung sind wir zwar gut vorangekommen, politisch aber bewegen wir uns wieder auseinander. Das darf nicht so weitergehen. Europa ist gefordert, genauso wie die Mitgliedstaaten selbst. Denn eins ist klar: gewaltige Strukturveränderungen wie die Energiewende können nicht im Alleingang durchgeführt werden, jedenfalls nicht effizient. Dazu müssen wir in Deutschland nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich überzeugen; sonst werden unsere Nachbarn weiter Phasenschieber bauen, ihre Märkte abschotten, und der notwendige Infrastrukturausbau bleibt aus.

Für die europäische Klima- und Energiepolitik bis 2030 schlägt die EU-Kommission ein verbindliches EU-weites Ziel für den Anteil Erneuerbarer Energien von 27 Prozent vor, setzt aber keine verbindlichen nationalen Ziele. Das Europäische Parlament fordert eine Steigerung des Erneuerbaren-Anteils auf 30 Prozent mit national verpflichtenden Zielen. Die Meinungen der EUInstitutionen gehen also auseinander. Welche Strategie ist die richtige? TEYSSEN Mit verbindlichen Ausbauzielen für Erneuerbare Energien ist für den Klimaschutz noch nichts erreicht. Wir sehen das ja gerade in Deutschland: Obwohl die Erneuerbaren Energien rasant wachsen, ist der CO2-Ausstoß bereits im zweiten Jahr in Folge gestiegen. Wer das Klima wirklich schützen will, muss für ehrgeizige und verbindliche europäische CO2-Vermeidungsziele eintreten. ENERGIEPOLITIK IN EUROPA STREITFRAGEN 01|2014

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» EINE WIRKLICHE HARMONISIERUNG DER FÖRDERUNG ERNEUERBARER ENERGIEN GEHT NICHT VON HEUTE AUF MORGEN.« Aus meiner Sicht heißt das mindestens 40 Prozent weniger CO2Ausstoß bis 2030. Dieses Ziel ist aber nur dann nachhaltig wirksam, wenn der aktuelle Überschuss an Zertifikaten im Emissionshandelssystem frühzeitig abgebaut wird. Denn was nützen uns anspruchsvolle mittelfristige Reduktionsziele, wenn die Zertifikatepreise wegen massiven Überangebots signalisieren, dass man auf viele Jahre getrost die Hände in den Schoß legen kann, um dann in einen Schlussspurt überzugehen? Umweltministerin Hendricks hat deswegen einen schnellen Einstieg in die strategische Reserve beim Europäische Emissionshandelssystem (ETS) bereits ab 2016 angeregt – ein sehr diskutabler Vorschlag in meinen Augen. Der Charme am ETS ist, dass in einem festgelegten Rahmen unternehmerisches kreatives Potenzial für technische Innovationen gehoben werden kann. Das ist ein enormer Vorteil gegenüber einer Steuer oder festgelegten Standards. Die EU sollte sich auf dieses eine, entscheidende Klimaschutz-Ziel bei gleichzeitiger schneller Wiederbelebung des ETS beschränken, und die Umsetzung dem Wettbewerb unterschiedlicher Techniken überlassen. Nur so kann es einen effizienten Umbau der Energiesysteme geben.

Wie bewerten Sie die von der Kommission vorgeschlagene Einführung einer sogenannten Marktstabilitätsreserve, mit der künftig auf ein Über- oder Unterangebot an CO2-Zertifikaten reagiert werden soll?

Ist der europäische Emissionszertifikatehandel überhaupt noch zu retten? Das Backloading wird doch kaum ausreichen, um auf einen Zertifikatepreis zu kommen, der eine auch noch so geringe Lenkungswirkung entfaltet.

TEYSSEN Ich bin Realist. Eine wirkliche Harmonisierung der Förderung Erneuerbarer Energien geht nicht von heute auf morgen. Viel wichtiger ist aber ohnehin, dass wir gleiche Marktzutrittsbedingungen für die Erneuerbaren Energien schaffen. Wenn die Erneuerbaren Energien einen Marktanteil von 40 Prozent haben sollen, dann können sie nicht mehr vom freien grenzüberschreitenden Warenverkehr ausgenommen werden. Aus Sicht der europäischen Nachbarn wäre dies ein Diskriminierungstatbestand. Der EU geht es deswegen darum, Wettbewerbsverzerrungen durch nationale Förderinstrumente zu vermeiden. Deshalb steht auch das EEG wie alle anderen nationalen Förderinstrumente ab sofort auf dem Prüfstand der Brüsseler Beihilfeaufsicht – das ist richtig und notwendig. Ohne grundlegende Veränderungen wird es das EEG jedenfalls schwer haben, auf europäischer Ebene zu bestehen. Die Bundesregierung scheint mir mit ihren Reformvorschlägen daher grundsätzlich auf dem richtigen Weg zu sein, wird aber noch an manchen Stellen nachbessern müssen. Insbesondere ein schneller und entscheidender Umstieg auf volle Marktintegration aller Anlagen und ein zügiger Übergang auf effiziente Ausschreibungsmodelle für alle Neuanlagen ist jetzt wichtig.

TEYSSEN Die positive Entscheidung zum Backloading in Brüssel macht deutlich, dass das Instrument ETS in Europa von allen Institutionen als wichtig angesehen wird. Natürlich reicht die vorübergehende Entnahme von Zertifikaten aus dem System nicht aus, um die erforderliche volle Lenkungswirkung nennenswert zu beeinflussen. Der heutige Überhang ist mehr als doppelt so hoch wie die Backloading-Menge. Es bleibt also viel zu tun. Aber Anstöße wie der von Frau Ministerin Hendricks zeigen, dass es noch Potenzial für bessere Lösungen gibt.

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STREITFRAGEN 01|2014 ENERGIEPOLITIK IN EUROPA

TEYSSEN Ich halte diesen Weg für richtig. Denn so können strukturelle Marktungleichgewichte nach festen Regeln künftig ausgeglichen werden. Ich bin davon überzeugt, dass die Markstabilitätsreserve einen Beitrag zur Stärkung des Emissionshandelssystems leisten kann. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Reserve unabhängig bleibt und vorher definierte Regeln und nicht Mitgliedstaaten oder die Kommission Eingriffe bestimmen.

Einige Experten fordern die vollständige Harmonisierung der Förderung Erneuerbarer Energien. Dies könnte vor dem Hintergrund der beim EuGH anhängigen Verfahren in Schweden und Belgien vielleicht auch schneller Realität werden, als wir vor einigen Monaten noch gedacht haben. Was könnte das für die geplante Reform des deutschen EEG bedeuten?


Nicht nur in Deutschland sind konventionelle Kraftwerke, vor allem umweltfreundliche Gaskraftwerke, nicht mehr wirtschaftlich. In verschiedenen Ländern, auch in Deutschland, wird über Kapazitätsmärkte diskutiert, die Franzosen gehen voran. Wäre eine europäische Lösung nicht besser? TEYSSEN Mehrere Länder Europas haben bereits verschiedene Formen von Kapazitätsmechanismen. Die Probleme und Marktverwerfungen sind ja zunehmend in allen Ländern die gleichen. In Deutschland wird gerade darüber diskutiert, was uns eine jederzeit stabile Stromversorgung wert ist. Leistung muss sich wieder lohnen, wie das nahezu 100 Jahre lang bei der differenzierten Bepreisung von Leistung und elektrischer Arbeit üblich war und im Rest der Welt auch übrigens immer so war. Denn selbstverständlich war und ist Versorgungssicherheit zu jeder Stunde und an jedem Ort eben nicht, wir müssen etwas dafür tun. Und Geld wird sie auch kosten, weil sie eben einen Wert für die Kunden und die Gesellschaft hat. Wie viel, hängt davon ab, was die Politik entscheidet. Aus meiner Sicht brauchen wir marktbasierte Lösungen: Jeder kann gesicherte Leistung anbieten, und der Günstigste erhält den Zuschlag. Wenn wir es dann noch schaffen, den Blick über den Tellerrand hinaus zu richten und uns zumindest mit unseren Nachbarn abzustimmen, wird ein Kapazitätsmechanismus noch effizienter. Eine vollständig europäisch harmonisierte Lösung wäre natürlich am besten, aber ich habe einige Zweifel, dass es in überschaubarer Zeit dazu kommt. Fangen wir also doch mit Nachbarschaftslösungen an!

Eine Reihe großer Energieunternehmen hat gerade einen Vorstoß in Richtung der europäischen Energie-Agenda unternommen. Was ist der Kern? TEYSSEN Die Magritte-Gruppe aus zwölf großen europäischen Energieversorgungsunternehmen will die europäische Energiepolitik konstruktiv und mit konkreten eigenen Vorschlägen voranbringen. Uns geht es beispielsweise um einen starken, funktionierenden CO2-Markt und einen diskriminierungsfreien, technologieneutralen Kapazitätsmarkt, damit jederzeit verlässlich Strom zur Verfügung steht. Effizienzorientierte Märkte müssen anstelle von Einspeisevergütungen und Kraftwerksreserveverordnungen treten. Nur so können wir die Kostenexplosion der Energiewende aufhalten und Energie für alle bezahlbar halten.

Wieso gerade dieser Kreis? Warum nicht EURELECTRIC und die gesamte Branche? TEYSSEN Es gibt hier keine Konkurrenz. Denn in der Sache sind wir uns alle einig. Wir brauchen deutlich mehr politische Aufmerksamkeit für die investitionsfeindliche Situation in der Stromwirtschaft und die Gefahren für alle Kunden von Industrie, Gewerbe bis hin zu den privaten Haushalten. Dabei hilft die neue Initiative. EURELECTRIC hat in dem kürzlich präsentierten Manifest ganz ähnliche Anregungen und noch manch weitere Idee für gute Reformen öffentlich vorgestellt. Wir treten bei EURELECTRIC also einfach noch breiter auf, Widersprüche sehe ich nicht.

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EUROPÄISCHE BINNENMÄRKTE ›

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Der europäische Binnenmarkt für Energie wird auch 2014 nicht vollendet sein, meint Claude Turmes, energiepolitischer Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament. Um die Erneuerbaren Energien schneller in den Markt zu integrieren, schlägt er deshalb drei regionale Kooperationszonen vor. STREITFRAGEN 01|2014 ENERGIEPOLITIK IN EUROPA


CLAUDE TURMES

sitzt seit 1999 für die luxemburgischen Grünen im Europaparlament. Er war unter anderem Berichterstatter für die EnergieEffizienz-Richtlinie.

Herr Turmes, was war Ihre erste Reaktion, als Sie von den Vorschlägen der EU-Kommission zur Energie- und Klimapolitik bis 2030 hörten? CLAUDE TURMES

Nur Kopfschütteln.

Warum? TURMES Weil die Prioritäten falsch gesetzt werden. Die Erfahrung der letzten acht Jahre zeigt uns, dass nicht das Europäische Emmissionshandelssystem (ETS) Investitionen in Richtung Klimaschutz losgetreten hat, sondern die bestehende Erneuerbaren-Richtlinie und die Energie-Effizienz-Richtlinie.

Der Kommissionsvorschlag baut im Prinzip auf dem Fakt auf, dass der europäische Energie-Binnenmarkt bis Ende 2014 vollendet sein soll. Ist das aus Ihrer Sicht realistisch? Was soll getan werden, um dieses Ziel zu erreichen? TURMES Ich habe den Strom-Binnenmarkt 2003 mit meiner Tätigkeit als Berichterstatter maßgeblich mitgestaltet. Ich bin auch der Überzeugung, dass er vertieft werden muss. Doch wenn die Konvergenz, die wir mit den verbindlichen und sehr konkreten Zielen bei Erneuerbaren und Effizienz für den Strommarkt für 2020 geschaffen haben, jetzt mit Blick auf 2030 wegfällt, dann frage ich mich, was diesen Binnenmarkt noch zusammenhalten soll, wenn Polen die Kohleverstromung weiter ausbaut, Großbritannien und Frankreich auf Kernenergie setzt und Deutschland und die Mehrzahl der anderen EU-Länder sich auf variable Wind- und Solarkraft stützt.

Im Rahmen für die europäische Klima- und Energiepolitik bis 2030 schlägt die EU-Kommission ein verbindliches EU-weites Ziel für den Anteil Erneuerbarer Energien von 27 Prozent vor, setzt aber keine verbindlichen nationalen Ziele. Das Europäische Parlament fordert jedoch eine Steigerung des Erneuerbaren-Anteils auf 30 Prozent mit national verpflichtenden Zielen. Warum?

TURMES Der Kommissionsvorschlag ist ein enormer Rückschritt, weil er keine Konvergenz erzielt. Wenn man in den verschiedenen EU-Ländern nach deren Vorstellungen für einen gemeinsamen Binnenmarkt fragt, bekommt man 28 unterschiedliche Antworten. Es rächt sich jetzt, dass EU-Kommissar Oettinger keine Vision für den europäischen Strommarkt hat. Die Länder haben kein Vertrauen mehr in die EU-Kommission. Stattdessen erleben wir eine große Re-Nationalisierung, die noch gestärkt werden wird durch die Tatsache, dass die Kommission keine nationalen Ziele für Erneuerbare und Effizienz festlegen will.

Einige Experten fordern die vollständige Harmonisierung der Förderung Erneuerbarer Energien. Teilen Sie diese Ansicht? Was sind aus Ihrer Sicht Vor- und Nachteile eines solchen Ansatzes für den wirtschaftlichen Ausbau der Erneuerbaren Energien in der EU? TURMES Wir müssen eine Optimierung im Binnenmarkt erreichen. Wenn ich bei den Erneuerbaren optimieren will, dann dürfen wir nicht auf EU-Ebene harmonisieren, weil das gegenwärtig auch aufgrund der fehlenden Netzinfrastruktur nicht funktionieren kann. Als nächsten Schritt sollten wir drei regionale Märkte schaffen: einen zentralwesteuropäischen mit unter anderem Deutschland, Benelux, Frankreich, Spanien, Portugal und den britischen Inseln, Irland und Dänemark mit einem Schwerpunkt auf Wind-, Solar- und insbesondere Offshore-Windkraft, einen Baltic-Sea-Markt mit unter anderem den skandinavischen und baltischen Ländern mit einem Schwerpunkt auf Wind, Wasser und Biomasse, sowie einen südost- und europäischen Markt mit unter anderem Griechenland, Rumänien, Bulgarien, den Balkanländern und Österreich und Italien.

Was wäre der Vorteil dieser Regionalisierung des europäischen Binnenmarktes? TURMES Innerhalb dieser regionalen Plattformen kann man dann den Erneuerbaren-Ausbau optimieren, die Kapazitäten flexibilisieren und auch die Netze ENERGIEPOLITIK IN EUROPA STREITFRAGEN 01|2014

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» DAS WICHTIGSTE IST DERZEIT, EINEN LIQUIDEN INTRADAY-MARKT ZU SCHAFFEN, UM DIE INTEGRATION DER ERNEUERBAREN IN DEN MARKT ZU VEREINFACHEN.« sowie Handelsplattformen optimal ausbauen. Eine solche Kooperation auf regionaler Ebene macht Sinn, nicht aber eine Zusammenarbeit über sehr große Entfernungen hinweg, die allein schon an den gegenwärtigen technischen Gegebenheiten scheitern muss. Mit dem europäischen Emissionszertifikatehandel steht ein europaweit geltendes System zur Verfügung. Könnte das nicht das einzige Instrument sein, um die EU-Klimaziele zu erreichen, oder sollte es weitere geben? Wenn ja, aus welchen Gründen? Das ETS ist komplementär zur Effizienz- und zur Erneuerbaren-Politik. Aber, wie ich schon vorhin sagte, es hat in den vergangenen acht Jahren praktisch nichts zu Klimaschutzinvestitionen beigetragen. Wir haben gegenwärtig rund 2,6 Milliarden CO2- Zertifikate zu viel. Davon sind 600 bis 700 Millionen verursacht durch die Wirtschaftskrise. Rund 1,5 Milliarden an Überschuss aber sind entstanden durch die Möglichkeit, international Zertifikate zuzukaufen. Das hat das System komplett lahmgelegt. TURMES

Die EU hat ein temporäres Backloading beschlossen, bei dem CO2-Zertifikate aus dem ETS herausgenommen werden sollen. Was müsste aus Ihrer Sicht noch unternommen werden, um das System zu reformieren? TURMES Die 900 Millionen Zertifikate, die jetzt über das Backloading aus dem System herausgenommen werden sollen, reichen gerade aus, damit der Patient auf der Intensivstation nicht stirbt. Mehr ist das nicht. Das ETS ist hochvolatil, es ist sehr schwierig zu kalibrieren. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt: Wenn man sich einzig und allein auf das ETS konzentriert, sinkt die Investitionssicherheit noch weiter. Und das ist ja wohl das Letzte, was auch die Chefs der Energieunternehmen haben wollen.

Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die von der Kommission vorgeschlagene Einführung einer sogenannten Marktstabilitätsreserve, mit der künftig auf ein Über- oder Unterangebot an CO2-Zertifikaten reagiert werden soll?

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TURMES Das ist eine intelligente Idee. Doch kann sie nur wirken, wenn Folgendes möglich ist: Die Kommission nimmt Anfang der 20er Jahre rund 1,5 Milliarden Zertifikate aus dem Markt und führt sie erst gegen Ende der 30er Jahre wieder in den Markt zurück. Nur dann wird der CO2-Preis auf ein Niveau von etwa 30 Euro steigen. Zwei Fragen habe ich aber dazu: Gibt das der Text des Kommissionsvorschlags her? Und zweitens: Wird es den politischen Prozess überleben? Wenn Polen und einige Teile der Industrie dagegen sind, wird es ein schwaches Instrument bleiben, das den CO2-Preis nicht verändern kann.

Noch einmal zurück zu unserem Ausgangspunkt. Was muss geschehen, damit der europäische Binnenmarkt für Energie doch noch zustande kommt? TURMES Das Wichtigste ist derzeit, einen liquiden IntradayMarkt zu schaffen, um die Integration der Erneuerbaren in den Markt zu vereinfachen. Weil das ETS meines Erachtens bis weit in die 20er Jahre hinein nicht funktionieren wird, muss man zweitens über einen Carbon-floor-Preis innerhalb von Kerneuropa nachdenken, um wenigstens in dieser Preiszone die enormen Verzerrungen zugunsten von Kohle und zulasten von Gas und Erneuerbaren zu beseitigen. Und drittens müssen wir schnell zu einem neuen Marktdesign kommen. Denn der alte Energy-onlyMarkt ist nicht kompatibel mit einem System, das dominiert wird von variablen Energieträgern, die zu Grenzkosten nahe null produzieren. Das ist die 100 000-Dollar-Frage, um den Binnenmarkt als Markt überhaupt zu erhalten.

In diesem Markt werden Ihrer Ansicht nach kleine Energieversorger eine große Zukunft haben. TURMES Mit der weiteren Kostendegression insbesondere bei PV-Anlagen wird die dezentrale Energieversorgung eine immer wichtigere Rolle spielen. Das bietet Bürger-Kooperativen, kleinen Stadtwerken und anderen kleineren Energieerzeugern vielfältige Möglichkeiten, im Wettbewerb auf dem Strommarkt zu bestehen. Es wird auch weiter große Energieerzeuger geben, allerdings nur, wenn sie den schnellen und radikalen technologischen Wandel von Großkraftwerken zu kleineren Einheiten hinbekommen.


STROMPREISREGULIERUNG IM VERTRIEBSMARKT Das 2009 vom Europäischen Parlament verabschiedete dritte Energie-Binnenmarktpaket schreibt unter anderem vor, regulierte Endkundenpreise abzuschaffen, um uneingeschränkten Wettbewerb im Vertriebsmarkt zu garantieren. Diese Vorgabe haben noch lange nicht alle EU-Mitgliedstaaten umgesetzt.

Länder mit regulierten Preisen für Haushaltskunden: Estland Bulgarien Rumänien Frankreich Litauen Griechenland Lettland Portugal Polen Ungarn Dänemark Slowakei Spanien Italien Malta Belgien Zypern

Länder mit regulierten Preisen für Nicht-Haushaltskunden: Frankreich Estland Bulgarien Rumänien Ungarn Griechenland Spanien Slowakei Italien Malta Zypern


DR. KONSTANTIN STASCHUS

ist Generalsekretär bei ENTSO-E, dem Verband der europäischen Übertragungsnetzbetreiber.

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JEAN-FR ANÇOIS CONIL-LACOSTE

ist CEO der Börse für Stromspotmärkte EPEX SPOT in Paris.


» DIE EUROPAWEITE MARKTKOPPLUNG IST DAS ZIELMODELL DER EU.« »  WAS WIR BRAUCHEN, IST EINE KONSO­ LIDIERUNG DER STROMBÖRSEN.«

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Am 4. Februar startete ein Pilotprojekt zur Marktkopplung für den kurzfristigen Stromhandel in Nordwesteuropa (NWE). Das Projekt wurde von vier Strombörsen und 13 Übertragungsnetzbetreibern (ÜNB) realisiert. Jean-François Conil-Lacoste von der Strombörse EPEX SPOT und Dr. Konstantin Staschus vom Verband ENTSO-E waren beteiligt und diskutieren über die Bedeutung gekoppelter Märkte. Herr Conil-Lacoste, Herr Dr. Staschus, am NWE-Projekt nehmen Marktteilnehmer aus Deutschland, Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Österreich, Großbritannien, Lettland, Litauen, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Polen und Schweden teil. Ist das Projekt wegweisend für den angestrebten europaweiten Energie-Binnenmarkt? JEAN-FRANÇOIS CONIL-LACOSTE Das Erreichen der Marktkopplung in NWE, die ja nicht weniger als 75 Prozent des europäischen Strombedarfs abdeckt, setzt nicht nur hinsichtlich ihrer Größe und Komplexität neue Maßstäbe. Sie ist auch aufgrund der im Rahmen des Projekts zum Einsatz gebrachten Systeme ein Meilenstein für den europaweiten Binnenmarkt. Wir nennen sie die PCR-Lösung. PCR steht für Price Coupling of Regions (Preiskopplung der Regionen) und ist eine Initiative von sieben europäischen Strombörsen zur Entwicklung eines Systems aus Prozessen und IT-Lösungen, die mit sämtlichen Strommärkten Europas kompatibel sind. Alle anderen Regionen in Europa, die eine Marktkopplung anstreben, werden ebenfalls auf PCR zurückgreifen können, sodass schließlich auch eine Kopplung unter den Regionen möglich sein wird. NWE ist der erste große Schritt auf dem Weg zum Energie-Binnenmarkt.

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Glückwünsche und ein großes DR. KONSTANTIN STASCHUS Dankeschön an die Mitarbeiter der Strombörsen und der Übertragungsnetzbetreiber aus all diesen Ländern, inklusive 50 Hertz Transmission, Amprion, TenneT and TransnetBW, die diesen Meilenstein mit exzellenter Zusammenarbeit erreicht haben! Diese Preiskopplung ist das größte Projekt dieser Art weltweit. Sie vereinfacht den Stromhandel, erhöht die Liquidität, bringt einen stabilen Referenzpreis, und spart den Kunden etwa 150 Millionen Euro pro Jahr. Durch sie kann der Wert einer Netzverbindung um bis zu 20 Prozent gesteigert werden. Die anderen ÜNB Europas haben das NWE-Projekt systematisch verfolgt und können jetzt darauf aufbauen. Z.B. testen Spanien und Portugal das Programm bereits in täglichen ParallelBerechnungen und koppeln sich mit NWE in den nächsten Monaten. Auch arbeiten die ÜNB in Italien, Schweiz, Zentral-West- und Osteuropa an der Kopplung und an weiterentwickelten lastflussbasierten Kapazitätsberechnungen. Durch europaweite Marktkopplung auf Basis des PCR-Algorithmus kommt jederzeit die preiswerteste Stromerzeugung zum Einsatz und gelangt optimal über die Netze dorthin, wo sie am meisten wert ist. Deshalb ist sie das Zielmodell der EU und deshalb steht sie im Netzcode von ENTSO-E. Käufer und Verkäufer sind automatisch Nutznießer des internationalen Stromaustauschs, ohne explizit Übertragungsleistung erwerben zu müssen. Früher floss der Strom auf manchen Verbindungen ein Drittel der Zeit in die falsche Richtung, weil zwischen der Auktion für die


Übertragung und der Börsenpreisbildung sich im System etwas änderte. Dieser Vorteil der Marktkopplung wird umso wichtiger, je mehr Erneuerbare Energie wir nutzen, denn Wind und Sonnenschein ändern sich oft, und es kann große Überschüsse an Strom in Regionen mit viel Wind geben, die dann in andere Regionen mit höheren Börsenpreisen transportiert werden müssen. Herr Conil-Lacoste, mit der Kopplung der Strommärkte erhoffen sich die beteiligten Staaten niedrigere Börsenstrompreise, mehr Angebot und Wettbewerb und dadurch letztendlich sinkende Energiepreise für die Endkunden. Ist das aus Ihrer Sicht Wunsch oder Wirklichkeit? Funktioniert der grenzüberschreitende Stromhandel wie geplant? CONIL-LACOSTE Der Effizienzgewinn für sämtliche Marktteilnehmer ist bemerkenswert. Mit dem Einsatz präziser Marktmechanismen und der kombinierten Strompreis- und Stromflussbestimmung an den Grenzen statt der Berechnung auf Basis von Preisvorhersagen, die einer Lotterie gleichen, lassen sich jährlich Hunderte von Millionen Euro gewinnen. Das ist kein Wunsch, sondern unwiderlegbare Wirklichkeit.

Herr Staschus, Voraussetzung für das Market Coupling ist eine funktionierende Infrastruktur. Welche Herausforderungen stellt das an die Übertragungsnetzbetreiber? STASCHUS Marktkopplung nutzt die verfügbare Übertragungsleistung optimal, aber wenn es nicht genug Übertragungsleistung gibt, muss preiswerte Überschussenergie evtl. ungenutzt bleiben. Z.B. erzeugen Dänemark und Norddeutschland an windreichen Tagen mehr Strom als sie verbrauchen; wenn das Netz zu schwach ist, kann der Überschuss auch nicht in andere Regionen transportiert werden. Solcher Überschuss erzielt auch anderswo nicht immer hohe Preise, aber selbst niedrige positive Preise sind besser, als die Windenergie abschalten zu müssen. Deshalb brauchen wir mit mehr Erneuerbarer Energie ein starkes Netz und zusätzliche Leitungen – diese haben positive Nutzen-Kosten-Ergebnisse in der ENTSO-E-Zehnjahres-Netzplanung, wenn sie weniger kosten als das, was sie durch Stromhandel und optimalen Kraftwerkseinsatz sparen helfen. Leider verzögern sich oft Leitungsneubauten wegen mangelnder öffentlicher Akzeptanz. Das ist eine große Gefahr für die Bezahlbarkeit der Energiewende. Wir sind dankbar für jede Gelegenheit wie diese hier zu erklären, warum Investitionen in die Netze für die Energiewende so wichtig sind.

» DIE NETZCODES SIND DIE GESETZLICHE GRUNDLAGE FÜR EUROPAS STROMBINNENMARKT.« » DER EFFIZIENZGEWINN FÜR SÄMTLICHE MARKTTEILNEHMER IST BEMERKENSWERT.«

Herr Conil-Lacoste, gekoppelte Märkte sollen die Liquidität fördern. In welchem Umfang sind Kapazitätsengpässe vertretbar? CONIL-LACOSTE Bei der Marktkopplung nutzen wir die Verbindungsleitungen auf die wirtschaftlich effizienteste Weise: Die verfügbaren Kapazitäten, die täglich von den ÜNBs errechnet und an die Auftragsbücher der Strombörsen übermittelt werden, werden zu hundert Prozent ausgenutzt. Verbleibende Engpässe bei den Verbindungsleitungen dienen als zuverlässige Messgröße für den Bedarf an Investitionen: in Übertragungsleitungen, aber auch in die Erzeugungsarten auf beiden Seiten der Grenze.

Herr Staschus, welche Rolle spielen dabei die von ENTSO-E entwickelten network codes? STASCHUS Die Netzcodes sind die gesetzliche Grundlage für Europas Strombinnenmarkt, sie bringen Harmonisierung, Integration und Effizienz. Zehn Codes decken drei Schlüsselthemen der Stromversorgung und der Energiewende ab: Anschlussbedingungen, Systembetrieb und Märkte. Unsere drei Marktcodes geben uns all die Regeln, die der grenzüberschreitende Stromhandel braucht – von einem Jahr vor Echtzeit bis hin zur Echtzeit.

Die meisten Codes werden dieses Jahr zu Europagesetzen, durch den Komitologieprozess der Kommission mit den Mitgliedstaaten. Sie stellen sicher, dass wir stetigen Fortschritt haben werden, mit Erfolgen wie bei der NWE-Marktkopplung, über alle Handelszeiten und ganz Europa. Übertragungsnetzbetreiber und Strombörsen arbeiten bei der Kopplung von Strommärkten Hand in Hand. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit aus Ihrer Sicht? STASCHUS Diese Kooperation ist essentiell. Die ÜNB bieten die größtmögliche Übertragungskapazität für den Handel an, ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden, und die Strombörsen berücksichtigen die technischen Grenzen der sicheren Übertragung. Der Erfolg des NWE-Projekts zeigt die Reife dieser Zusammenarbeit; das lastflussbasierte in Zentraleuropa ebenso. CONIL-LACOSTE Wir haben unterschiedliche Hintergründe, aber wir versuchen, uns einander anzunähern und in dieselbe Richtung zu blicken. Das ist der Kern der Zusammenarbeit: Es sind vielleicht unterschiedliche Dinge, die uns antreiben, aber am Ende wollen wir im Interesse unserer Kunden dasselbe erreichen. Mit der Einführung von Marktmechanismen dienen wir unseren jeweiligen Kunden und letztendlich auch der europäischen Sache insgesamt.

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Wie sehen Sie die Einbindung der Netznutzer in die Projekte? Was funktioniert gut, und was kann aus Ihrer Sicht noch weiter verbessert werden?

In Deutschland wird derzeit die Aufspaltung der deutschösterreichischen Preiszone diskutiert. Welche Gründe gibt es dafür?

STASCHUS Für die Netznutzer und Marktteilnehmer werden diese Projekte gemacht, und ihre Vorschläge und Forderungen sind uns sehr wichtig. Hilfreich sind für uns die Erwartungen und der Druck von EURELECTRIC und EFET, Day-Ahead- und Intraday-Marktkopplung so früh wie möglich einzuführen. Die Stakeholder werden regelmäßig informiert in der ACER Stakeholders Electricity Advisory Group (ASEAG) und durch ENTSO-E Stakeholder-Workshops. Nicht zuletzt spielen Marktteil­nehmer eine wichtige Rolle beim Testen aller neuen Kopplungs-Programme, die ÜNB und Strombörsen entwickeln.

CONIL-LACOSTE Wir hören immer wieder, dass Nachbarländer Deutschlands und Österreichs unter Ringflüssen (loop flows) leiden, die durch die verstärkte Einspeisung aus Erneuerbaren Energien verursacht werden. Es ist jedoch keineswegs erwiesen, dass die Aufspaltung der Preiszonen dieses Problem lösen wird, da es solche Flüsse schon immer gegeben hat. Wir sind entschieden gegen eine solche Aufspaltung der deutsch-österreichischen Preiszone, denn sie hat Vorbildcharakter für den EnergieBinnenmarkt. Das wäre ein erheblicher Rückschritt. Die Idee des Aufspaltens dieses höchst liquiden und entwickelten Kurzfristmarkts ist mit dem Ziel der europaweiten Energiemarktkopplung unvereinbar.

CONIL-LACOSTE Man kann eine Reform dieser Größenordnung nicht ohne die Marktteilnehmer umsetzen. Kaum eine Branche ist so von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt wie die Stromwirtschaft. Wir müssen alle an einem Strang ziehen. Deswegen sind wir ununterbrochen mit allen Akteuren im Dialog und halten sie direkt oder über die Presse auf dem Laufenden.

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STASCHUS Das Zielmodell für den europäischen Strommarkt basiert auf Preiszonen. Heute korrespondieren viele Zonen mit Staatsgrenzen. Aber wenn man die ENTSO-E-Netzkarte anschaut, erkennt man von der Netzdichte her kaum, wo die Staatsgrenzen sind. Engpässe sind ein Phänomen des Stromsystems und kein politisches; daher sollen technische und wirtschaftliche Analysen zeigen, wie groß, wie klein oder über wie viele


Bereits seit 2010 beschäftigt sich die in Brüssel für Energie zuständige Generaldirektion unter Führung des Finnen Matti Supponen mit der Idee, Europa in eine Vielzahl von Preiszonen zu unterteilen. Stehen die Überlegungen zur Marktaufteilung nicht dem gemeinsamen Ziel eines europaweiten Binnenmarktes entgegen? Ihre Position? CONIL-LACOSTE Wir sollten uns erst einmal auf die erfolgreiche Umsetzung der laufenden Projekte und der europaweiten Marktkopplung konzentrieren. Sollten sich hierbei Ineffizienzen zeigen, ist es immer noch früh genug, über Preiszonen nachzudenken. Der Network Code zu Kapazitätsallokation und Engpassmanagement sieht konkrete Verfahren für eine Neubewertung vor. Aber noch mal: Wir sollten uns zuerst auf die nächsten Schritte konzentrieren. Und das sind PCR und die Marktkopplung. STASCHUS Redispatch und Preiszonen sind normale Instrumente, den freien europaweiten Stromhandel ohne Risiken für die Versorgungssicherheit zu gestalten. Ihre Notwendigkeit ergibt sich daraus, dass Übertragungsleitungen zur Eliminierung von Engpässen nur gebaut werden, wenn ihr Nutzen ihre Kosten übersteigt. Das Ziel ist es, Markt- und Netzrealitäten transparent anzunähern und so die richtigen Investitionssignale für Netz und Erzeugung zu geben. Kunden und Stromerzeuger sollen so viele betriebliche Entscheidungen wie möglich treffen, die ÜNB mit Redispatch möglichst wenig die Marktergebnisse korrigieren müssen.

» DIE ÜNB DENKEN EUROPÄISCH UND VERFOLGEN EUROPÄISCHE ZIELE.« » WIR VERSUCHEN, IN DIESELBE RICHTUNG ZU BLICKEN.«

Staaten zusammen die für die Kunden besten Preiszonen sind. Zu große oder zu kleine Zonen können Geld verschwenden oder gar die Versorgungssicherheit beeinträchtigen. Aber Änderungen an den Zonen können auch Extrakosten verursachen für Zählung und Bilanzkreisabrechnung, und können Liquidität, Marktmacht und Hedgingmöglichkeiten beeinflussen. Deshalb involvieren Preiszonenstudien nicht nur die ÜNB, sondern auch Regulatoren sowie Konsultationen der Marktteilnehmer. Zum Glück fällt durch Marktkopplung ein wichtiger Nachteil geänderter Preiszonen weg, nämlich die Transaktionskosten und das von Herrn Conil-Lacoste beschriebene Potenzial des Handelns in der falschen Richtung, die es früher gab. Wegen wachsender internationaler Ringflüsse, ungeplanter Lastflüsse und Redispatchmaßnahmen bewertet ENTSO-E zurzeit fast alle europäischen Preiszonen in einer Studie. Der Netzcode Capacity Allocation and Congestion Management etabliert solche Studien in regelmäßigen Abständen, damit bei dem Umbau in ganz Europa in Richtung Erneuerbare Energien der Stromhandel immer optimal und sicher stattfinden kann.

Je mehr Wind- und Solarenergie Europa nutzt, desto wichtiger wird es, dass Stromerzeugung und Nachfrage in gut gewählten Preiszonen auf die Fluktuationen in den Day-Ahead-, Intradayund Balancing-Märkten reagieren. Der PCR-Algorithmus, u.a. nach ÜNB-Anforderungen entwickelt, optimiert dies für alle Kunden. Die Marktkopplung etabliert also einen echten europäischen Markt, wo Staats- und Preiszonengrenzen für die Kunden fast unsichtbar sind und keine Transaktionskosten verursachen. Herr Conil-Lacoste, was bedeutet ein funktionierendes Market Coupling für die Börsen-Landschaft in Europa? Reicht für einen gemeinsamen europäischen Großhandelsmarkt für Strom nicht eine Börse aus? CONIL-LACOSTE Eine einzige Strombörse für ganz Europa ist weder realistisch noch wünschenswert. Das wäre im Hinblick auf die Betriebssicherheit zu riskant. Man braucht mehrere solide regionale Strombörsen, die sich in einer so komplexen Operation wie der Marktkopplung auf angemessen dezentralisierte Weise gegenseitig absichern und die Verantwortung teilen. Wir werden langfristig sicher keine 28 nationalen Strombörsen haben. Was wir brauchen, ist eine Konsolidierung der Strombörsen.

Herr Staschus, die europäische Integration der Strommärkte erfordert enge Zusammenarbeit und Abstimmung der Übertragungsnetzbetreiber. Wie europäisch sind denn die nationalen Übertragungsnetzbetreiber? STASCHUS Die ÜNB arbeiten seit 1951 in Europa eng zusammen, weil der Verbund hilft, Reserven zu sparen und die günstigsten Kraftwerke zu nutzen. Aber der europaweite Strombinnenmarkt und der immense Umbau auf mehr Erneuerbare Energie hat die ÜNB-Zusammenarbeit unter dem Schirm von ENTSO-E seit 2009 noch viel intensiver werden lassen. Weil sie täglich die mit Wind und Sonne in europäischen Größenordnungen fluktuierenden Lastflüsse managen müssen, denken die ÜNB europäisch und verfolgen miteinander und in ENTSO-E eine Vielzahl europäischer Ziele.

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GÜNTHER OETTINGER

ist seit Februar 2010 EU-Kommissar für Energie. Seine wichtigste Aufgabe besteht in der Entwicklung und Umsetzung einer europäischen Energiepolitik.


» KEINE NATIONALEN ALLEINGÄNGE«

Günther Oettinger, EU-Kommissar für Energie, ist davon überzeugt, dass den Mitgliedstaaten zunehmend bewusst ist, dass sie gemeinsam stärker sind als jeder für sich alleine und Kooperationen sinnvoll sind. Im Interview spricht Oettinger zudem über Kapazitätsmechanismen sowie den notwendigen Ausbau der Infrastruktur.

Im Jahr 2009 erhielt die EU durch den Lissabon-Vertrag erstmals explizite Kompetenzen in der Energiepolitik, z.B. im Hinblick auf die Gewährleistung der Versorgungssicherheit und der Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarktes. Der Energiemix bleibt aber weiterhin Sache der Mitgliedstaaten. Wo steht die europäische Energiepolitik heute? Haben wir es aktuell nicht eher mit einer Renationalisierung zu tun als mit einer gemeinschaftlichen Strategie? GÜNTHER OETTINGER Es ist in den EU-Verträgen verankert, dass die Mitgliedstaaten ihren Energiemix selbst bestimmen. Es ist also Entscheidung des einzelnen Landes, ob es auf Kernkraft setzt oder lieber auf Wasserkraft. Die Kommission respektiert das, aber wir nehmen natürlich unsere Kompetenzen in anderen Bereichen der Energiepolitik wie Binnenmarkt, Versorgungssicherheit und Energieeffizienz wahr. Und es gibt sehr gute Gründe dafür, warum wir eine Europäisierung der Energiepolitik brauchen. Langfristige Kosteneffizienz steht dabei im Vordergrund. Nationale Alleingänge sind in jedem Fall kontraproduktiv. So müssen wir uns zum Beispiel bei der Förderung von Erneuerbaren Energien besser abstimmen: 28 nationale Fördermodelle sind dem übergeordneten Ziel – Ausbau der Erneuerbaren in der EU auf kosteneffiziente Weise – sicherlich nicht dienlich. Und wir müssen den Binnenmarkt vollenden, das heißt nicht-diskriminierende, faire Bedingungen für alle Marktteilnehmer zum Wohle der Verbraucher und der Unternehmen schaffen.

Daran arbeiten wir mit Hochdruck, aber gleichzeitig versuchen einige Mitgliedstaaten, ihre Strommärkte zu re-nationalisieren: Manche nationalen Regulierer setzen zum Beispiel allgemeine Endkundenpreise fest, ohne sich dabei auf die besonders Bedürftigen zu beschränken. Dadurch wird der Markt unnötig verzerrt und Investitionen werden behindert. Und in etlichen Ländern sind die Möglichkeiten für Haushalte und Unternehmen, den Anbieter zu wechseln, sehr begrenzt. Dabei könnten Verbraucher in der EU Schätzungen zufolge bis zu 13 Milliarden Euro im Jahr sparen, wenn sie Strom zum günstigsten Tarif bezögen. Gleichzeitig bin ich optimistisch, dass den Mitgliedstaaten zunehmend bewusst ist, dass sie gemeinsam stärker sind als jeder für sich alleine. Das hat zum Beispiel die Gaskrise im Jahr 2009 gezeigt, in deren Folge viel getan wurde, um die Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den Ländern zu verbessern. Anfang des Jahres hat die Europäische Kommission ihre Vorschläge für den energie- und klimapolitischen Rahmen bis 2030 vorgestellt. Beim Ausbau der Erneuerbaren Energien wollen Sie den EU-Staaten mehr Spielraum lassen und keine nationalen Ausbauziele vorgeben. Stattdessen soll es ein verbindliches europäisches Ziel von 27 Prozent geben. Wie wollen Sie sicherstellen, dass das Ziel tatsächlich auch erreicht wird, wenn Sie doch keine nationalen Ziele vorgeben?

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ger bedürfen zusätzlicher Leitungen, damit der Strom von den Windparks und Solaranlagen dorthin transportiert werden kann, wo er gebraucht wird. Derzeit gibt es zum Beispiel keine ausreichende Verbindung vom Norden Deutschlands, wo die Windräder sind, zu den Verbrauchern im Süden. Mitte März hat das EU-Statistikamt übrigens aktuelle Zahlen vorgelegt, die zeigen, dass wir auf Kurs sind, den Anteil der Erneuerbaren bis 2020 auf 20 Prozent am Gesamtverbrauch zu steigern. Demnach ist der Anteil der Erneuerbaren im Jahr 2012 auf 14,1 Prozent gestiegen. Das war gegenüber 2011 ein Zuwachs von mehr als einem Prozentpunkt. Indem wir jetzt schon einen Rahmen für 2030 mit einem weiterführenden Ziel für den Ausbau der Erneuerbaren präsentiert haben, schaffen wir Sicherheit für Unternehmen und setzen Anreize für weitere Investitionen in erneuerbare Technologien. Deutschland hat sich für die Umstellung der Energieversorgung auf Erneuerbare Energien entschieden. Andere Länder versuchen dagegen, Klimaschutz und Versorgungssicherheit mit anderen Mittel zu erreichen, z.B. mit der Kernenergie. Wie wirkt sich das auf die Wettbewerbsfähigkeit – insbesondere diejenige Deutschlands – aus?

»IN DEUTSCHLAND STIEGEN DIE STROMPREISE FÜR INDUSTRIE- UND HAUSHALTSKUNDEN VON 2008 BIS 2012 UM MEHR ALS 20 PROZENT.«

OETTINGER Das Ziel zum Ausbau der Erneuerbaren Energien soll auf EU-Ebene verbindlich sein. Das heißt, wenn das Ziel beschlossen wird, dann werden die Kommission, der Rat und das Parlament daran gebunden sein. Alle Akteure auf europäischer Ebene werden in der Folge daran arbeiten, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, um den Anteil der Erneuerbaren bis zum Jahr 2030 auf mindestens 27 Prozent zu steigern. Unser Vorschlag sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Pläne vorlegen müssen, in denen sie ihre Vorhaben zum Ausbau der Erneuerbaren darlegen. Die Kommission wird das dann bewerten. Wenn nötig, werden wir die Staaten auffordern, ihre Pläne nachzubessern. Wir wollen den Mitgliedstaaten einerseits eine große Flexibilität bei der Erreichung des gemeinsamen Ziels einräumen. Andererseits muss es einen klaren, europäischen Rahmen zur Koordinierung der nationalen Anstrengungen geben, der sicherstellt, dass das Erneuerbaren-Ziel erreicht wird. Und die Bundesländer müssen im Rahmen der nationalen Politik ebenfalls ihren Beitrag leisten. Wir haben auch Möglichkeiten, die Zielerreichung auf europäischer Ebene zu unterstützen. Ein Hebel ist zum Beispiel Horizont 2020, das Programm für die Forschungsförderung. Wichtig ist zudem die Förderung von Infrastruktur, also zum Beispiel der Bau von Stromnetzen. Denn zusätzliche erneuerbare Energieträ-

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OETTINGER Nicht der Ausstieg aus der Kernenergie ist das Problem, sondern der Ausbau der Erneuerbaren Energien im Schweinsgalopp. Wir müssen die Reihenfolge ändern: Es muss Priorität haben, die Netze auszubauen und parallel dazu müssen Speichermöglichkeiten entwickelt werden. Der weitere Ausbau von Solar- und Windanlagen muss in direkten Zusammenhang gestellt werden mit dem Ausbau der Infrastruktur. Und dabei muss verstärkt auf die Standortwahl geachtet werden. Installationen sind dort sinnvoll, wo die Relation zwischen Kosten und Nutzen stimmt, sprich ausreichend Sonne und Wind vorhanden ist. Das war in der Vergangenheit oftmals nicht der Fall. Die intensive Förderung Erneuerbarer Energien in Deutschland ist nicht ohne Folgen für die Energiepreise geblieben. In Deutschland stiegen die Strompreise für Industrie- und Haushaltskunden von 2008 bis 2012 um mehr als 20 Prozent. Unsere Studie, die wir gemeinsam mit dem Energie- und Klimarahmen für 2030 im Januar vorgelegt haben, verdeutlicht das. Der Preisanstieg, der vor allem auf die EEG-Umlage und die höhere Mehrwertsteuer zurückzuführen ist, hat die Stromkosten zu einer Art »zweiten Miete« werden lassen. In Deutschland machen Steuern und andere Abgaben mehr als 50 Prozent des Strompreises aus. Die Regierung sollte diese Abgabenlast überprüfen. Wir müssen dafür sorgen, dass Energie bezahlbar bleibt.

Was halten Sie in diesem Zusammenhang von bilateralen Kooperationen, wie sie aktuell von Frankreich und Deutschland geplant werden, um die Energiewende europaweit zu koordinieren, die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und die Energiekosten zu begrenzen? OETTINGER Kooperation ist immer willkommen, besonders wenn sie zu einem vernünftigen Ansatz führt, zum Beispiel im Hinblick auf die Kapazitätsmärkte. Kapazitätsmechanismen mögen notwendig sein. Aber wenn 28 EU-Mitglieder meinen, dass sie sich jeweils eigene Reservekraftwerke bauen müssen und bei der Kalkulation der Versorgungssicherheit bei Strom Kapazitäten jenseits der Grenze nicht einbeziehen, konterkariert das den Binnenmarkt – und ist zudem teuer. Es hat Sinn, grenzüberschreitend zu denken, denn das sollte den Bedarf an Reservekapazitäten deutlich verringern.

Ende 2014 soll der europäische Energie-Binnenmarkt vollendet werden. Darauf haben sich die Staats- und Regierungschefs Anfang 2011 verständigt. Es ist kein Geheimnis, dass es an diversen Stellen noch hakt. Worauf wird die neue Europäische Kommission ihren Fokus legen, um den Binnenmarkt voranzubringen? OETTINGER Zum einen wachen wir natürlich über die Umsetzung des dritten Binnenmarktpakets. Als Hüterin der EU-Verträge ist die Kommission verpflichtet, Schritte im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren zu setzen, wenn Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, also die Regeln, die für einen fairen Wettbewerb sorgen, nicht fristgerecht umsetzen. Ein besonderes Augenmerk wird in den kommenden Monaten auch auf den Endkundenmarkt gelegt werden. Der Konsument muss die Möglichkeit haben, seinen Energielieferanten zu wechseln. Mehr Wettbewerb zwischen Energielieferanten bedeutet bessere Preise und bessere Dienstleistungen. Und der Verbraucher muss über seinen Energieverbrauch voll informiert sein. So sieht er sein Einsparungspotenzial und kann zwischen Tarifen wechseln, die tageszeitabhängig sind. Eine Grundvoraussetzung für einen funktionierenden Binnenmarkt ist der Ausbau der Infrastruktur. Wir haben im Oktober des Vorjahres eine Liste mit 248 Projekten vorgelegt, die im gemeinsamen Interesse der EU sind. Die Projekte werden von beschleunigten Planungs- und Genehmigungsverfahren profitieren. Ihre Betreiber sollen nicht zehn Jahre auf einen Bescheid warten müssen, sondern die Verfahren sollen maximal dreieinhalb Jahre dauern. Bei den Projekten geht es in erster Linie um Stromleitungen und Gasleitungen, aber auch um Speichermöglichkeiten und Flüssiggasterminals. Diese Projekte haben auch die Chance, von EU-Mitteln bezuschusst zu werden. Dafür stehen im Rahmen der »Connecting Europe Facility« 5,8 Milliarden Euro in den kommenden Jahren bis 2020 zur Verfügung. Bis zum Sommer wird die Kommission das Verfahren für die Auswahl von Projekten starten, die EU-Förderung erhalten sollen. Da geht es dann also um die erste Tranche dieser insgesamt 5,8 Milliarden Euro. Die Entscheidung über die Mittelvergabe wird noch heuer fallen.

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EIN ZIEL, VIELE WEGE

Die EU hat ihre energiepolitischen Ziele weit weniger ambitioniert gesteckt, als wir das im Energiewende-seligen Deutschland erwartet haben. Was sagen eigentlich andere Länder zu den EU-Zielen 2030? Pierre-Alain Graf, CEO Swissgrid (Schweiz), und Angela Knight vom britischen Energieverband erläutern die Positionen ihrer Länder.

» DIE INLÄNDISCHE STROMPRODUKTION AUS ERNEUERBAREN ENERGIEN SOLL 2020 BEI MINDESTENS 4400 GIGAWATTSTUNDEN LIEGEN.« Die EU-Kommission will bis 2030 EU-weit den Ausstoß von Treibhausgasen um 40 Prozent reduzieren und den Anteil der Erneuerbaren EU-weit auf 27 Prozent steigern, aber ohne verbindliche nationale Vorgaben. Das Europäische Parlament dagegen fordert eine Steigerung des Erneuerbaren-Anteils auf 30 Prozent mit national verpflichtenden Zielen und zusätzlich eine Verbesserung der Energieeffizienz um 40 Prozent. Welche Strategie ist Ihrer schweizerischen näher? PIERRE-ALAIN GRAF Auch die Schweiz richtet ihre Energiepolitik neu aus. Wie sie konkret ausgestaltet wird, ist zurzeit Gegenstand der politischen Diskussion. Ziele der neuen Energiestrategie sind der etappenweise Umbau der Energieversorgung bis ins Jahr 2050 und der Ausstieg aus der Kernenergie. Um dies zu erreichen, wird der Anteil der Erneuerbaren Energien erhöht. So ist geplant, die Stromproduktion aus Wasserkraft sowie den Erneu-

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erbaren Energien wie Sonne, Biomasse, Wind usw. auszubauen. Die inländische Stromproduktion aus Erneuerbaren Energien soll im Jahr 2020 bei mindestens 4 400 GWh – heute sind es rund 2 000 GWh – und 2035 bei mindestens 14 500 GWh liegen. Im Weiteren soll die inländische Stromproduktion aus Wasserkraft von rund 35 400 GWh bis 2035 auf mindestens 37 400 GWh pro Jahr ausgebaut werden. Ein wichtiger Pfeiler der neuen Energiestrategie ist auch die Energieeffizienz. Der durchschnittliche Energieverbrauch pro Person und Jahr soll gegenüber dem Referenzjahr 2000 bis 2020 um 16 Prozent und bis 2035 um 43 Prozent gesenkt werden. Die Schweiz ist nicht EU-Mitglied, als wichtiges Transitland aber unmittelbar betroffen von der Energiepolitik der EU. Welche Auswirkungen erwarten Sie, wie bereiten Sie sich vor?


GRAF Die Schweiz ist tatsächlich sehr eng mit ihren europäischen Nachbarn verbunden und damit von den Entwicklungen ihrer Energiepolitik betroffen. Rund 40 Verbindungen im Schweizer Übertragungsnetz stellen den Verkehr mit den benachbarten Ländern sicher. Über zehn Prozent der europäischen Stromtransite gehen durch die Schweiz, die immer wieder auch als Batterie Europas bezeichnet wird. Auch wenn die Schweiz nicht Mitglied der EU ist, ist die Zusammenarbeit enorm wichtig, um den gegenseitigen Stromaustausch sicherzustellen. Als Mitglied der ENTSO-E ist Swissgrid in engem Kontakt mit allen europäischen Übertragungsnetzbetreibern. So werden beispielsweise im Bereich Netzbetrieb und Netzsicherheit gemeinsam Regelwerke erarbeitet, um die größtmögliche Versorgungssicherheit und Effizienz im Übertragungsnetz zu gewährleisten. Im Weiteren engagiert sich Swissgrid in der TSO Security Cooperation (TSC). Dies ist eine Kooperation von zwölf europäischen Übertragungsnetzbetreibern, um die Energieversorgung von über 200 Millionen Europäern sicherzustellen und die Sicherheit in den Höchstspannungsnetzen in Zentraleuropa weiter zu erhöhen. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit hat für Swissgrid einen sehr hohen Stellenwert.

Bis 2014 soll der Europäische Energie-Binnenmarkt vollendet sein. In diesem Rahmen sollen auch die Interkonnektoren zwischen den Ländern ausgebaut werden. Wie stark ist eigentlich die Schweiz integriert in das europäische Stromsystem, und was sind die Pläne für die Zukunft? Was bedeutet es für Sie, dass die Gespräche zwischen der Schweiz und der EU nach dem Schweizer Votum gegen Masseneinwanderung erst einmal auf Eis gelegt wurden? GRAF Dass die Verhandlungen über das Stromabkommen zwischen der Schweiz und der EU ausgesetzt sind, ist natürlich sehr zu bedauern; zumal beide Seiten auf technischer Ebene kurz vor

PIERRE-ALAIN GRAF

ist CEO bei Swissgrid. Die nationale Netzgesellschaft betreibt das rund 6 700 Kilometer lange Schweizer Übertragungsnetz.

dem Abschluss der Verhandlungen stehen. Wir werden die Entwicklungen genau beobachten und analysieren, insbesondere, was mögliche Folgen betrifft. Die Einbindung der Schweiz in den europäischen Strombinnenmarkt hat für alle Beteiligten klare wirtschaftliche Vorteile. Zudem spielt die Schweiz aufgrund ihrer zentralen Lage eine wichtige Rolle für die Versorgungssicherheit in Europa. Wir prüfen deshalb mögliche Wege, wie die Zusammenarbeit trotz der gegebenen Rahmenbedingungen weitergeführt werden kann. So werden wir alle notwendigen technischen Voraussetzungen schaffen, damit das Market Coupling an den Schweizer Grenzen ermöglicht werden kann. Ein funktionierendes Engpassmanagement auf grenzüberschreitenden Leitungen ist für ganz Europa wichtig und sollte jetzt möglichst bald eingeführt werden. Die teilweise auftretenden Mangellagen in Süddeutschland und die zunehmende Importquote der Schweiz machen es unerlässlich, die Kapazitätsvergabe an der Grenze zu automatisieren. Themen, die mittelfristig in einem gesamteuropäischen Rahmen angegangen werden müssen, sind die Stromtransite und die Einbindung der Erneuerbaren Energien. Was Swissgrid betrifft, arbeiten wir an unseren geplanten Vorhaben weiter und streben den gemeinsamen volkswirtschaftlichen Nutzen an.

» DIE KERNKRAFT GILT IN GROSSBRITANNIEN ALS WESENTLICHES ELEMENT IM LANGFRISTIGEN ENERGIEMIX.« Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, bis 2030 EU-weit den Ausstoß von Treibhausgasen um 40 Prozent zu reduzieren und den Anteil der Erneuerbaren Energien am Energieverbrauch EU-weit auf 27 Prozent zu steigern, aber ohne verbindliche nationale Vorgaben. Ist das ein guter Kompromiss? ANGELA KNIGHT Großbritannien stimmt mit den Vorschlägen der Kommission überein, dass es EU-weite Ziele für die Reduzierung von Treibhausgasen geben sollte. Wir glauben jedoch, dass die Mitgliedstaaten ihre Politik in Bezug auf Erneuerbare Energien frei gestalten sollten. So wären die nationalen Regierungen in der Lage, ihre Ziele zur CO2-Reduktion auf die kostengüns-

tigste und angemessenste Weise zu verwirklichen. Die tatsächliche Ausgestaltung des EU-weiten Erneuerbaren-Ziels bleibt jedoch unklar. Das Maßnahmenpaket sieht verbindliche Zusagen der Mitgliedstaaten zum Ausbau Erneuerbarer Energien vor. Gleichzeitig behält sich die Kommission vor, falls nötig, weitere Maßnahmen auf EU-Ebene zu treffen. Unsere Sorge ist, dass sich hieraus für die Mitgliedstaaten weitere verbindliche Verpflichtungen seitens der EU ergeben, sodass dringend mehr Klarheit über den Rahmen und die Ausgestaltung einer gemeinsamen Politik geschaffen werden muss.

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Das Europäische Parlament fordert eine Steigerung des Erneuerbaren-Anteils auf 30 Prozent mit national verpflichtenden Zielen und zusätzlich eine Verbesserung der Energieeffizienz um 40 Prozent. Könnten Sie da mitgehen? Leider bleibt das Europäische Parlament die Antworten auf die Fragen der Kosten und Folgen seiner Vorschläge an vielen Stellen schuldig. Eine Auflage zur Erzeugung von 30 Prozent des Energiebedarfs aus erneuerbaren Quellen in einem Land wie Großbritannien, in dem vorwiegend mit Erdgas geheizt wird, würde enorme Investitionen sowohl in die erneuerbare Stromerzeugung als auch in die Reservekapazität bedeuten, da die Versorgung durch die Erneuerbaren fluktuierend sein wird. Eine solche Forderung des Europäischen Parlaments setzt voraus, dass man sich zunächst mit den zu erwartenden Gesamtkosten, den zusätzlichen Belastungen für den Verbraucher und den Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie auseinandersetzt. Die Steigerung der Energieeffizienz ist ebenfalls ein wichtiger Bereich, sollte jedoch in der Verantwortung der einzelnen Länder bleiben und keinem EU-weiten Ziel unterliegen. KNIGHT

Wie wichtig ist Großbritannien die CO2-Vermeidung, innerhalb Ihrer energiepolitischen Prioritätensetzung? Welche Ziele hat sich das Land gesteckt? KNIGHT Großbritannien ist fest zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes entschlossen, hat seine entsprechende Ziele gesetzlich verankert und ein Komitee zum Klimawandel eingerichtet, das rechtsverbindliche Etats für Maßnahmen zur Verminderung von CO2-Emissionen festlegt. Kohlekraftwerke werden nach und nach geschlossen bzw. in einigen Fällen in Biomasse-Kraftwerke umgewandelt. Die Möglichkeit zur CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS) in großem Maße muss erst noch entwickelt werden, zwei Projekte hierzu sind kürzlich angekündigt worden. Eines davon ist in Peterhead, Schottland, geplant und beinhaltet die Abscheidung von etwa 85 Prozent des CO2-Ausstoßes eines Gas- und Dampfturbinenkraftwerks sowie dessen Speicherung in einem alten Gasfeld in der Nordsee. Das zweite ist in Yorkshire geplant, wo es darum gehen wird, ein hochmodernes Kohlekraftwerk mit hundertprozentiger CCS zu bauen. Detaillierte Untersuchungen zur Konstruktion werden derzeit durchgeführt und man hofft, dass die Regierung der Finanzierung einer solchen Testanlage zustimmt. Die Durchführung und Auswertung beider Projekte wird jedoch viele Jahre dauern, sodass wir noch weit davon entfernt sind, die CCS-Technologie in Großbritannien nutzbringend einzusetzen.

Welche Rolle sollen Erneuerbare Energien und andere Technologien spielen? KNIGHT Großbritannien setzt vor allem auf Wind und Biomasse als erneuerbare Energiequellen sowie auf Kernkraft als Technologie mit geringem CO2-Ausstoß. Onshore-Windparks sind zwar kosteneffizienter, werden jedoch von den Anwohnern möglicher Standorte zumeist abgelehnt, sodass sich der Neubau von Onshore-Windparks größtenteils auf Schottland konzentriert und aktuell vor allem Offshore-Windparks gebaut werden. Off-

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shore-Anlagen haben jedoch den Nachteil, dass sie sehr viel teurer sind als die Anlagen an Land. Dies ist insofern ein wichtiger Faktor, da die Bedenken der britischen Bürgern wegen der Energie­ kosten größer werden. Ein zweiter Punkt: Je mehr Erneuerbare zugebaut werden, umso mehr zusätzliche Reservekapazitäten werden erforderlich, um die schwankende Einspeisung auszugleichen. Es war ursprünglich vorgesehen, dass diese Reserve hauptsächlich aus gasbetriebenen Kraftwerken kommen sollte. Leider sind die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Einsatz von Gas in Großbritannien zurzeit schlecht, denn Gas ist im Verhältnis zum niedrigen Großhandelsstrompreis relativ teuer. Momentan liegen Genehmigungen für den Bau von Gas- und Dampf-Kombikraftwerken (GuD) mit einer Gesamtleistung von 23 GW vor, gebaut wird jedoch aktuell nur eine Anlage. Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass so schnell wie möglich ein Kapazitätsmechanismus eingeführt wird, um die Finanzierung von flexibler Kapazität sicherzustellen, wenn sie benötigt wird. Welche Rolle spielt die Kernenergie? Wie schätzen Sie die Untersuchung der Europäischen Kommission mit Blick auf die Unterstützung für das geplante Kernkraftwerk Hinkley Point C ein? Haben Sie Verständnis für die deutsche Strategie des Atomausstiegs? KNIGHT Hinkley Point C ist der erste neue Reaktor, der seinen Strom auf Basis eines »Differenzkontraktes« liefern soll, ein Finanzinstrument zur Förderung von Investitionen in CO2-arme Stromerzeugung. Für dieses Projekt ist eine beihilferechtliche Genehmigung durch die Kommission erforderlich. Das entsprechende Prüfverfahren für Hinkley läuft. Wir sind uns darüber im Klaren, dass einige Länder einen klaren Standpunkt gegen Kernenergie eingenommen haben und dass die Debatte seitens der Interessengruppen zuweilen hitzig geführt wird. Wir stellen jedoch fest, dass die Kernkraft bei den Bürgern Großbritanniens breite Unterstützung findet, da der Bau eines Kraftwerks tausende Arbeitsplätze schafft, sodass die Bewohner der möglichen Standorte ihn oft begrüßen. Man hofft, dass Hinkley bald genehmigt wird, denn dies würde andere Unternehmen dazu ermutigen, Pläne für weitere Bauprojekte vorzulegen. Die Kernkraft gilt in Großbritannien als ein wesentliches Element im langfristigen Energiemix und ist darüber hinaus ein wichtiger Faktor für die CO2-Reduktion. Großbritannien fängt zudem gerade damit an, seine möglichen Schiefervorkommen zu erforschen. Im Hinblick auf die Versorgungssicherheit glauben wir, dass vorsichtige Untersuchungen stattfinden sollten und dass das Ersetzen von Kohle durch Gas weitere Möglichkeiten zur Minderung des CO2-Ausstoßes bietet.

Bis 2014 soll der Europäische Energie-Binnenmarkt vollendet sein. In diesem Rahmen sollen auch die Interkonnektoren zwischen den Ländern ausgebaut werden. Wie stark integriert ist Großbritannien zum jetzigen Zeitpunkt und was sind die Pläne für die Zukunft?


ANGELA KNIGHT

ist Chief Executive bei Energy UK. Der Verband der britischen Energiewirtschaft vertritt über 80 Unternehmen und steht für mehr als 90 Prozent des Stromabsatzes in Großbritannien.

KNIGHT Großbritannien verfügt derzeit über Kuppelkapazitäten von vier GW. Davon bestehen zwei GW nach Frankreich, ein GW in die Niederlande sowie zwei Verbindungsleitungen mit einer Kraftwerkskapazität von jeweils 550 MW nach Irland. Dies entspricht etwa fünf Prozent der britischen Kapazität. Ein Ausbau der Kuppelkapazitäten ist in den nächsten Jahren wahrscheinlich – man schätzt, dass die Kapazität bis zum Jahr 2020 auf acht GW steigen könnte. Aktuell liegen detaillierte Angebote für den Bau einer Verbindungsleitung zwischen Belgien und Großbritannien – das Projekt Nemo – sowie Anfragen von ElecLink für eine weitere Verbindungsleitung zwischen Großbritannien und Frankreich vor. Darüber hinaus gibt es Angebote für weitere Verbindungsleitungen nach Frankreich, eine nach Norwegen und eine nach Island. Gleichzeitig hat Großbritannien ein leistungsfähiges inländisches Hochspannungsnetz, über das sich Strom landesweit übertragen lässt.

Die Energiewende in Deutschland wird von manchen als nationaler Alleingang kritisiert, mit riskanten Folgen für einige Nachbarländer und den europäischen Energiemarkt. Wie sehen Sie das? KNIGHT Der massive Vorstoß Deutschlands in Richtung Erneuerbare Energien in Verbindung mit dem Rückzug aus der Kernkraft, die finanziellen Probleme, die diese Politik bei einigen großen Versorgern ausgelöst hat, und der Bau neuer Kohlekraftwerke stellen eine interessante Fallstudie für andere Länder dar. Es ist zweifellos wünschenswert, dass benachbarte Länder und auch die EU insgesamt eine gemeinsame und koordinierte Energiepolitik verfolgen, jedoch gehen die Meinungen einiger Länder darüber, wie eine solche Politik aussehen sollte, am Ende sehr weit auseinander und letztlich sind es die Bürger der einzelnen Länder, die die Kosten dieser Politik zu tragen haben. Daher wird jedes Land bis zu einem gewissen Grad im Alleingang handeln müssen. Es gibt ein britisches Sprichwort, das lautet: »Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen«. Man sollte also niemanden kritisieren, wenn man nicht ganz sicher ist, dass man selbst keinen Anlass zur Kritik gibt.

Sollten die EU-Mitgliedstaaten ihre jeweilige Energiepolitik stärker koordinieren, um eine nachhaltige, wirtschaftliche und zuverlässige Versorgung für alle Länder zu erleichtern? Wer müsste die Initiative ergreifen, wer könnte die laufende Koordination übernehmen?

KNIGHT Eine bessere Koordination der energiepolitischen Maßnahmen zwischen den Ländern wäre von großem Vorteil. Jedoch basiert die Entwicklung der Energiepolitik in den Ländern Europas oft auf ganz verschiedenen geschichtlichen Voraussetzungen und heimischen Ressourcen. Trotzdem gibt es einige Regionen, in denen die Länder eine lange Tradition der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten haben. Wo dies der Fall ist und wo die Erzeugungsquellen sich gegenseitig ergänzen, ist eine Koordinierung sehr viel einfacher. Ein Beispiel hierfür ist Skandinavien. Die vorwiegend aus Erneuerbaren Energien und Kernkraft stammende Stromerzeugung und -versorgung der skandinavischen Länder ist mit der Situation in Großbritannien, wo noch 40 Prozent des Stroms mit Kohle erzeugt und vorwiegend mit Gas geheizt wird, kaum vergleichbar. Eine verbesserte Koordinierung der Energiepolitik Gesamteuropas müsste auch solche regionalen Unterschiede berücksichtigen und auf eine Weise einplanen, die keinem Land unverhältnismäßig hohe Kosten oder sehr schwer zu erreichende Ziele aufzwingt. Und ein letzter Punkt, der grundsätzlich für die gesamte Energiepolitik gilt, ganz gleich, ob auf europäischer oder nationaler Ebene, ist die Notwendigkeit, dem Verbraucher mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die drei tragenden Säulen der Energiepolitik sind, dass der Energiesektor bei der Erreichung der CO2-Ziele weiterhin die Hauptlast trägt, dass zweitens die Versorgungssicherheit ein primäres Ziel bleibt, damit einzelne Länder und Europa nicht in völlige Abhängigkeit von fossilen Brennstoffimporten zu stark schwankenden Preisen geraten und dass sie drittens für den Verbraucher bezahlbar ist. Die Frage der Bezahlbarkeit ruft in Großbritannien derzeit große Besorgnis hervor. Sie wird in allen politischen Parteien diskutiert und steht ganz oben auf der Liste, wenn es um Verbraucherthemen geht. Da die überschüssigen Kapazitäten im Zuge der Schließung fossiler Kraftwerke und wirtschaftlicher Unsicherheit hinsichtlich des Neubaus rapide sinken, sieht unsere Regierung eines der schwerwiegendsten Probleme in der Versorgungssicherheit. Der Verminderung von CO2-Emissionen hat bei den Bürgern Großbritanniens aktuell eine viel niedrigere Priorität. Dies führt uns in ein interessantes und schwer zu lösendes Dilemma. Das nach Meinung der Menschen am wenigsten dringliche Problem, also die Verminderung des CO2-Ausstoßes, ist per Gesetz beschlossen und hat demnach Vorrang vor den beiden als weitaus dringlicher empfundenen Problemen der Bezahlbarkeit und Versorgungssicherheit.

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LEX HARTMAN

ist Geschäftsführer bei der TenneT. Das Unternehmen betreibt das Höchstund Hochspannungsnetz in den Niederlanden und in großen Teilen Deutschlands.


» WIR KÖNNEN UNS KEINEN STILLSTAND LEISTEN.«

Strom fließt nach physikalischen Gesetzen und schert sich nicht um nationale Grenzen – ein Grund mehr, auf dem Weg zum EU-weiten Energie-Binnenmarkt Hindernisse und Engpässe zu beseitigen. Regionale Kooperationen könnten wichtige Zwischenschritte sein, meint Lex Hartman vom Übertragungsnetzbetreiber TenneT.

Herr Hartman, der EU-Binnenmarkt für Energie ist beschlossene Sache, doch die Umsetzung stockt. Wo liegt das Problem? LEX HARTMAN Wir sind schon weit gekommen auf dem Weg zu einem gemeinsamen Markt von Finnland bis Griechenland. Aber gleichzeitig hat sich die Welt verändert – denken Sie an Fukushima, die Energiewende und unsere CO2-Ziele. Nach wie vor verfolgen die einzelnen EU-Länder nationale Pläne und Zielsetzungen. Die wiederum ändern sich oft nach einem Regierungswechsel. In Deutschland verkompliziert der Föderalismus die Dinge zusätzlich, denn hier wird auch noch in jedem Bundesland über eine eigene Energiepolitik diskutiert.

Aber der Strommarkt hat sich doch längst internationalisiert.

darüber im Klaren sein, dass Deutschland seine Politik exportiert – und dass die anderen Länder das auch tun. Darum ist eine bessere Abstimmung notwendig. Auf eine europaweit koordinierte Energiepolitik werden wir sicherlich noch einige Zeit warten müssen. Könnten regionale Kooperationen eine sinnvolle Zwischenlösung sein? HARTMAN Ich fände es vernünftig, schon mal mit Kooperationen zwischen zwei oder drei Ländern anzufangen. Wir können uns keinen Stillstand leisten. Am liebsten wäre mir ein nordwesteuropäischer Markt, der schrittweise Deutschland und seine Nachbarländer verbindet. Parallel muss aber die Entwicklung in der gesamten EU weitergehen.

HARTMAN Das sehen wir jeden Tag, und das lässt sich nicht zurückdrehen. Deshalb gibt es ja die Riesendiskussion zwischen Deutschland und den Nachbarn, ob der Strom hier teuer oder billig ist und welchen Einfluss das im Ausland hat. Wir müssen uns ENERGIEPOLITIK IN EUROPA STREITFRAGEN 01|2014

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Was wäre der Lohn für eine stärkere Harmonisierung der nationalen Pläne und Ziele? HARTMAN Unter anderem wäre eine Vereinheitlichung der nationalen Fördersysteme für Erneuerbare Energien sehr sinnvoll. Ein Beispiel: Wir planen eine Verbindung zwischen Dänemark und den Niederlanden, das COBRAcable. An diese Leitung könnten wir auch einen deutschen Windpark anschließen. Doch dann würde dieser Strom nicht ins deutsche Netz eingespeist – und der Betreiber bekäme keine Subventionen. Hier passen nationale Ziele, nationale Pläne und der internationale Markt schlecht zusammen.

Das heißt: Schon drei Nachbarländer, die ähnliche Ziele verfolgen und gut befreundet sind, tun sich schwer mit der Harmonisierung. Aber Sie sprachen gerade von einer neuen Fernleitung. Wie wichtig ist der Netzausbau? HARTMAN Wir haben in den vergangenen 15 Jahren zwei Entwicklungen erlebt, die beide den Ausbau des Netzes erzwingen. Die eine ist die Marktöffnung. Sie können Ihren Strom heute in Paris kaufen oder in Prag. Im Schnitt hat sich dadurch die Entfernung zwischen Produktion und Verbrauch vergrößert. Das bedeutet mehr Verkehr, mehr Transport – mehr Netze. Die zweite Entwicklung ist der Ausbau der Erneuerbaren Energien. Auch dieser Strom wird selten an der nächsten Ecke produziert – auch das erfordert mehr Netze.

so gestaltet, dass wir möglichst oft gleiche Preise haben? Und der eigentliche Engpass sind doch die Nord-Süd-Verbindungen in Deutschland. Neue Trassen zwischen Küste und Süddeutschland sind aber umstritten – aus Thüringen und Bayern kommen Forderungen nach einem Ausbaustopp. Können Sie das nachvollziehen? HARTMAN Die Diskussion war zu erwarten – und wir müssen sie führen. Ich möchte daran erinnern, dass Deutschland vor drei Jahren die Energiewende beschlossen hat. Inzwischen sind Windräder ans Netz gegangen, es gibt einen Netzentwicklungsplan. Natürlich können wir jetzt sagen, wir bauen keine neuen NordSüd-Verbindungen. Aber was wäre die Folge? Dann könnte immer mehr subventionierte Energie nicht transportiert werden.

Und im Süden müssten Kraftwerke gebaut werden. HARTMAN Natürlich kann man den Strom für Bayern und Baden-Württemberg auch in neuen Gaskraftwerken erzeugen. Aber das bedeutet immense neue Subventionen – das wäre dann ein teurer Spaß.

An dem umstrittenen Stromautobahn-Abschnitt durch Bayern ist TenneT nicht beteiligt. In anderen Regionen planen Sie Nord-Süd-Trassen. Wie kommen Sie dort voran?

Brauchen wir mehr internationale Verbindungen? Die Zielsetzung in Europa lautet, dass jedes Land zehn Prozent seines Bedarfs durch grenzüberschreitende Stromlieferungen decken kann. In den Niederlanden sind wir bei 35 Prozent. So gesehen haben wir genügend Verbindungen. Aber: In einem gestörten Markt mit unterschiedlichen Preisen in den einzelnen Ländern gibt es nie genügend Transportkapazität! HARTMAN

Warum ist das so? HARTMAN Wenn der Strom in Deutschland billiger ist als in den Niederlanden, will die gesamte holländische Industrie ihren Strom in der Bundesrepublik kaufen. Sollen wir so viele Leitungen bauen, dass – wie in einer Kupferplatte – jederzeit sämtlicher Strom in alle Richtungen transportiert werden kann? Das würde extrem teuer. Besser sollten wir uns fragen: Haben wir den Markt

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HARTMAN Wir sehen, dass die Akzeptanz wächst. Wir machen gute Fortschritte in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hessen. Wir werden unsere Pläne in diesem Jahr bei etwa 500 Veranstaltungen mit Bürgern diskutieren. Wo es geht, berücksichtigen wir deren Änderungsvorschläge. Diesen Dialog nehmen wir sehr ernst. Ab und zu werden wir sogar dafür gelobt.

Als Alternativen zum Netzausbau werden unter anderem Speicher diskutiert. Welchen Beitrag können diese Technologien leisten? HARTMAN Wie gesagt: Der Bedarf für mehr Netze ergibt sich aus der Marktöffnung und aus dem wachsenden Anteil der Erneuerbaren Energien. Speicher – und übrigens auch die diskutierten Smart Grids – ändern an diesen beiden Faktoren nichts. Deshalb erzielen sie insgesamt keine große Wirkung. Beispiel Speicher:


Selbst wenn wir innerhalb von zehn Jahren die heutige Kapazität verzehnfachen, könnten wir nur zehn Prozent unseres Strombedarfs mit den Speichern höchstens acht Stunden lang decken. Eine Vergrößerung um den Faktor zehn wäre doch eine enorme Leistung. Trotzdem wären wir damit nicht mal in der Nähe dessen, was wir brauchen. Denn wir haben in Deutschland regelmäßig Phasen, in den zwei oder drei Tage lang oder sogar wochenlang kaum Strom aus Erneuerbaren Energien erzeugt wird. HARTMAN

Wenn wir noch lange auf konventionelle Kraftwerke als Backup für die Erneuerbaren Energien angewiesen sind – wie lässt sich sicherstellen, dass stets genügend Kapazität vorhanden ist? HARTMAN Mir sind zwei Elemente wichtig: Die Lösung muss einen funktionierenden Markt schaffen, damit Investitionen in Kraftwerke sich wieder lohnen. Und zweitens muss sichergestellt sein, dass die zugesagten Kapazitäten auch tatsächlich jederzeit vorhanden sind.

Wie würden Sie das regeln?

HARTMAN Sie sollten verpflichtet werden, eine bestimmte Kapazität im Voraus zuzusagen. Wer dann nicht liefert, zahlt quasi eine Strafe. So bekommen beispielsweise die Erzeuger von Windund Solarenergie einen Anreiz, ihre Produktion sehr genau vorherzusagen und sich für den Fall abzusichern, dass sie nicht liefern können. Das geht über Kontrakte mit anderen Erzeugern oder durch eigene Anlagen. Dann lohnt es sich auch wieder, in Kraftwerke zu investieren. Und diese Backup-Kapazitäten werden vom Markt bezahlt – anders als bei vielen anderen Modellen, wo man einfach den Konsumenten zur Kasse bitten will.

Stichwort Windräder: TenneT hat im vergangenen Jahr die Ausbauziele für Offshore-Windparks als unrealistisch kritisiert und vor hohen Leerstandskosten für auf Vorrat gebaute Netzanschlüsse gewarnt. Hat Ihre Mahnung gewirkt? HARTMAN Ich denke schon. Immerhin schreibt der Koalitionsvertrag der Bundesregierung ein deutlich niedrigeres Ziel für Windkraft auf See fest, nämlich 6,5 Gigawatt bis 2020. TenneT hat übrigens Aufträge für Anschlussleitungen mit einer Kapazität von 6,2 Gigawatt verbindlich vergeben – wir sind also vorbereitet. Es fragt sich aber, ob das Fördersystem so attraktiv ist, dass das neue Ausbauziel erreicht wird. Ich sehe nicht, dass die Investoren für Offshore-Windanlagen Schlange stehen.

»DIE ZIELSETZUNG LAUTET, DASS JEDES LAND ZEHN PROZENT SEINES BEDARFS DURCH GRENZÜBERSCHREITENDE STROMLIEFERUNGEN DECKEN KANN.«

HARTMAN In der Diskussion wird häufig übersehen, dass wir ein Marktproblem haben und kein Kapazitätsproblem. Also sollten wir das Marktproblem lösen. Heute heißt es frei nach George Orwell: Alle Elektronen sind gleich, aber einige sind gleicher. Da müssen wir ansetzen. Ich sage: Alle Energieerzeuger müssen Verantwortung für das System übernehmen, auch die Betreiber von Windrädern und Solaranlagen.

Welche Pflichten sollten die Erzeuger von Ökostrom haben?

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PROF. DR. KLAUS-DIETER BORCHARDT

leitet in der Generaldirektion Energie der Europäischen Kommission die Direktion »Binnenmarkt«. Die Direktion spielt eine Schlüsselrolle bei der Vollendung des gemeinsamen Markts für Strom und Gas.

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PROF. DR. PETER BIRKNER

ist Mitglied des Vorstands des Energieversorgers Mainova AG, Frankfurt, und zuständig für das Ressort Technik. Beim europäischen Branchenverband EURELECTRIC engagiert er sich seit 2008 als Vorsitzender des Komitees für Verteilnetze.


ZENTRAL? DEZENTRAL? GESCHMACKSSACHE

In Deutschland kümmern sich rund 900 Verteilnetzbetreiber um die letzte Meile des Stromtransports zu den Verbrauchern. In Frankreich sind es knapp 160 – und in Irland reicht einer. Was bedeutet diese Vielfalt für die Harmonisierung? Fragen an Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt, bei der EU-Kommission zuständig für den Energie-Binnenmarkt, und Prof. Dr. Peter Birkner, Vorsitzender des Komitees für Verteilnetze im Verband EURELECTRIC.

Herr Prof. Dr. Borchardt, ist das europäische Nebeneinander von eher zentralen und eher dezentralen Strukturen in den Verteilnetzen aus Ihrer Sicht eine Stärke oder eine Schwäche?

Herr Prof. Dr. Birkner, EURELECTRIC vertritt die nationalen Verbände der Elektrizitätswirtschaft auf europäischer Ebene. Wie beurteilen Sie die große Bandbreite der Systeme?

PROF. DR. KLAUS-DIETER BORCHARDT Dass die Strukturen so unterschiedlich sind, hat mit den Traditionen in den Mitgliedstaaten zu tun. Ich sehe das weder als Vorteil noch als Nachteil, es ist einfach eine Gegebenheit. Im Übrigen kenne ich aus eher zentralisierten und eher dezentralen Systemen gleichermaßen Beispiele für gute und schlechte Praktiken.

PROF. DR. PETER BIRKNER Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Europa pluralistisch ist und bleiben wird. Das macht Europa interessant und einzigartig. Wichtiger als die Größe ist die Frage, wie effizient ein Verteilnetzbetreiber arbeitet. Da gibt es sowohl kleine als auch große Unternehmen, die sehr effizient sind. Am Ende geht es immer darum, ein sehr komplexes Geschäft bestmöglich zu managen. EURELECTRIC hat dazu kürzlich eine Broschüre mit „DSO-Facts and Figures“ veröffentlicht.

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» DER VERBRAUCHER SOLL SICH ALS NETZKUNDE IN PORTUGAL GENAUSO WOHL FÜHLEN WIE IN DEUTSCHLAND.« » UNS IST WICHTIG, DASS IN DEN MITGLIEDSTAATEN GRUNDLEGENDE PRINZIPIEN EINGEHALTEN WERDEN.«

Das viel beschworene Smart Grid erhöht die Anforderungen an Verteilnetzbetreiber weiter. Können kleinere Stadtwerke die neuen Aufgaben überhaupt bewältigen? BIRKNER Erst mal sollten wir definieren, was wir unter einem Smart Grid verstehen wollen. Für mich bedeutet Smart Grid, ein elektrisches Netz durch Hinzufügen von Informationstechnologie dynamischer zu machen und seine Reserven auszuloten und zu nutzen. Wir sehen jetzt in Europa erste Ansätze dafür. Als Techniker gehe ich davon aus, dass wir durch Automatisierung und Standardisierung in den kommenden zehn Jahren sozusagen Plug-and-Play-Funktionen haben werden: Ein größerer Verbraucher, aber auch die einzelne Solaranlage wird sich im Netz anmelden, die Rechnereinheit in der Transformatorstation wird wissen, welche Geräte am Netz sind. Das alles wird automatisch laufen. Den Betrieb dieses Systems kann ein kleines Stadtwerk mit Sicherheit leisten. Unterstützung wird es vermutlich bei der Errichtung benötigen.

Muss es für die kleineren Stadtwerke einen geschützten Bereich geben – Stichwort De-minimis-Regeln?

Bringt das dezentrale deutsche System mehr Bürgernähe? BORCHARDT Das müsste man mir erst mal beweisen. Ich habe gerade den größten spanischen Verteilnetzbetreiber besucht, Iberdrola in Bilbao. Das Unternehmen hat Millionen von Kunden – und arbeitet trotzdem sehr bürgernah.

Wie bewerten Sie dann den Trend zur Re-Kommunalisierung von Verteilnetzen in Deutschland? BORCHARDT Die EU-Kommission steht dem relativ neutral gegenüber. Welche Organisations- und Eigentümerform gewählt wird, bleibt den Mitgliedstaaten überlassen. Uns interessiert eher das Ergebnis, also etwa die Frage, ob der Netzbetreiber seine Leistungen effizient erbringt.

Gibt es eigentlich eine optimale Betriebsgröße für Verteilnetzbetreiber? BIRKNER Ich kenne Benchmarks, die ein Optimum bei Leitungsnetzen mit einer Gesamtlänge zwischen 10 000 und 20 000 Kilometern nahelegen. Dieses Optimum ist aber nicht besonders deutlich ausgeprägt. Insbesondere Unternehmen mit kleineren Netzen arbeiten also nicht per definitionem schlechter.

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BORCHARDT Wir haben solche Befreiungen für Verteilnetzbetreiber mit weniger als 100 000 Kunden. Aus Sicht der EU-Kommission hat sich das bewährt – wir wollen daran nichts ändern. BIRKNER Ich denke, die eine oder andere administrative Pauschalierung – nicht Ausnahme – könnte für kleinere Stadtwerke hilfreich sein. Denn mittlerweile haben die verwaltungstechnischen Anforderungen an Netzbetreiber exorbitante Ausmaße angenommen. Denken Sie an die ganzen Reportingpflichten oder an die Verwaltung der erneuerbaren Energiequellen. Die Unternehmen müssen immer mehr Mitarbeiter für solche Abrechnungen einsetzen. Da sind für kleine Stadtwerke bestimmt Vereinfachungen möglich.

Im Zusammenhang mit der zunehmenden Digitalisierung und der Steuerung intelligenterer Netze fragt es sich, wer die Datendrehscheiben betreiben soll. Wird die EU-Kommission hier Vorgaben machen? BORCHARDT Uns sind zwei Grundprinzipien wichtig. Erstens muss der Verbraucher Eigentümer seiner Daten bleiben. Er allein darf entscheiden, was mit seinen Daten geschieht. Zweitens müssen die Verteilnetzbetreiber direkten Zugang zu den Informationen erhalten, die sie für den Betrieb des Netzes brauchen. Ich gehe davon aus, dass die Kommission auch hier nur einige Grundregeln vorgibt und verschiedene Modelle zur Verfügung stellt. Die Auswahl des Modells ist dann Sache des einzelnen Mitgliedstaats.


Welche Modelle kommen in Frage? BORCHARDT Im Moment werden im Wesentlichen drei Modelle diskutiert und teilweise auch schon umgesetzt. Bei der einen Variante übernimmt der Verteilnetzbetreiber das Datengeschäft als zusätzliche Aufgabe. Er nutzt die Daten für den Betrieb des Netzes und stellt sie für das Marktgeschehen zur Verfügung. Das kann problematisch werden, wenn derselbe Netzbetreiber auch auf dem Markt tätig werden will und darf. Das zweite Modell folgt dem Entflechtungsgedanken: Der Netzbetreiber koppelt die Bereitstellung der Daten aus. Die dritte Möglichkeit ist die komplette Auslagerung in eine Datenplattform, die dann von einem neutralen Dritten verwaltet wird.

Herr Prof. Birkner, wie würden Sie das lösen? Welche Rolle spielen Smart Meter? BIRKNER Smart Meter werden im Moment in jedem Land unterschiedlich genutzt. In Italien wird der intelligente Zähler aktuell häufig dazu eingesetzt, den Stromfluss zu begrenzen, falls der Kunde seine Rechnung nicht bezahlt. In Schweden liefern die Geräte vor allem Kundenverbrauchsdaten, um Abrechnungs- und Wechselprozesse zu beschleunigen. Ich plädiere dafür, zunächst zu klären, was wir unter einem Smart Meter verstehen und wofür wir ihn nutzen wollen. Daraus ergeben sich die Aufgaben für den, der die Daten betreut. EURELECTRIC hat sich dafür ausgesprochen, dass der Verteilnetzbetreiber als ohnehin neutraler Spieler auch die Datenplattform bereitstellt.

Eine Aufgabe von intelligenten Energiesystemen ist der permanente Ausgleich von Stromproduktion und Verbrauch. Das lässt sich als Querschnittsaufgabe von Erzeugung, Vertrieb und Netz betrachten. Da ist Entflechtung doch eigentlich Gift, oder? BORCHARDT Zunächst mal gelten für Verteilnetzbetreiber wesentlich geringere Anforderungen an die Entflechtung als für Übertragungsnetzbetreiber. Ich würde den Punkt nicht überbewerten. Aber wir wollen, dass neue Player auftreten und genau diese ineinandergreifenden Aufgaben übernehmen. Das muss nicht zwingend ein integriertes Versorgungsunternehmen machen. BIRKNER Spannend wird es in Grauzonen. Eine Möglichkeit der Netzsteuerung ist, Kunden zu bitten, den Verbrauch zu bestimmten Zeiten zu erhöhen oder zu senken. Das spricht Elemente an, die eigentlich zum Markt gehören. Hier muss festgelegt werden, was wohin gehört und wie eingesetzt wird. Wir müssen eine Hierarchie aufbauen: Solange die Leitungen es aushalten, sollte der Markt mit

seinen Preissignalen regieren. Und erst bei drohender Überlastung zeigt der Netzbetreiber die rote Karte und sagt: »Das Geschäft geht jetzt nicht.« Er greift dann direkt und unverzüglich ein. Das ist im entflochtenen Rahmen abbildbar. Wir sind auf dem Weg zum Energie-Binnenmarkt. Wie stark sollte in diesem Zusammenhang die Regulierung der Verteilnetze harmonisiert werden? BORCHARDT Der EU-Kommission geht es nicht um eine europaweite Harmonisierung in allen Einzelheiten. Bei den Verteilnetzen ist uns wichtig, dass in den Mitgliedstaaten grundlegende Prinzipien eingehalten werden. Dazu gehören Transparenz der Kosten und der Tarifsetzung, Effizienz und Offenheit für Innovationen. Und wir wollen aufpassen, dass die Regulatoren nicht über die Stränge schlagen und notwendige Investments erschweren.

Herr Prof. Birkner, unterschreiben Sie das? BIRKNER Ich würde vom Bürger aus denken. Es ist wichtig, dass alle Bürger in der EU vergleichbare Freiheiten und Gestaltungsspielräume haben, dass der Verbraucher sich als Netzkunde in Portugal genauso wohlfühlt wie in Deutschland. Dafür muss die EU die Rahmenbedingungen schaffen, von Detailregulierung halte ich hier sehr wenig. Grundsätzlich möchte ich das Subsidiaritätsprinzip hochhalten – das betrachte ich als Stärke der EU.

Schauen wir 20 Jahre voraus: Wer wird im Jahr 2034 für die Regulierung der Verteilnetze zuständig sein? BORCHARDT Die Netze werden nicht europäisch reguliert sein in dem Sinne, dass wir alles europaweit steuern. Wir werden nur Leitplanken aufstellen. Bei den Verteilnetzbetreibern wird es sicherlich eine Konsolidierung geben, vor allem wenn wir den Energie-Binnenmarkt herstellen. Spätestens dann müssen wir uns die Großhandels- und die Endverbraucherpreise noch mal genau ansehen. Da geht es auch um die Besteuerung des Energieverbrauchs, darüber werden die Mitgliedstaaten nachdenken müssen. BIRKNER Es wird weiterhin zwei Pole geben: die regionale und nationale Regulierung sowie die europäische. Aber die Inhalte der Regulierung werden sich in den kommenden 20 Jahren deutlich verändern. Wir haben schon eine Art Technologierevolution erlebt bei Solarzellen und Windkraftanlagen. In Zukunft werden wir noch ganz neue Möglichkeiten haben, Strom zu erzeugen und zu speichern. Genannt seien nur gebäudeintegrierte Solaranlagen und Speicher. Diesen Entwicklungen müssen wir den ordnungspolitischen Rahmen anpassen.

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» ES IST EINE DEUTLICHE TRENDWENDE IN DER EU-GESETZGEBUNG EINGELÄUTET.«

Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) spielen in der deutschen Energie- und Wasserwirtschaft eine zentrale Rolle. Dr. Paul Weissenberg, stellvertretender Generaldirektor bei der EU-Kommission, erklärt, wie die speziellen Bedürfnisse der KMU auf europäischer Ebene berücksichtigt werden.

Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) in Deutschland haben für die Energiewende große Bedeutung: Sie stehen für Kundennähe, dezentrale Strukturen, lokale Wertschöpfung und ein hohes Maß an Akzeptanz. Jedoch machen immer neue Rahmenbedingungen und wachsender Bürokratieaufwand die unternehmerische Tätigkeit von KMU immer schwieriger. Wie schätzen Sie die Perspektiven für KMU – auch in der Energie- und Wasserwirtschaft – im Hinblick auf anstehende gesetzgeberische Entwicklungen ein? DR. PAUL WEISSENBERG Zumindest auf Seiten der EU hat man mit der Annahme des »Small Business Act for Europe« (SBA) Zeichen gesetzt. Mit dem SBA hat die Europäische Kommission eine klare politische Leitlinie in der Hand, um KMU in der EU das Leben einfa-

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cher zu machen. Das Herz dieser Initiative bilden Maßnahmen zum Bürokratieabbau und zur besseren Rechtsetzung. Die Kommission ist seit der Verabschiedung des SBA in diesem Bereich schon ein gutes Stück vorangekommen. So ist mittlerweile ein systematischer SME-Test (Small and Medium-sized Enterprises) vorgeschrieben vor der Verabschiedung neuer gesetzgeberischer Initiativen. Fallen vorgeschlagene Richtlinien, Direktiven oder ähnliche Maßnahmen durch diesen Test – das heißt, stellt sich heraus, dass sie mit unvertretbar hohem administrativem Aufwand für KMU verbunden sind – so müssen diese Initiativen entweder entsprechend modifiziert werden oder sie werden nicht weiter verfolgt. Gleichzeitig kümmern wir uns um die Abänderung bestehender EU-Reglementarien, um diese unternehmensfreundlicher zu gestalten. Das sogenannte REFIT-Programm wäre hier zu nennen, bei dem nach und nach bestehende Richtlinien und andere EU-Vorschriften auf den Prüfstand gestellt werden, um diese mit Blick auf die Wettbewerbsfähig-


DR. PAUL WEISSENBERG

ist stellvertretender Generaldirektor bei der Generaldirektion Unternehmen bei der Europäischen Kommission.

keit europäischer Unternehmen anzupassen. Ein anderer, sehr konkreter Schritt in diese Richtung war im vergangenen Jahr die Ermittlung einer »Top Ten«-Liste der mit dem größten Erfüllungsaufwand verbundenen EU-Rechtsakte. Zwar markiert dies erst den Anfang unserer Aktivitäten in diesem Bereich. Aber es ist eine deutliche Trendwende in der EU-Gesetzgebung eingeläutet und wir würden uns wünschen, dass auf Mitgliedstaatenebene dieses Thema mit der gleichen Intensität verfolgt wird. Die aktuelle KMU-Definition der EU ist für die mittelständischen Unternehmen der Energieund Wasserwirtschaft in Deutschland ein Problem. In der Praxis fallen nur sehr wenige der zahlreichen kleinen und mittleren Energie- und Wasserversorger in Deutschland darunter. Zum Beispiel gelten Unternehmen mit kommunaler Beteiligung nicht als KMU. Damit sind automatisch alle Stadtwerke in Deutschland nicht als KMU im Sinne der EU einzustufen. Verzerrt die Definition nicht den Wettbewerb? WEISSENBERG Eine Änderung der EU-weiten und industrieübergreifenden KMU-Definition scheint mir aber keine Lösung für dieses Thema zu sein. Schon jetzt ist die KMU-Definition so weit gefasst, dass sie 99 Prozent der europäischen Unternehmen umfasst. Eine weitere Dehnung der Kriterien würde de facto zu einer nahezu kompletten Aufhebung der Definition führen und damit ihre Sinnhaftigkeit an sich in Frage stellen. Es scheinen mir daher andere Lösungen angebrachter, um etwaige Probleme zu lösen, die durch die Verwendung des KMU-Begriffs in Bezug auf die Energie- und Wasserwirtschaft existieren.

WEISSENBERG Der bereits erwähnte »Small Business Act for Europe« gibt auch hier die Richtung vor. Die »kontinuierliche Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Begründung neuer Rechtspflichten auf EUEbene« ist mit dem SBA und dem SME-Test als seinem zentralen Instrument schon seit einigen Jahren Realität. Wir als GD Unternehmen und Industrie sehen uns dabei in einer besonderen Verantwortung, auch alle anderen Dienste der Kommission für die Belange von KMU zu sensibilisieren. Im Übrigen sind gerade bei den Richtlinien zu den Berichtspflichten von Unternehmen entscheidende Entlastungen vorgenommen worden, etwa indem man KMU, und besondere Kleinstunternehmnen mit weniger als zehn Mitarbeitern, von vielen Berichtspflichten weitgehend ausgenommen hat. Es gilt allerdings auch zu beachten, dass die Umsetzung von EU-Richtlinien vielfach eine nationale Angelegenheit ist. Gerade bei dieser Umsetzung auf nationaler Ebene kommt es nach unserer Erfahrung zu zusätzlichem bürokratischem Aufwand, der als solcher in der EU-weiten Richtlinie gar nicht vorgeschrieben ist. So werden etwa bei Vorschriften zur Informationspflicht seitens der Unternehmen oft bei der Umsetzung auf nationaler Ebene die in der Richtlinie vorgeschriebenen Punkte um weitere Berichtspflichten ergänzt, die aus rein nationaler Sicht relevant erscheinen, aber mitnichten per se »von Brüssel« aus verpflichtend vorgegeben sind. Eine im letzten Jahr veröffentlichte Studie beziffert diesen oft als »gold plating« benannten national »aufgesattelten« Zusatzaufwand auf mindestens 25 Prozent der eigentlichen Verwaltungslasten der Richtlinien. Bürokratieabbau im Sinne der KMU ist daher ein Institutionen- und Ebenen-übergreifender Auftrag. EU-Institutionen und nationale wie auch regionale Gesetzgeber und Verwaltungen müssen gemeinsam an diesem Ziel arbeiten.

Ständig anwachsende Berichts- und Meldepflichten führen zu einer Belastung aller Unternehmen, wirken sich jedoch bei kleinen und mittleren Unternehmen aufgrund von deren Strukturen oft überproportional aus. Sind diesbezüglich weitere Maßnahmen speziell zur Entlastung der KMU geplant? ENERGIEPOLITIK IN EUROPA STREITFRAGEN 01|2014

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» DER EUROPÄISCHE ASPEKT IST EIN MUSS BEI DER AUSBILDUNG UNSERER ENERGIEFÜHRUNGSKRÄFTE.«

Die Beschaffung von Öl, Gas und Kohle erfolgt seit jeher international. Mit dem sich entwickelnden EU-Binnenmarkt überwinden auch Stromhandel und -vertrieb zunehmend die Ländergrenzen. Das verändert die Anforderungen an Berufsanfänger. Ein Studiengang in Ulm bereitet Absolventen auf internationales Arbeiten vor.

Herr Prof. Dr. Otto, Sie leiten den 2012 eingerichteten Studiengang »Internationale Energiewirtschaft« an der Hochschule Ulm. Was ist das Internationale an Ihrem Angebot? PROF. DR. MARC-OLIVER OTTO Wir legen besonderen Wert auf internationale Erfahrung, die wir durch ein verpflichtendes Auslandsstudiensemester im Studienplan fixiert haben. Die ersten unserer Studierenden befinden sich jetzt gerade im Ausland. Die meisten gehen in andere europäische Länder. Das ist aufgrund der finanziellen Förderung durch das Erasmus-Programm besonders attraktiv. Einige haben sich aber für das fernere Ausland, wie Südafrika, Neuseeland, Südkorea, Mexiko oder die USA, entschieden. In all diesen Ländern bestehen Partnerschaften mit dortigen Universitäten, sodass unsere Studierenden auch dort keine Studiengebühren zu entrichten haben.

Und wo findet sich die internationale Ausrichtung im Ulmer Lehrplan wieder? OTTO Grundsätzlich gehen wir in allen Vorlesungen auf die internationalen Aspekte der Energiewirtschaft ein – sei es innerhalb der Erzeugung, der Verteilung, des Handels oder auch im Rahmen des rechtlichen Umfelds. Die Studierenden absolvieren beispielsweise ein Modul mit dem Titel »Energy Trading and Risk Management«. Diese Veranstaltung wird auf Englisch gehalten. Da geht es unter anderem um den europäischen Energiemarkt; die Studierenden sollen mithilfe von Simulationssoftware den internationa-

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len Energiehandel beispielsweise anhand von Crossborder-Transaktionen verstehen lernen. Für den Bereich Erzeugung haben wir internationale Aspekte im Modul »Regenerative Energiesysteme« integriert. Welche Rolle spielt der rechtliche Rahmen? OTTO Wir vermitteln auch juristische Aspekte. In einer Vorlesung beschäftigen sich die Studierenden mit europäischem Energierecht, etwa mit den Regularien aus Brüssel.

Der Studiengang verknüpft die Fachgebiete Energietechnik, Informatik und Betriebswirtschaftslehre. Das heißt, die Ausbildung bei Ihnen ist sehr breit angelegt. Warum? OTTO Wir halten die Energiewirtschaft für ein sehr weites Feld. Innerhalb unseres bewusst breit angelegten Studiengangs sind die Studierenden selbst verantwortlich für die eigene Profilierung. Wir beraten sie und lassen ihnen viel Freiraum. Aber nach zwei bis drei Semestern entscheiden sie, in welchem Bereich sie ihren Schwerpunkt setzen wollen.

Für welche Aufgaben werden Ihre Absolventen qualifiziert sein?


PROF. DR. MARC-OLIVER OTTO

verantwortet als Studiendekan den BachelorStudiengang »Internationale Energiewirtschaft« an der Hochschule Ulm. Derzeit bereiten sich dort rund 130 Studierende auf eine Tätigkeit in der Wirtschaft oder im öffentlichen Dienst vor.

OTTO Wer sich beispielsweise in Informatik profiliert, kann sicherlich Aufgaben bei Dienstleistern aus diesem Bereich und in der IT-Beratung übernehmen. Oder denken Sie an Positionen im öffentlichen Dienst, wo IT-Affinität immer wichtiger wird. Eine Profilierung in Richtung Wirtschaftswissenschaft führt dann eher ins Management. Spezialisieren sich die Studierenden im Bereich der Energietechnik, stehen ihnen die technisch orientierten Arbeitsplätze der Branche offen.

Woher kennen Sie die Anforderungen der potenziellen Arbeitgeber?

Wenn man die Neugründungen berücksichtigt – gibt es im Moment genügend Studienplätze für künftige Fach- und Führungskräfte im Energiesektor? OTTO Generell halte ich die Zahl der Studienplätze im Moment für ausreichend. Mit weiteren Gründungen sollten wir erst mal warten, bis die ersten Absolventen aus den neuen Studiengängen auf den Arbeitsmarkt kommen und wir die Entwicklung der gesamten Branche noch besser einschätzen können.

Wovon hängt die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ab?

OTTO Wir haben vor der Einrichtung des Studiengangs Unternehmen eingeladen, unsere Ideen zu bewerten. Beteiligt haben sich überregionale und regionale Energieversorger, IT-Dienstleister sowie in der Branche tätige Wirtschaftsprüfer und Unternehmensberater. Dazu kamen energieintensive Unternehmen aus unserer Region. In diesen Firmen kümmern sich große Abteilungen um den Energiebezug. Uns wurde klar gespiegelt, dass der europäische Aspekt ein Muss ist. Daher sind wir sicher, dass der Arbeitsmarkt unsere Absolventen aufnehmen wird.

OTTO Durch unsere Kontakte zur Industrie wissen wir: Es ist für die Unternehmen ungeheuer wichtig, dass die Rahmenbedingungen konstant und verlässlich bleiben. Nur dann können die Firmen langfristig planen – und Arbeitsplätze schaffen. Da ist die deutsche und die europäische Politik gefordert.

Woher kommen Ihre Studierenden?

OTTO Wir verfolgen, wie beispielsweise Stadtwerke Verbünde bilden, die den großen Unternehmen echte Konkurrenz machen. Diese Verbünde können sehr attraktive Arbeitsplätze bieten. Außerdem ist die Verlässlichkeit des Arbeitgebers wichtig. Und: Die Perspektiven und Aufstiegschancen müssen für den Neueinsteiger transparent sein. Man muss ihm klarmachen, dass er auch in einem kleineren Unternehmen Karrierechancen hat. Dann kann beispielsweise seine Bindung an die Region den Ausschlag geben bei der Entscheidung über ein Stellenangebot.

OTTO Wir vergeben pro Semester 40 Studienplätze – die Bewerber sind vorwiegend Deutsche oder Einwandererkinder. Studierende, die aus dem Ausland zum Studium nach Ulm kommen und anschließend international arbeiten wollen, spielen derzeit keine große Rolle.

Wie groß ist die Nachfrage nach Studienplätzen? OTTO Die Nachfrage ist zum Sommer- und Wintersemester recht unterschiedlich. Im Winter haben wir pro Studienplatz bis zu sieben Bewerbungen. Für einen neuen Studiengang, der sich erst noch etablieren muss, ist das sehr erfreulich.

Spüren Sie allgemein ein wachsendes Interesse an der Energiebranche? OTTO

Auch an anderen Hochschulen sind in den vergangenen Jahren energiewirtschaftliche Studiengänge entstanden. Insgesamt lassen die Bewerberzahlen auf ein wachsendes Interesse schließen. Ein Grund: Die Megaaufgabe der Energiewende wird sehr breit in den Medien diskutiert und als Zukunftsmarkt dargestellt. Es wird Innovation gefördert und gefordert – das zieht junge Leute an, die mitgestalten wollen und Idealismus mitbringen.

Viele kleinere und mittelgroße Unternehmen klagen bereits über Nachwuchsmangel. Wie können sie im »War for Talent« mit international agierenden Konzernen bestehen?

Die Energiebranche braucht zweifellos Nachwuchs-Ingenieure und -Manager. Rein zahlenmäßig fehlen künftig aber noch mehr junge Leute aus den technischen Ausbildungsberufen. Können Unternehmen von den Hochschulen lernen, wie man Schulabgänger umwirbt? OTTO Die zunehmende Akademisierung betrifft fast alle Ausbildungsberufe: Viele Tätigkeiten, die früher ein Techniker mit Meisterbrief verrichtet hat, übernimmt heute ein Mitarbeiter mit Bachelor-Abschluss. Die Unternehmen sollten meiner Meinung nach wesentlich stärker zeigen, wie viel man mit einer Berufsausbildung erreichen kann. Man sollte viel stärker transportieren, dass es auch für Auszubildende gute Perspektiven und die Aussicht auf eine Karriere gibt.

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STEPHAN KAMPHUES

(rechts) trat 1992 in die E.ON Ruhrgas AG ein. Seit 2008 ist der Jurist Sprecher der Geschäftsführung der Open Grid Europe GmbH. 2009 wurde er zum ersten Präsidenten von ENTSOG gewählt und 2012 wiedergewählt.

ALBERTO POTOTSCHNIG

(links) ist der erste Direktor von ACER. Vor seinem Wechsel nach Ljubljana arbeitete der Ökonom unter anderem als Berater im Energiesektor und verantwortete die Regulierung des italienischen Strommarkts.

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» REGULIERUNG UND HARMONISIERUNG SIND KEIN SELBSTZWECK.« » WIR ENTWICKELN ERSTMALS EU-WEITE REGELN FÜR DIE NETZE UND FÜR DEN MARKT.« ENERGIEPOLITIK IN EUROPA STREITFRAGEN 01|2014

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Der europäische Gasmarkt hat sich tiefgreifend verändert: Die wachsende Stromproduktion durch Erneuerbare Energien und niedrige Preise für Kohle sowie für CO2-Zertifikate stellen die Bedeutung von Erdgas im Energiemix in Frage. Zugleich forciert die EU die Schaffung eines gemeinsamen Gasmarkts. Was bedeutet das für die Regulierer und die Unternehmen der Branche? Fragen an Alberto Pototschnig, ACER, und Stephan Kamphues von ENTSOG. Herr Kamphues, Herr Pototschnig, ENTSOG und ACER sind relativ neue Einrichtungen. Der Normalverbraucher hat wahrscheinlich noch nie von ihnen gehört. Was sind die wichtigsten Fragen, mit denen Sie sich beschäftigen? ALBERTO POTOTSCHNIG Bei der Schaffung des europäischen Binnenmarkts für Energie hat sich eine regulatorische Lücke aufgetan. Die Mission von ACER lautet, diese Lücke zu füllen. Europa entwickelt erstmals EU-weit gültige Regelwerke für die Netze und für den Markt – das ist eine Voraussetzung für einen funktionierenden Binnenmarkt. Unsere Agentur und ENTSOG formulieren diese Regeln. Die Diskussion mag gelegentlich esoterisch wirken, aber am Ende wird der Verbraucher spürbar davon profitieren. Nur deshalb schaffen wir den Energie-Binnenmarkt. STEPHAN KAMPHUES Der Mangel an Interesse für unsere Arbeit erstaunt mich immer wieder. Beispielsweise bekommen wir von ACER eine Rahmenrichtlinie als Basis für die Entwicklung eines Netzwerk-Kodexes. Damit entsteht im Prinzip ein neues Grundgesetz für den Gasmarkt! Aber leider ziehen nicht mal alle Leute, die unsere Arbeit kennen, daraus die richtigen Schlüsse. Und wer die richtigen Schlüsse zieht, lässt dem selten die richtigen Taten folgen.

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Wie kommen Sie darauf? KAMPHUES Nehmen Sie das Verfahren für das Engpassmanagement. Über diese Regeln wurde jahrelang diskutiert – und jetzt, wo sie in Kraft treten, zeigen sich einige Leute geradezu geschockt von den Veränderungen.

Herr Pototschnig, Sie sprechen von spürbaren Vorteilen für den Verbraucher. Wie profitiert der Konsument von Ihrer Arbeit? POTOTSCHNIG Ich kann ein Beispiel aus Slowenien beschreiben. Hier war der Wettbewerbsdruck auf dem Gasmarkt nicht besonders hoch. Ende 2012 kam ein neuer Anbieter auf den Markt und unterbot die anderen Unternehmen um 20 Prozent. Das gelang ihm, weil er sein Gas an den Umschlagspunkten, den sogenannten Gas-Hubs, kaufen konnte statt langfristige Lieferverträge abzuschließen. Die Verbraucher reagierten, der neue Anbieter erreichte schnell einen bedeutenden Marktanteil. Daraufhin senkten auch die etablierten Gasversorger ihre Preise. Das heißt: Liquide Umschlagspunkte sind auf den ersten Blick vielleicht eine esoterische Vorstellung – aber die Verbraucher in Slowenien haben davon profitiert.


Sie diskutieren auch über die Struktur der Transporttarife für Gas. Warum ist das wichtig? KAMPHUES Mit einem Tarif können Sie diskriminieren, quersubventionieren oder den Wettbewerb auf eine andere Art verzerren. Beispielsweise lassen sich alle Kosten für die Infrastruktur den Transit-Transporten aufbürden. Wir wollen aber gleiche Wettbewerbsbedingungen. Dazu gehören faire, transparente und nicht-diskriminierende Regeln.

Die Diskussion dreht sich um die Struktur der Tarife. Über die Höhe der Entgelte entscheiden die nationalen Regulierungsbehörden. Wir wollen eine Tarifstruktur, die den Wettbewerb stärkt und die Nutzung des Gasnetzes für Transitzwecke nicht unangemessen anders behandelt als die Nutzung für Inlandstransporte. POTOTSCHNIG

Die EU hat eine Vision für den europäischen Gasmarkt entwickelt, das sogenannte Zielmodell. Wird dieses Modell den jüngsten Veränderungen des Markts gerecht? POTOTSCHNIG Wegen der Veränderungen im Energiesektor überprüfen wir momentan das Ziel­ modell. Zum Beispiel verlangt die wachsende Bedeutung der Erneuerbaren Energien für die Stromerzeugung, dass der Gassektor flexibler wird und dem Stromsektor die nötige Flexibilität zur Verfügung stellt. Darüber hinaus gibt es in vielen Teilen Europas zu wenig Wettbewerb auf dem Gasmarkt. Den Wettbewerb kann man stärken, indem man größere Marktgebiete schafft. Es reicht aber nicht, auf der Landkarte einen größeren Kreis zu ziehen – man braucht auch die passende Infrastruktur.

Welche Folgen hätten größere Marktgebiete für Deutschland? KAMPHUES Deutschland hat – zusammen mit Großbritannien – schon die Vorreiterrolle übernommen: In der Bundesrepublik gibt es nur noch zwei

Marktgebiete. Das bringt uns viele Vorteile, weil größere Marktgebiete neue Marktteilnehmer anziehen. Trotzdem haben wir immer noch ernsthafte Probleme. Wo liegen die Herausforderungen? Dazu kann der Geschäftsführer von Open Grid Europe vermutlich mehr sagen als der ENTSOG-Präsident. In Deutschland steigen wir aus der Kernkraft aus. Aber im Moment nutzen wir kein Flüssiggas, und unsere eigene Gasförderung reicht nicht. Gegen den Bau neuer Übertragungsleitungen für Strom gibt es Proteste. Wir haben eine stark schwankende Stromerzeugung und dazu noch ein massiv wachsendes CO2-Problem. Verglichen mit anderen europäischen Ländern sind unsere Probleme ernster – und uns gehen langsam die Instrumente für die Lösung aus. Deshalb müssen wir schnellstens die Kurve kriegen. Aber ich glaube, das kann gelingen. KAMPHUES

Wenn die einheimische Gasförderung sinkt, stellt sich die Frage der Versorgungssicherheit. Vor der Liberalisierung und der Entflechtung haben sich die integrierten Gaskonzerne darum gekümmert. Wer macht das jetzt? POTOTSCHNIG Unsere Regelungen erlauben den Mitgliedstaaten bei Bedarf das Eingreifen. Wenn es hart auf hart kommt, ist also das Mitgliedsland verantwortlich. Aber so eine Intervention sollte der letzte Ausweg sein. Zuerst sollten wir die Märkte so gestalten, dass sie kurz- und langfristige Signale senden und damit Investitionsanreize schaffen.

Die Krise in der Ukraine hat die Diskussion über die Abhängigkeit von russischem Gas neu entfacht. Wie bewertet ACER die Lage? POTOTSCHNIG Wir sollten unsere Quellen so stark diversifizieren, dass wir nicht übermäßig von einzelnen Lieferanten abhängig sind. Ich denke, diese Lehre haben wir schon aus früheren Krisen gezogen. Wir

ENTSOG Das europäische Netzwerk der Betreiber von Übertragungsnetzen für Gas besteht seit 2009. ENTSOG hat den Auftrag, die Kooperation zwischen den nationalen Ferngasnetzbetreibern zu erleichtern und auszubauen. Angestrebt wird ein paneuropäisches Ferngasnetz, das auf die Energieziele der EU abgestimmt ist. Unter anderem beteiligt sich ENTSOG an der Entwicklung eines europaweit gültigen Regelwerks für die Stärkung des Markts und die Sicherung der Gasversorgung. Dabei arbeitet ENTSOG eng mit der Europäischen Kommission und der Regulierungsagentur ACER zusammen.

ACER Die Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden wurde 2011 gegründet. Ziel von ACER ist ein wettbewerbsfähiger, nachhaltiger, sicherer und transparenter EnergieBinnenmarkt. Dafür kooperiert die Agentur unter anderem mit Organen und Einrichtungen der EU, nationalen Regulierungsbehörden sowie den Verbänden der Betreiber von Übertragungsnetzen für Strom und Gas (ENTSO-E und ENTSOG). Arbeitsschwerpunkte von ACER sind die Entwicklung gemeinsamer Vorschriften und Initiativen, die Energieinfrastruktur und das Monitoring des Energiemarkts. Sitz der Agentur ist die slowenische Hauptstadt Ljubljana.

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» WIR MÜSSEN MEHR GAS NACH EUROPA HOLEN. ALSO SOLLTEN WIR UNSEREN MARKT INTERESSANT MACHEN.« » WIR SOLLTEN UNSERE QUELLEN FÜR GAS SO STARK DIVERSIFIZIEREN, DASS WIR NICHT ÜBERMÄSSIG VON EINZELNEN LIEFERANTEN ABHÄNGIG SIND.« sollten unsere Energiepolitik und unsere Infrastruktur so gestalten, dass wir jede Krise in jedem Teil der Welt überstehen können.

rung. Irgendwann ist es aber genug. Die Regulierer sollten die Regeln festlegen und sich dann zurückziehen, damit der Markt seine Aufgabe erfüllen kann.

Herr Kamphues, sind Sie einverstanden? Wer könnte ein neuer Gaslieferant werden?

Herr Pototschnig, können Sie sich ein Ende der nationalen Regulierung vorstellen?

KAMPHUES Es ist nie falsch, mehrere Transportwege und mehrere Lieferanten zu haben. Dadurch kann man Preise vergleichen und den Wettbewerb stärken. Wie gesagt, sinkt unsere eigene Produktion, daher müssen wir mehr Gas nach Europa holen. Also sollten wir unseren Markt interessant machen. Wir brauchen sicherlich viele Quellen, aber es gibt auch viele Produzenten, die Europa beliefern wollen. Ich sehe iranisches und irakisches Gas als Optionen für die Zukunft. Außerdem werden Projekte geplant, um kaspisches Gas in die EU zu transportieren.

POTOTSCHNIG Wir haben sicherlich riesige Fortschritte bei der Integration gemacht. Ich maße mir nicht an vorauszusagen, ob und wann es einen einzigen Regulierer für Europa geben wird. Doch irgend­ eine Form von Regulierung werden wir immer brauchen. Denn die Infrastruktur für Gas stellt ein natürliches Monopol dar – wir brauchen also Regeln für den diskriminierungsfreien Zugang zu dieser Infrastruktur. Und darüber hinaus sollten wir die Marktaufsicht erhalten, um missbräuchliches Verhalten zu verhindern.

Herr Pototschnig, ACER wurde vor drei Jahren gegründet, um die Zusammenarbeit der nationalen Regulierungsbehörden zu unterstützen. Wie kommen Sie dabei voran?

Der Ausbau der Infrastruktur ist ein Schlüssel zur Integration der Märkte und zur Diversifizierung der Lieferantenstruktur. Was genau müsste denn neu errichtet werden?

POTOTSCHNIG Unsere Agentur hat bei der Entwicklung des Energie-Binnenmarkts die europäische Dimension stark betont. Diese Dimension ist nicht immer die Summe der nationalen Ansätze. Aber die Zusammenarbeit ist sehr produktiv – und am Ende finden wir immer einen Weg, die nationalen Interessen und die europäische Dimension angemessen zu berücksichtigen.

KAMPHUES Europa verfügt bereits über ein riesiges Gasnetz. Wir brauchen daher nur ein paar Anbauten, kein ganz neues System. Im Moment fehlt uns ein starker vierter Korridor für Lieferungen aus dem Süden. Dazu brauchen wir vielleicht ein oder zwei Zugänge zu Flüssiggas plus zwei, drei grenzüberschreitende Verbindungen.

Wer soll das finanzieren? Wenn der Energie-Binnenmarkt vollständig funktioniert – hat nationale Regulierung dann überhaupt noch einen Sinn? KAMPHUES Das ist das europäische Dilemma: Wir suchen homogene Antworten in einer heterogenen Welt. Aber Regulierung und Harmonisierung sind kein Selbstzweck. Unser Ziel lautet, Hindernisse für den gemeinsamen Markt abzubauen. Wenn das auf der nationalen Ebene gelingt, umso besser. Allerdings verzerren nationale Gesetze oft ein internationales Geschäft. Also brauchen wir eine gewisse Harmonisie48

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POTOTSCHNIG Ich habe den Eindruck, dass genügend Anleger auf der Suche nach guten Investments sind. Die Renditen, die mit Infrastruktur zu erzielen sind, sollten ausreichend Kapital anziehen. Schließlich sind die Risiken im regulierten Geschäft überschaubar.


KAMPHUES Ja, die Finanzierung sollte kein Problem sein. Die andere Frage ist die Refinanzierung. Aber so gut wie alle Tarifsysteme enthalten eine Komponente, die Abschreibungen berücksichtigt. Wenn man also eine neue Anlage baut, steigt der Tarif ein wenig. Ich habe schon erklärt, dass wir gar nicht so viele zusätzliche Kapazitäten schaffen müssen. Verglichen mit dem Stromsektor ist die Lage beim Gas relativ entspannt. Daher denke ich, dass zusätzliche Infrastruktur über die Tarife refinanziert werden kann. Angesichts der ohnehin vorhandenen Abschreibungen auf das existierende Gasnetz wäre der Effekt nicht massiv.

Die Märkte für Gas und Strom unterliegen immer stärkeren Wechselwirkungen. Wie lange ist es noch sinnvoll, sie getrennt zu regulieren?

die schwankende Stromerzeugung der Erneuerbaren Energien ausgleichen sollen, brauchen wir mehr kurzfristigen Gashandel. Wir sollten diese gegenseitigen Abhängigkeiten genau beobachten und bei der Regulierung der beiden Märkte berücksichtigen. Herr Kamphues, wird ENTSOG demnächst mit ENTSO-E, dem Gegenstück für den Strommarkt, fusionieren? KAMPHUES Das glaube ich nicht. Das Gasgeschäft ist unter anderem aufgrund der großen Entfernungen zu den Produzenten viel stärker internationalisiert als der Stromsektor. Es wäre keine gute Idee, die beiden Organisationen einfach so zu vereinigen. Aber ich halte es für sehr sinnvoll, die Entwicklung des Gas- und des Strommarkts eng zu koordinieren.

POTOTSCHNIG Ich glaube, es wird dabei bleiben, weil die physikalischen Eigenschaften der beiden Medien so unterschiedlich sind. Aber die Regulierung muss darauf reagieren, dass die beiden Sektoren zusammenwachsen. Ein Beispiel: Wenn Gaskraftwerke ENERGIEPOLITIK IN EUROPA STREITFRAGEN 01|2014

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ERHARD OTT

ist seit 2001 Mitglied im ver.di-Bundesvorstand. Die Dienstleistungsgewerkschaft setzt sich in einer 15-seitigen Stellungnahme intensiv mit dem geplanten Freihandelsabkommen auseinander.


DREI FRAGEN AN ERHARD OTT 01

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DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION PLANT EIN TRANSATLANTISCHES FREIHANDELSABKOMMEN (TTIP) ZWISCHEN DER EU UND DEN USA. WELCHE KONKRETEN AUSWIRKUNGEN BEFÜRCHTEN SIE FÜR DIE WASSER- UND ABWASSERWIRTSCHAFT?

DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION WILL IM FREIHANDELSABKOMMEN DEN INVESTITIONSSCHUTZ VON UNTERNEHMEN STÄRKEN. DAZU WILL SIE EINEN SOGENANNTEN STREITSCHLICHTUNGSMECHANISMUS EINRICHTEN. NACH AUFFASSUNG DER WASSERWIRTSCHAFT DARF DAS NICHT DIE NATIONALE UND EUROPÄISCHE RECHTSSYSTE­ MATIK UNTERLAUFEN, UM DIE BEWÄHRTEN STRUKTUREN NICHT ZU GEFÄHRDEN. UNTERSTÜTZEN SIE DIESE FORDERUNG?

HANDELSABKOMMEN FINDEN OFT HINTER VERSCHLOSSENEN TÜREN STATT. TRANSPARENZ IST FÜR ALLE BETROFFENEN WICHTIG, ALSO AUCH FÜR DIE WASSERWIRTSCHAFT. WIE TRANSPARENT IST DER PROZESS BEI DEN LAUFENDEN VERHANDLUNGEN ZUM TTIP?

Die TTIP-Verhandlungen stehen unter der Überschrift Marktöffnung. Angesichts der wenigen Informationen, die wir haben, ist schwer zu beurteilen, was das bedeuten könnte. Klar ist: Wasser ist ein öffentliches Gut, in der Daseinsvorsorge gibt es kein Marktgeschehen. Deshalb darf dieser Bereich nicht in das Abkommen einbezogen werden. Anderenfalls sind die Strukturen der deutschen Wasserwirtschaft gefährdet. So wie das auch bei Einbeziehung in die Konzessionsrichtlinie geschehen wäre. Das haben wir gerade erst mithilfe der Europäischen Bürgerinitiative »Wasser ist Menschenrecht« verhindert. Werden Umweltstandards in Frage gestellt, gefährdet das direkt oder mittelbar die Ressource, aus der wir unser Trinkwasser gewinnen, das Lebensmittel Nummer eins! Und es muss möglich bleiben, regionale Wirtschaftsförderung zu betreiben, indem kommunale Unternehmen örtliche Anbieter bei Investitionen bevorzugen.

Wir stehen diesen Schiedsgerichtsverfahren ablehnend gegenüber. In Staaten mit sicherem Rechtssystem sind solche Mechanismen überflüssig, ja widersinnig. Sie gefährden letztlich die kommunale Selbstverwaltung, indem sie die demokratische Willensbildung unter Druck setzen. Wenn ein Stadtrat bei einer geplanten Umweltschutzmaßnahme fürchten muss, wegen enttäuschter Gewinnerwartungen auf Millionen verklagt zu werden, wird die Maßnahme vielleicht gar nicht mehr erwogen. Ich begrüße deshalb, dass die Kommission die Verhandlungen zu Investitionsschutzklauseln, ISDS (Investorto-State Dispute Settlement), aussetzt und zunächst eine Konsultation durchführt.

Zunächst waren die Verhandlungen völlig intransparent. Selbst das Verhandlungsmandat der EU-Kommission war geheim. Das hat viel Misstrauen geweckt. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen haben sich schnell zu diesem Thema zusammengefunden und sehr viel Druck erzeugen können. Die EU-Kommission hat darauf mit Informationsangeboten reagiert. Nach jeder Verhandlungsrunde gibt es nun Stakeholder-Briefings. Ein 16-köpfiger TTIP-Beirat erhält nach jeder Runde Einblick in ausgewählte Unterlagen. In diesem Beirat sind der Europäische Gewerkschaftsbund und der Verband der Industriegewerkschaften vertreten. Wie viel Transparenz das wirklich bringt, muss sich erst noch zeigen. Wir bleiben in jedem Fall in der politischen Auseinandersetzung und werden unseren Einfluss geltend machen.

DAS TRANSATLANTISCHE FREIHANDELSABKOMMEN Die offiziellen Bezeichnungen für das trans­ atlantische Freihandelsabkommen sind Transatlantic Free Trade Agreement (TAFTA) oder – derzeit am gebräuchlichsten – Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP). Konkrete Verhandlungen über den

Vertrag gibt es seit 2013. Geplant ist eine Freihandelszone zwischen den USA und der Europäischen Union, der sich aber auch Kanada, Mexiko und weitere europäische Staaten anschließen könnten. Als Vorbild des geplanten Abkommens gilt das Multilaterale Investiti-

onsabkommen MAI, das schon in den Neunzigern die Rechte von Investoren im Ausland stärken sollte. Es wurde damals von globa­ lisierungskritischen Gruppen stark kritisiert. Wegen ihres Widerstands wurde das MAI nie beschlossen. 51


GEBÜHREN VERSUS PREISE ›

In der deutschen Wasserwirtschaft bestehen öffentlich-rechtliche Gebühren und privatrechtliche Preise nebeneinander. Sie unterliegen aber unterschiedlichen Kontrollmechanismen. Andreas Mundt und Prof. Dr. Christoph Brüning diskutieren über Gebühren und kartellrechtliche Missbrauchsaufsicht bei Wasser und Abwasser.

Herr Brüning, Herr Mundt, wie stehen aus Ihrer Sicht Gebühren und kartellrechtliche Missbrauchsaufsicht bei Wasser und Abwasser zueinander? PROF. DR. CHRISTOPH BRÜNING Das sind zwei Paar Schuhe! Grundsätzlich wird der Verwaltung allgemein eine Wahlfreiheit und den Kommunen insbesondere die Organisationshoheit über die Art und Weise der Aufgabenwahrnehmung eingeräumt. Damit obliegt ihnen eine durchgreifende Weichenstellung: Sie können die Nutzungsverhältnisse an öffentlichen Verund Entsorgungseinrichtungen entweder öffentlichrechtlich regeln einschließlich der Erhebung von Beiträgen und Gebühren durch Verwaltungsakte auf der Grundlage kommunaler Satzungen. Alternativ kommt die privatrechtliche Vertragsgestaltung inklusive der Verwendung von AGB und Tarifen sowie der Forderung von Entgelten in Betracht. Der Gesetzgeber hat diese Wahlmöglichkeit im Kommunalabgabenrecht ausdrücklich anerkannt. Die organisatorische Zweispurigkeit der Verwaltung setzt sich auf der Ebene der Kontrolle fort: Öffentlich-rechtliche Gebühren und Beiträge haben

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die Vorgaben des Kommunalabgabenrechts einzuhalten. Dazu zählen vor allem das Kostendeckungsprinzip und das Prinzip der Erforderlichkeit, anhand dessen auch die Wirtschaftlichkeit einer Organisationsmaßnahme gemessen wird. Dafür, dass das tatsächlich geschieht, ist staatsintern die Kommunalaufsicht zuständig. Doch auch der Abgabenschuldner trägt dazu bei, dass diese Rechtsbindung gemeindlicher Verwaltungsträger durchgesetzt wird. Denn er kann die Gebühr oder den Beitrag verwaltungsgerichtlich überprüfen lassen. Demgegenüber unterliegen privatrechtlich organisierte und handelnde öffentliche Unternehmen grundsätzlich der wettbewerbsrechtlichen Kontrolle der Kartellbehörden; hierzu gehört auch eine Preismissbrauchsaufsicht. Im Fall zivilvertraglicher Leistungserbringung kann der Kunde die Entgeltforderung zivilgerichtlich überprüfen lassen. Insoweit greift jedoch nur der relativ unbestimmte Billigkeitsmaßstab des § 315 Abs. 3 BGB ein.


PROF. DR. CHRISTOPH BRÜNING

ist Direktor des Instituts für Öffentliches Wirtschaftsverwaltungsrecht an der Universität Kiel. Ein Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit ist das Kommunalabgabenrecht.


ANDREAS MUNDT Der Gesetzgeber hat mit der Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) die Gebühren bewusst von der kartellrechtlichen Missbrauchskontrolle ausgenommen. Aus wettbewerblicher Sicht ist das äußerst bedauerlich und nicht nachvollziehbar, schließlich gehen alle Wasserversorger einer wirtschaftlichen Tätigkeit nach. Für den Verbraucher macht es keinen Unterschied, ob er zu hohe Preise oder zu hohe Gebühren für sein Wasser zahlt. Der Staat entzieht sich hier den Regeln, die er in der Privatwirtschaft für selbstverständlich hält. Letzten Endes führt dies zu einer Ungleichbehandlung von Wasserversorgern und deren Kunden. Ich sehe auch keinen Grund, warum man Versorgern, die Gebühren für ihr Wasser verlangen, eine kartellrechtliche Missbrauchskontrolle nicht zumuten kann. Zudem haben es privatrechtlich organisierte Versorger jetzt relativ leicht, einer kartellrechtlichen Prüfung durch eine entsprechende Umwandlung auszuweichen. Zwar gehe ich nicht davon aus, dass uns nun eine große Welle der »Flucht in die Gebühren« bevorsteht. Schließlich arbeitet ein großer Teil der Wasserversorger auch sehr effizient. Trotzdem bleibt die Möglichkeit der Flucht in die Gebühren ein reelles Problem. Denn gerade diejenigen, bei denen eine externe Kontrolle besonders nötig wäre, ergreifen die Flucht.

Darf es eine Missbrauchsaufsicht für Gebühren geben? BRÜNING Die kartellrechtlichen Preismissbrauchsvorschriften sind auf öffentlich-rechtliche Abgaben in der Abwasser- oder Wasserwirtschaft nicht anwendbar, wenn die einschlägigen Vorschriften im Sinne der Verfassung ausgelegt werden. Denn das wettbewerbsrechtliche Aufsichtsinstrumentarium greift nicht schon dann ein, wenn scheinbar Leistungsbeziehungen bestehen. Vielmehr muss hinzukommen, dass diese Leistungen auch wirklich im Wettbewerb erbracht werden. Demgegenüber sind in der leitungsgebundenen Ver- und Entsorgungswirtschaft das Monopol, die Aufgabenerfüllung und das Entgelt weitgehend gesetzlich reglementiert. Deshalb können die für die Benutzung öffentlicher Einrichtungen erhobenen Abgaben nicht als Ergebnis eines Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung angesehen werden. Im Übrigen wird die objektive Rechtsbindung der Verwaltung dadurch abgesichert, dass dem Abgabenschuldner effektiver Individualrechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt gewährleistet wird. Der Bürger erhält also umfassenden Rechtsschutz, auch wenn das Kartellrecht nicht zur Anwendung kommt. In diesem Sinne hat der Gesetzgeber Mitte des letzten Jahres das GWB geändert und klargestellt, dass die Kartellaufsicht grundsätzlich keine Anwendung auf öffentlich-rechtliche Gebühren und Beiträge in der Wasserwirtschaft findet. 54

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ANDREAS MUNDT

hat nach dem 2. Staatsexamen im Bundesministerium f체r Wirtschaft die Integration der neuen Bundesl채nder begleitet und ist seit 2009 Pr채sident des Bundeskartellamts.


» ICH MÖCHTE GAR NICHT DARÜBER URTEILEN, WIE KOSTENSTRUKTUREN DURCH DAS GEBÜHRENRECHT BERÜCKSICHTIGT WERDEN.« » DIE KOSTEN EINER LEISTUNG LASSEN SICH NICHT ALLEIN AUFGRUND EINER KAUSALITÄTSPRÜFUNG ERMITTELN.« MUNDT Die Wasserversorgung ist ein natürliches Monopol, die Anbieter werden nicht vom Wettbewerb kontrolliert. Umso wichtiger ist deshalb eine stringente Missbrauchsaufsicht. Das Bundeskartellamt und die Landeskartellbehörden haben in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Verfahren erfolgreich geführt. In Berlin hat das Bundeskartellamt eine Wasserpreissenkung um 18 Prozent verfügt. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat unsere Entscheidung gerade eindrucksvoll bestätigt. Die Stadtwerke Mainz haben sich in einem Missbrauchsverfahren des Kartellamtes verpflichtet, ihre Wasserpreise um 15 Prozent herabzusetzen. Viele Wasserkunden haben von den Verfahren profitiert. Für Versorger, die Gebühren erheben, ist uns dieser Weg nunmehr versperrt. Es bleibt nur die Kommunalaufsicht der Länder. Hierbei handelt es sich jedoch eher um eine reine Rechtsaufsicht, bei der die Effizienzkontrolle jedenfalls nicht gerade im Vordergrund steht. Die Kommunalaufsicht prüft in vielen Fällen nicht mit der notwendigen Stringenz, welche der angefallenen Kosten tatsächlich notwendig sind. Diese Defizite würde eine kartellrechtli-

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che Missbrauchsaufsicht für Gebühren auffangen. Zwar versuchen einige Bundesländer über private Benchmarkings, die die Wasserversorger allerdings auch selber bezahlen müssen, Hilfestellungen für Effizienzverbesserungen zu geben. Das ist begrüßenswert – eine Kartellkontrolle kann dadurch aber nicht ersetzt werden. Die Teilnahme an den Benchmarkings ist letztlich freiwillig und die Aufsichtsbehörden der Länder bekommen die Benchmarking-Berichte in der Regel nicht einmal zu sehen. Erst recht können sie niemanden dazu anhalten, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Wenn ja: Ist dann die Entscheidungshoheit der Kommunen gefährdet? BRÜNING Die Aufgabe der Versorgung der Bevölkerung mit Trink- und Brauchwasser ist den Gemeinden ebenso als (pflichtige) Selbstverwaltungsaufgabe zugewiesen wie diejenige der Abwasserbeseitigung. Damit steht den kommunalen Aufgabenträgern kraft Art. 28 Abs. 2 GG ein eigenverantwortlich auszufüllender Gestaltungsspielraum zur Verfügung, der die Tätigkeit von Aufsichtsbehörden und Gerichten beschränkt. Reine Wirtschaftlichkeitserwägungen und schlichte Preisvergleiche, wie sie die Kartellbehörden regelmäßig an-


stellen, greifen zu kurz. Insoweit ist zu beachten, dass für die Erhebung kommunaler Abgaben ein sogenannter Satzungszwang besteht. Indem der Gemeinderat diese Rechtssätze beschließen muss, werden sie demokratisch vor Ort legitimiert. Die Verleihung von Satzungsautonomie hat »ihren guten Sinn« in der Aktivierung gesellschaftlicher Kräfte zur eigenverantwortlichen Regelung solcher Angelegenheiten, die sie selbst betreffen und die sie in überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können. So wird der Abstand zwischen Normgeber und Normadressat verringert. Diejenige Abgabenkalkulation, die Grundlage des beschlossenen Gebührensatzes (geworden) ist, hat sich der Satzungsgeber billigend zu Eigen gemacht und damit die Verantwortung dafür übernommen. Demgegenüber fehlt dem vergleichenden Blick der Kartellbehörden auf andere Unternehmen an anderen Orten die örtliche demokratische Legitimation; die Fixierung auf eine finanzielle Entlastung des »Kunden« blendet die politisch-partizipatorische Dimension des »Kommunalbürgers« aus. MUNDT Jede Kommune, ob sie nun Gebühren oder Preise verlangt, sollte in erster Linie im Interesse der Verbraucher handeln und eine effiziente Trinkwasserversorgung bereitstellen. Es leuchtet mir daher nicht ein, wieso sich die Politik so vehement einer Effizienzkontrolle bei kommunalen Wasserversorgern verschließt. Strukturelle Unterschiede werden im Rahmen der Missbrauchsaufsicht vollumfänglich berücksichtigt. Auch die Sorge, dass die Versorgungsqualität unter einer stringenten Missbrauchsaufsicht leidet oder Investitionen in den Umweltschutz ausbleiben, halte ich für unbegründet. In unseren Entscheidungen erkennen wir vorsorgende Leistungen stets als Rechtfertigungsgründe an, wenn sie eine nachhaltige Wasserversorgung sicherstellen. Wir sind uns bewusst, dass Wasser ein besonderes Gut ist – aber auch dieses besondere Gut kann zugleich effizient und qualitativ hochwertig bereitgestellt werden. In der Öffentlichkeit herrscht mittlerweile auch ein gewisses Unverständnis dafür, dass an dieser Stelle so wenig getan wird. Da überrascht es nicht, dass bereits von verschiedenen Seiten Vorschläge zu einer Regulierung der Wasserwirtschaft gemacht worden sind. Angesichts der mehr als 6 000 Wasserversorger, die wir in Deutschland haben, würde eine Regulierung aber einen enormen bürokratischen Aufwand mit sich bringen. Und den Wasserversorgern würden letztlich noch mehr gesetzliche Pflichten auferlegt. Eine Missbrauchsaufsicht über die gesamte Wasserversorgung, die nur dort tätig wird, wo konkrete Anhaltspunkte

für missbräuchliches Verhalten bzw. missbräuchliche Preissetzung vorliegen, halte ich deshalb für wesentlich effizienter. Werden Kostenstrukturen durch das Gebührenrecht besser berücksichtigt? Die Kosten einer Leistung lassen sich nicht allein aufgrund einer Kausalitätsprüfung ermitteln. Es ist eine unternehmerische Entscheidung, welcher Kostenaufwand betrieben wird, um eine Leistung zu erbringen. Die Entscheidungsfreiheit des öffentlichrechtlichen Einrichtungsträgers hat jedoch ihre Grenzen. Eine dieser Ermessensgrenzen errichtet der abgabenrechtliche Grundsatz der Erforderlichkeit: Nicht alle betriebsbedingten, das heißt durch die Leistungserstellung verursachten Kosten sind in der Gebührenkalkulation ansatzfähig. Vielmehr darf der Gebührenschuldner nur mit Kosten belastet werden, die zur Aufgabenerfüllung erforderlich sind. Das gilt sowohl für die angesetzten Kostenarten als auch für den Umfang der gebührenfähigen Kosten. Überflüssige wie auch übermäßige Kosten dürfen danach in der Kalkulation nicht berücksichtigt werden. Wenn die einschlägigen Bestimmungen aus KAG und GWB in Grenzfällen Wertungswidersprüche offenbaren, ist allein der Gesetzgeber zur Harmonisierung berufen. Ein ausgreifendes Verständnis der kartellbehördlichen Zuständigkeiten hebelte letztlich die materiell-rechtlichen Bindungen des (Kommunal-)Abgabenrechts aus. Im Ergebnis führte das zur umfassenden kartellrechtlichen Kontrolle jeglicher staatlicher Abgabenerhebung anhand wettbewerblicher Maßstäbe. Kommunalrecht, Kommunalaufsicht und letztlich auch Verwaltungsrechtsschutz wären überflüssig. BRÜNING

MUNDT Ich möchte gar nicht darüber urteilen, wie Kostenstrukturen durch das Gebührenrecht berücksichtigt werden. Klar ist, dass wir uns als Kartellbehörde stets ein umfassendes Bild von den Unternehmen machen müssen. In unseren Missbrauchsverfahren sehen wir uns sowohl die Erlös- als auch die Kostenseite des betroffenen Unternehmens ganz genau an. Hierin liegt eine Kernkompetenz des Bundeskartellamts. Wir können eine enorme Expertise aus vielen Branchen, Verfahren und Sektoruntersuchungen vorweisen. Im Übrigen müssen Sie sehen, dass wir am Ende des Verfahrens immer eine Einzelfallentscheidung treffen. So können wir die individuellen landesspezifischen, lokalen und umweltspezifischen Gegebenheiten eines Versorgers bestmöglich in der Prüfung berücksichtigen. Diese Verfahren entfalten dann eine Beispielwirkung für den Gesamtmarkt. Andere Versorger setzen sich selbst mit ihren Kostenstrukturen auseinander und prüfen, an welchen Stellen sie sparen und wo sie effizienter werden können.



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