BDEW-Magazin "Streitfragen!" - 03/2014

Page 1

Streitfragen! Die Energie- und Wasserwirtschaft im Dialog | Das Magazin 03|2014

EIN HEFT ÜBER NACHHALTIGKEIT S.06

S.20

S.36

NACHDENKEN ÜBER NACHHALTIGKEIT

RICHTIG ZU INVESTIEREN IST EINE KUNST

STELLSCHRAUBEN FÜR NACH­ HALTIGEN GEWÄSSERSCHUTZ

Autor Wolf Lotter plädiert für wirklich nachhaltiges Denken und Handeln.

Hans-Günther Meier und Edgar Föniger diskutieren über zukunftssichere Verteilnetze.

Dr. Christian Hey will besseren Umgang mit der Ressource Wasser.


DIPL.-ING. JOHANNES KEMPMANN

(l.) ist technischer Geschäftsführer der Städtischen Werke Magdeburg GmbH & Co. KG. Seit Juni 2014 ist er Präsident des BDEW.

JÖRG SIMON

ist Vorstandsvorsitzender der Berliner Wasserbetriebe und seit Juni 2014 Vizepräsident des BDEW.

liebe Leserin, lieber leser, »nachhaltig« ist eines der »100 Wörter des 20. Jahrhunderts«, ausgewählt von der Gesellschaft für deutsche Sprache. Der Begriff hat nicht nur die deutsche Gesellschaft geprägt, nachhaltiges Handeln ist das globale Leitbild unserer Zeit geworden. Es gilt, wirtschaftliche, ökologische und soziale Entwicklungen gemeinsam zu betrachten. Es wird keinen dauerhaften wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt ohne intakte Umwelt geben – aber auch keine intakte Umwelt ohne wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt. Der Gedanke der Nachhaltigkeit ist durch die Energiewende präsenter denn je. Deutschland will international zeigen, dass Wohlstand und sichere Energieversorgung auch mit drastisch sinkenden CO2-Emissionen möglich sind.


Wie kann das auf Unternehmensebene gelingen? Wie kann man Energienetze und Erzeugungsanlagen dauerhaft wirtschaftlich betreiben, ohne dass die Kosten unbeherrschbar werden? Darf Nachhaltigkeit profitabel sein, oder muss sie das nicht sogar? Nachhaltigkeit bedeutet für die deutsche Energiewirtschaft auch, die Energiewende europäisch zu denken. Nationale Lösungen werden nur Bestand haben, wenn sie mit dem europäischen Energiebinnenmarkt vereinbar sind. Auch der Klimaschutz macht an keiner Grenze halt. Die deutsche Energie- und Wasserwirtschaft fordert seit Langem, den CO2-Ausstoß auf europäischer Ebene bis 2030 um mindestens 40 Prozent zu reduzieren. Bereits 2009 hatte sich der BDEW für eine CO2-neutrale Energieversorgung ab 2050 ausgesprochen. Kernaufgabe der Wasserwirtschaft ist es, das konstant hohe Niveau der deutschen Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung sicherzustellen. Sie setzt sich dabei grundsätzlich für eine Stärkung des Verursacher- und Vorsorgeprinzips ein. Wir müssen beispielsweise dafür sorgen, dass bestimmte Stoffe wie Medikamente oder Dünger gar nicht erst erst ins Grundwasser gelangen. Denn in der Umwelt unerwünschte Stoffe wieder zu entfernen, ist aufwendig und kostet nicht nur die Unternehmen Geld, sondern auch den Bürger. Für die Energie- und Wasserwirtschaft bedeutet nachhaltiges Handeln auch, mit der Ressource Qualifikationen verantwortungsvoll umzugehen. Denn nur mit motivierten Mitarbeitern und sehr gut qualifizierten Nachwuchskräften kann die Branche ihrer Verantwortung für eine zukunftsfähige Energie- und Wasserversorgung gerecht werden und nachhaltig erfolgreich wirtschaften. Die Verantwortung beginnt nicht morgen oder übermorgen, sondern jetzt und hier, bei uns und jedem Einzelnen. Gut, wer heute versteht, was übermorgen wichtig wird. Die Protagonisten in dieser Magazinausgabe geben hier interessante Einblicke. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen.

Dipl.-Ing. Johannes Kempmann

Jörg Simon

STREITFRAGEN 03|2014

01


S.08 DIE ENERGIEBRANCHE HAT EINE BESONDERE VERANTWORTUNG

Was bedeutet Nachhaltigkeit für die Erzeugung und den Verbrauch von Strom und Wärme? Marlehn Thieme vom Rat für Nachhaltige Entwicklung und Dr. Marie-Luise Wolff-Hertwig, HSE, skizzieren eine nachhaltige Energiewirtschaft

02

s.14

S.36

s.40

HOHE HÜRDEN AUF DEM WEG ZUM KLIMASCHUTZZIEL

STELLSCHRAUBEN FÜR NACH­ HALTIGEN GEWÄSSERSCHUTZ

DER KAMPF UM DIE TALENTE BEGINNT IM HÖRSAAL

Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth sieht gute

Dr. Christian Hey vom Sachverständigenrat

Wie kann man junge Talente gewinnen und halten?

Chancen für weniger CO2-Emissionen

für Umweltfragen setzt sich für besseren

Darüber sprechen Kerstin Abraham, Stadtwerke

Gewässerschutz ein

Krefeld, und der angehende Ingenieur Colin de Vrieze

STREITFRAGEN 03|2014


KLIMA- UND UMWELTSCHUTZ

S.06

S.08

NACHDENKEN ÜBER NACHHALTIGKEIT

Der Autor Wolf Lotter zeichnet die Karriere des Begriffs nach und plädiert für wirklich nachhaltiges Denken und Handeln DIE ENERGIEBRANCHE HAT EINE BESONDERE VERANTWORTUNG

Marlehn Thieme, Nachhaltigkeitsrat, und Dr. Marie-Luise Wolff-Hertwig, HSE, pochen auf wirtschaftliche, soziale und ökologische Standards

S.14

S.26

PRO & CONTRA KOHLE

S.30

NACHHALTIGE ENERGIEVERSORGUNG WELTWEIT IST DIE ZUKUNFT

Tanja Gönner, GIZ, wirbt für den Ausbau der Erneuerbaren Energien in Entwicklungs- und Schwellenländern

S.32

HOHE HÜRDEN AUF DEM WEG ZUM KLIMASCHUTZZIEL

Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth sieht eine Chance, Deutschlands CO2-Emissionen bis 2020 wie geplant zu senken

S.18

HEMMNISSE FÜR INVESTITIONEN

Versicherer würden gern in Netze und Kraftwerke investieren. Doch EU-Regeln machen das unattraktiv, erklärt Dr. Paul-Otto Faßbender von der ARAG

WASSERWIRTSCHAFT

S.36

INFRASTRUKTUR

Oliver Krischer, Grüne, hält den Ausstieg aus der Kohle für unvermeidlich. Dr. Rolf Martin Schmitz, RWE, hält dagegen

STELLSCHRAUBEN FÜR NACH­HALTIGEN GEWÄSSERSCHUTZ

Dr. Christian Hey setzt sich für besseren Gewässerschutz ein 20 000 KILOMETER ÜBER DAS MEER

TenneT-Geschäftsführer Lex Hartman erläutert, warum eine Konverterplattform für die Nordsee in Dubai entstand

S.20

RICHTIG ZU INVESTIEREN IST EINE KUNST

S.24

LÄRMSCHUTZWAND AUS LUFT

Die Stadtwerkemanager Edgar Föniger, Güstrow, und Hans-Günther Meier, Düsseldorf, über den Umbau der Verteilnetze

NACHWUCHS

S.40

DER KAMPF UM DIE TALENTE BEGINNT IM HÖRSAAL

Kerstin Abraham, Stadtwerke Krefeld, und der angehende Ingenieur Colin de Vrieze analysieren die »Generation Y«

S.44

Dr. Georg Nehls, BioConsult SH, beschreibt, wie ein Blasenschleier Schweinswale vor dem Lärm der Bauarbeiten an Offshore-Windparks schützt

REGIONALE VERSORGER HABEN EINEN TRUMPF IN DER HAND

Moderne, zukunfts- und wertorientierte Unternehmen sind auch attraktive Arbeitgeber, meint DEW-Chef Dr. Frank Brinkmann

S.45

SCHULABBRECHER – DIE AZUBIS VON MORGEN?

Die dänische Produktionsschule bietet jungen Leuten ohne Abschluss Orientierung und Qualifizierung

impressum HERAUSGEBER

BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V. Reinhardtstraße 32 10117 Berlin streitfragen@bdew.de www.bdew.de REDAKTION

KONZEPT UND REALISIERUNG

Kuhn, Kammann & Kuhn GmbH, unter redaktioneller Mitarbeit von Wolf Szameit. Birgit Heinrich (Bildwelt) und Ricarda Eberhardt, BDEW DRUCK UND VERARBEITUNG

Kirchner Print.Media GmbH & Co. KG, Kirchlengern

BILDNACHWEIS

Malte Jäger: Editorial. Roland Horn: Editorial, S. 08 – 12, S. 14, S. 20 – 23, S. 40 – 43. Sarah Esther Paulus: S. 06. Andreas Fechner: S. 32. ©iStock.com / Rouzes: Umschlag, S. 19, S. 24. Torresol Energy Investments S.A.: S. 04. plainpicture / Maria Domer: S. 36

Mathias Bucksteeg Sven Kulka Redaktionsschluss: September 2014

Print

kompensiert Id-Nr. 1439796 www.bvdm-online.de

03


2 650 Spiegel bündeln im Kraftwerk Gemasolar im Süden Spaniens das Sonnenlicht. Im Turm der andalusischen Anlage wird dadurch flüssiges Salz auf mehr als 500 Grad Celsius erhitzt. Das Salz speichert die Wärme – so kann das 19,9-Megawatt-Kraftwerk 15 Stunden lang ohne direkte Sonneneinstrahlung Strom produzieren.



NACHDENKEN ÜBER NACHHALTIGKEIT

06

STREITFRAGEN 03|2014  KLIMA- UND UMWELTSCHUTZ

Nachhaltigkeit findet heute jeder gut. Aber worüber begeistern wir uns eigentlich genau? Und hilft das wirklich weiter?


Wenn man nicht mehr weiter weiß, gründet man ’nen Arbeitskreis. Über diese schöne wie zeitlose deutsche Volksweisheit kann man lachen – oder sich mal fragen, wohin das führt. Die Logik dahinter ist ganz simpel. Wenn die Lösung eines Problems zu kompliziert ist, dann vergemeinschaftet man das Problem. Dann wird es nicht gelöst, sondern verwaltet. Das schafft es nicht aus der Welt, aber vielleicht ein paar Arbeitsplätze. Dazu muss zunächst das Kind, also unser Problem, einen Namen haben, der sich zum Schlagwort vermarkten lässt. Alle Interessengruppen füttern das Schlagwort mit jeweils anderen Bedeutungen. So wird unser Problem dick und unbeweglich. Man erkennt solche verwalteten Probleme daran, dass es kaum noch jemanden gibt, der sagen kann, wo das Problem anfängt und wo es aufhört.

Das ist das Schicksal des Wortes Nachhaltigkeit. Was wäre denn heute nicht mehr nachhaltig? Im Jahr 1992 verkündete die norwegische Politikerin Gro Harlem Brundtland auf dem UN-Entwicklungsgipfel in Rio de Janeiro ihre Definition von Nachhaltigkeit: »Nachhaltigkeit ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation abdeckt, ohne die Möglichkeiten der zukünftigen Generation zu beeinträchtigen.« Das ist flexibel genug, um alles damit anstellen zu können, was sich politisch so ergeben könnte. Folgerichtig wusste fast ein Jahrzehnt nachdem das große Wort die politische Weltbühne betrat kaum ein Bundesbürger etwas damit anzufangen: Neun von zehn Deutschen im Jahr 2001 wussten nicht, was Nachhaltigkeit eigentlich sein soll. Damals gründete die Bundesregierung den »Rat für Nachhaltige Entwicklung«. Das ist eine Gruppe kluger Menschen, die über Nachhaltigkeit nachdenken und Empfehlungen aussprechen. Unterdessen ist draußen, in der Wirtschaft und Gesellschaft, ohnehin alles nachhaltig geworden. Bier, Limo, Autoreifen, Managementmeetings und Hotelzimmer. Das ist so wie mit den bunten Farben zum Ende der Sechzigerjahre. Auf einmal war alles orange und knallgrün, und das war modern, und modern war gut. Warum? Blöde Frage. In einer Aufmerksamkeitsgesellschaft werden Werte dadurch zerstört, dass man die Begriffe, die sie repräsentieren, so inflationär nutzt, bis ihnen die Luft ausgegangen ist. Das entspricht der alten Weisheit: Viel reden, aber nichts sagen. Nachhaltigkeit ist omnipräsent, allgegenwärtig. Dabei ist das Wort wichtig.

Der Stuttgarter Soziologe Ortwin Renn hat eine eigene Definition gefunden: »Nachhaltigkeit heißt rechtzeitig nachdenken«. Nachdenken ist so was wie eine geistige Inventur machen. Was haben wir, was können wir? Mit dieser Zwischensumme menschlichen Geistes kann man dann überlegen, wie man aktuelle Probleme – wie die demografische Entwicklung, die Ressourcenverknappung, die Frage nach Klimawandel – bewältigen kann. Es geht um Gestaltung, um Vordenken. Es geht nicht darum, Nachhaltigkeit mit Rückbau, Reduzierung und Minuswachstum zu verbinden. Der ganze negative Schwall, der sich

mit Nachhaltigkeit auf die Menschen ergießt, ist kontraproduktiv. Er nervt, und er löst kein Problem. In der Softwareindustrie nennt man so was »Scareware«, Programme, die keiner braucht und die eigentlich keinen Nutzen haben, die man aber trotzdem kauft, weil sie einen Schaden verhindern, den uns die Marketing­ abteilung des Herstellers vorher eingeredet hat. Nachhaltiges Denken bedeutet vielleicht ganz simpel: Überhaupt mal denken.

Sind wir das echt noch gewohnt? Fragen wir uns, was wir tun, mit welchen Mitteln? Sind wir bereit, Innovationen an die Stelle des Gewohnten zu stellen? Machen wir unseren Job so, dass wir irgendwann mal die Welt besser verlassen, als wir sie vorgefunden haben? Oder denken jetzt einige so: Manager bleiben heute eh höchstens vier Jahre. Politiker auch nicht länger. Also kommt uns bloß nicht mit: auf Vorrat denken. Vordenken und Verändern hat schlechte Karten heute. Dabei bedeutet Nachhaltigkeit nicht, die Zukunft »in den Griff« zu kriegen, zu planen oder heute schon zu wissen, wie die Erde sich in 50 oder 100 Jahren anfühlt. Wir müssen lernen, uns schnell zu verändern – dynamische Anpassung, dazulernen, neues Wissen und neue Erkenntnisse akzeptieren, auch dann, wenn sie unsere gewohnten Kreise stören. Nachhaltigkeit erscheint oft als »Weg zurück zur Natur«. Nur: Was soll das sein? Zurück zum Schicksal, einer Welt, in der jedem sein Weg vorgezeichnet ist – und den kein Mensch verändern darf? Das brauchen wir nicht. Nachhaltigkeit ist, wenn wir anfangen, mit unserer Welt was zu unternehmen, Probleme nicht zu verwalten, sondern lösen zu wollen. Nachhaltigkeit ist ein dynamischer Prozess, kein Schicksal. Nachhaltigkeit ist, wenn wir anfangen, Fortschritt, Technik, menschliche Neugier und das daraus entstehende Wissen zur Verbesserung der Welt anzuwenden. Eben nicht dazu, damit alles so bleibt, wie es ist. Maurice Strong, einer der führenden Denker des Rio-Prozesses, bei dem der Nachhaltigkeitsbegriff populär wurde, hat dafür einen guten Rat gegeben. Man möge »die Erde und ihre Ressourcen so behandeln, als ob sie ein Unternehmen wären«. Dazu braucht man keinen Arbeitskreis. Aber etwas persönlichen Mut und Aufrichtigkeit und vor allem die Einsicht, dass man selbst – als Person – was besser machen kann. Diese Kultur müssen wir lernen und verbreiten, fördern und nutzen. Dann klappt’s auch mit der Nachhaltigkeit. Ehrlich währt halt am längsten.

WOLF LOTTER

Der Journalist und Autor Wolf Lotter ist Mitbegründer und Leitartikler des Wirtschaftsmagazins Brand eins. In seinen Essays widmet er sich regelmäßig aktuell wichtigen wirtschaftlichen Prozessen und stellt diese in den gesellschaftlichen und politischen Gesamtzusammenhang.

KLIMA- UND UMWELTSCHUTZ  STREITFRAGEN 03|2014

07


Was bedeutet Nachhaltigkeit für die Erzeugung und den Verbrauch von Strom und Wärme? Marlehn Thieme, Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung, und Dr. Marie-Luise Wolff-Hertwig vom regionalen Versorgungsunternehmen HSE skizzieren eine Energiewirtschaft, die unter wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Aspekten überzeugt.



Betrachtet man das Verhalten von Unternehmen: Wo fängt Nachhaltigkeit an, wo hört Greenwashing auf?  MARLEHN THIEME    Entscheidend ist, dass ein Unternehmen

tatsächlich seine geschäftliche Strategie verändert. Nachhaltigkeit fängt an, wenn der Produktionsprozess und das Geschäftsmodell auf Nachhaltigkeit ausgerichtet werden und daraus eine langfristige Erfolgsperspektive für das Unternehmen entsteht. Frau Dr. Wolff-Hertwig, was verstehen Sie unter Nachhaltigkeit in der Energiewirtschaft?  DR. MARIE-LUISE WOLFF-HERTWIG  Die Energiewirtschaft steht als einer der größten Emittenten von CO2 in einer besonderen Verantwortung. In einem Satz würde ich sagen: Eine nachhaltige Energieversorgung muss mit immer weniger Emissionen auskommen, technisch auf der Höhe der Zeit und volkswirtschaftlich vernünftig sein.

Frau Thieme, können Sie Ihre Vorstellungen ähnlich knapp formulieren?  THIEME   Nachhaltigkeit in der Energieversorgung heißt auch

für mich, dass die Umwelt durch die Erzeugung möglichst wenig geschädigt wird. Zusätzlich würde ich die Verbraucher einbeziehen: Die Gesellschaft muss die erzeugte Energie möglichst effizient einsetzen. Frau Dr. Wolff-Hertwig, Sie haben eben die Emissionen angesprochen. Wo würden Sie ansetzen, um beispielsweise den CO2-Ausstoß zu senken?  WOLFF-HERTWIG    Die zentralen Handlungsfelder sehe ich in der Produktion. Denn das Ziel der Energiewende ist die Umstellung auf einen Erzeugungspark, der sich auf Erneuerbare Energien stützt. Wir brauchen aber nicht nur eine Erzeugungswende – vor uns liegt ein Systemumbau, eine große Transformation. Hier geht es auch um Wärmeversorgung und Energiesparen.

Frau Thieme, Sie gelten als Hüterin der Nachhaltigkeit in Deutschland. Unterschreiben Sie diese Prioritätensetzung?  THIEME  Natürlich ist der Rat für Nachhaltige Entwicklung

einmütig dafür, die Erneuerbaren Energien weiter auszubauen. Aber wir halten es nicht für vordringlich, hier Ziele vorzugeben. Die Steigerung der Energieeffizienz finden wir derzeit mindestens so wichtig. Deutschland hat noch keinen Weg gefunden, den absoluten Energieverbrauch zu senken. Das muss aber unser eigentliches Anliegen sein. Die Politik muss sehr schnell einen Markt gestalten, der Anreize setzt, weniger Energie zu verbrauchen und so Emissionen zu vermeiden.

10

STREITFRAGEN 03|2014  KLIMA- UND UMWELTSCHUTZ


DR. MARIE-LUISE WOLFF-HERTWIG

ist Vorstandsvorsitzende der HSE AG. Der Energieversorger mit Sitz in Darmstadt erhielt 2013 den Deutschen Nachhaltigkeitspreis.


MARLEHN THIEME

führt seit 2012 als Vorsitzende den von der Bundesregierung eingesetzten Rat für Nachhaltige Entwicklung.

12

Im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit reden wir sehr oft übers Sparen und über Einschränkungen. Übersehen wir die Chancen?

nähernd CO2-neutrale, aber trotzdem bezahlbare Wohnen ist ein Feld mit Zukunft. Hier ist der Ausgleich zwischen Ökologie und sozialen Belangen besonders wichtig.

WOLFF-HERTWIG    Nachhaltigkeit eröffnet ein ganzes Spektrum vom neuen Handlungsmöglichkeiten und auch Wachstumschancen für Energieversorger. Gewerbekunden verlangen in ihren Ausschreibungen zunehmend CO2-neutrale Energie. HSE bietet Unternehmen spezielle Effizienzprodukte an. Beispielsweise können wir anhand unserer Datenbank die Energieeffizienz von Produktionsprozessen bewerten. Auch das an-

THIEME   In der Kooperation von Energieversorgern und Wohnungsunternehmen steckt noch viel Potenzial. Deshalb arbeiten wir mit beiden Branchen zusammen. Unter dem Dach der Energiewende ergeben sich beim Wohnen ganz neue Möglichkeiten, zum Beispiel für die intelligente und bequeme Steuerung der Haustechnik über Apps. Ich kenne Modellprojekte, bei denen die Nutzer regelrecht begeistert sind vom Gewinn an Lebensqualität. Da denkt niemand mehr an negativ besetzte Begriffe wie Sparen und Einschränken.

STREITFRAGEN 03|2014  KLIMA- UND UMWELTSCHUTZ


Frau Dr. Wolff-Hertwig hat gerade den Ausgleich von ökologischen und sozialen Belangen erwähnt. Das dritte Kriterium für nachhaltiges Handeln ist die Wirtschaftlichkeit. In welchem Rahmen sind innerhalb dieses Zieldreiecks Tauschgeschäfte zulässig?

Stichwort Kohle: Qualmende Schlote von Kohlemeilern sind geradezu ein Sinnbild für das wenig umweltfreundliche Wirtschaften. Sehen Sie für die Kohle überhaupt einen Platz in einem nachhaltigen Energiesystem?  THIEME   Nein. Ich weiß zwar nicht, wann wir das letzte Kohle-

THIEME   Es darf keine Tauschgeschäfte geben. Bei solchen Vorschlägen wird meistens versucht, die heutige Generation gegen künftige Generationen auszuspielen. Genau dagegen wendet sich aber der Nachhaltigkeitsgedanke.

Ist das Umsteuern leichter für ein Unternehmen, das sich in kommunaler Hand befindet?  WOLFF-HERTWIG    Leichter nicht – aber es liegt näher. Denn ein kommunaler Eigentümer denkt immer langfristiger als ein Kapitalgeber, der jeden Tag den Aktienkurs im Blick hat. Eine Kommune spürt die Effekte von Investitionen, die auf Nachhaltigkeit zielen, unmittelbar. Zum Beispiel verbessert sich dadurch die Gebäudestruktur in der Stadt. Außerdem hat so gut wie jede Stadt in Deutschland ein Klimakonzept. Dessen Ziele kann die Kommune mit dem eigenen Energieversorger leichter umsetzen.

Naturschützer kritisieren einige Projekte im Rahmen der Energiewende. So stößt der Ausbau der Übertragungsnetze auf Widerstand, Windräder gelten als Gefahr für Vögel und Fledermäuse.  THIEME  Das ist ein bisschen die »Not in my backyard«-

Betrachtung. Wir sehen ja nicht, welche Umweltschäden beispielsweise der Kohleabbau in Kolumbien verursacht. Die Eingriffe in die Natur, mit denen wir es zu tun haben, liegen uns zwar näher, fallen aber oft vergleichsweise klein aus. Der Rat für Nachhaltige Entwicklung fordert, die Rahmenbedingungen des Marktes an die Energiewende anzupassen, nicht umgekehrt. Die Energiebranche ruft aber ständig nach einem stabilen Rahmen. Wie stark wollen Sie eingreifen?  THIEME  Wir sollten nicht davor zurückschrecken, Teile des

Energiemarkts politisch anders zu gestalten. Beispielsweise haben wir die Emissionsfrage, da bringt der Handel derzeit nicht die gewünschten Ergebnisse. Aber wir brauchen diese Anreize für die Reduzierung von Emissionen. Das sind Gestaltungsaufgaben für die Politik.

kraftwerk abschalten können, aber ich sage: je mehr , desto besser. Wir wissen, dass auch die Verfügbarkeit von Kohle endlich ist, jedenfalls bezogen auf den Abbau zu erträglichen Kosten. Irgendwann brauchen wir andere Energieträger, darauf sollten wir uns in der Forschung konzentrieren. Mit der Absage an die Kohle stehen wir nicht allein. Aufgrund der immensen Emissionsprobleme ist beispielsweise auch in China ein Umbauprogramm gestartet, um auf erneuerbare Energieträger umzusteigen.  WOLFF-HERTWIG    Ich kann mir eine nachhaltige Erzeugung auf Kohlebasis nicht vorstellen. Dazu ist der Brennstoff zu problematisch bei der Verbrennung und beim Abbau. Es gibt zwar Initiativen für »Better Coal«, aber zu »Good Coal« wird es nie reichen.

Ein anderes Reizthema ist Fracking. Was spricht aus der Nachhaltigkeitsperspektive für diesen Weg der Gasförderung, was spricht dagegen?  WOLFF-HERTWIG    Dafür spricht, dass wir uns eine gewisse Technologieoffenheit erhalten sollten. Gegen Fracking ist einzuwenden, dass es mit enormen Eingriffen in die Natur verbunden ist. Ich frage mich, ob wir diese Technologie angesichts der Zielsetzung der Energiewende überhaupt brauchen. Wenn wir uns eines Tages zu 80 Prozent aus Erneuerbaren Energien versorgen, wenn wir nach und nach auch im Gebäudebestand effiziente Technologien eingeführt haben, wie viel Gas benötigen wir noch? Und lohnt es sich dann, eine Technologie wie Fracking in Deutschland anzuwenden?  THIEME   Fracking stellt gegenüber Kohle eine noch mal potenzierte Umweltgefährdung dar. Das dabei geförderte Gas hilft uns dann auch nicht, eine emissionsneutrale Energieerzeugung aufzubauen. Wir sollten uns die Technik vielleicht als Reserve für den Notfall erhalten, aber grundsätzlich halte ich das nicht für zukunftsweisend.

Könnte HSE mit anderen Rahmenbedingungen leben?  WOLFF-HERTWIG    Wir befinden uns im Umbau, also werden die Rahmenbedingungen sich weiter verändern. Wir brauchen aber eine bessere Folgenabschätzung und eine bessere volkswirtschaftliche Steuerung. Momentan stehen hochmoderne Gaskraftwerke still, die mit dem Geld der Bürger gebaut worden sind, und alte Kohlekraftwerke mit hohem CO2-Ausstoß laufen. Das ist weder wirtschaftlich noch ökologisch nachhaltig. Darum müssen wir uns jetzt kümmern.

Jetzt im App Store Sehen Sie sich die Video-Statements der Protagonistinnen an – jetzt in der App-Version dieser Ausgabe.

KLIMA- UND UMWELTSCHUTZ  STREITFRAGEN 03|2014

13


JOCHEN FLASBARTH

ist Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Von 2009 bis 2013 leitete er das Umweltbundesamt.


HOHE HÜRDEN AUF DEM WEG ZUM KLIMA­ SCHUTZZIEL ›

Im Jahr 2020 soll Deutschland 40 Prozent weniger Treibhausgase ausstoßen als 1990. Das geht über die Zielvorgabe der EU hinaus – und ist vielleicht zu ambitioniert. Denn nach aktuellen Schätzungen wird die Bundesrepublik das selbst gesteckte Ziel verfehlen. Was ist zu tun? Fragen an Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth. Herr Flasbarth, die Bundesregierung geht davon aus, dass Deutschland seinen CO2-Ausstoß bis 2020 ohne zusätzliche Anstrengungen nicht wie geplant um 40 Prozent reduzieren kann. Wie viel schaffen wir denn?  JOCHEN FLASBARTH   Wir haben die Emissionen bereits sehr stark gesenkt – um etwa ein Viertel gegenüber 1990. Das genügt aber nicht, um das Ziel von 40 Prozent bis 2020 zu erreichen. Wenn wir weitermachen wie bisher, kommen wir auf etwa 33 Prozent.

Warum sinken die Emissionen langsamer als geplant?  FLASBARTH   Es liegt schlicht und einfach daran, dass in der Vergangenheit zu wenig getan worden ist. Seit Ende der Neunzigerjahre spielt Klimaschutz eine zentrale Rolle in der deutschen Politik – aber die jeweils verantwortlichen Bundesregierungen haben zu wenig auf den Weg gebracht, um die 40-Prozent-Marke zu erreichen.

KLIMA- UND UMWELTSCHUTZ  STREITFRAGEN 03|2014

15


Seit wann ist klar, dass Deutschland sein nationales Klima-Ziel ohne weitere Anstrengungen verfehlen wird?  FLASBARTH   Das Umweltbundesamt hat darauf schon vor fünf Jahren hingewiesen. Wir haben der Bundesregierung empfohlen, weitere Maßnahmen zu ergreifen. Damals waren wir rechnerisch ein Stück näher am Ziel als heute. In der letzten Legislaturperiode ist viel zu viel ohne Ergebnis gestritten worden, zum Beispiel über den Emissionshandel. Über lange Zeit hat hier Sprachlosigkeit geherrscht, Deutschland war nicht handlungsfähig. Im Klimaschutz gab es Stillstand. Das rächt sich jetzt.

Sie sprechen den Emissionshandel an. Der gilt als zentrales Instrument, um den CO2-Ausstoß in der EU zu verringern …  FLASBARTH   … kann aber diese Wirkung momentan nicht entfalten, weil zu viele Zertifikate auf dem Markt sind und der Ausstoß von CO2 dadurch zu billig ist. Grundsätzlich ist der Emissionshandel ein sehr gutes Instrument. Aber das Ziel ist falsch gesetzt und man hat zu viele Schlupflöcher eingebaut. Die fehlerhafte Ausgestaltung auf europäischer Ebene bringt das Instrument insgesamt in Misskredit – das ist schade.

Was müsste passieren, damit das System die beabsichtigte Wirkung entfaltet?

Die Bundesregierung will ein Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 vorlegen, um die 40-prozentige Emissionssenkung noch zu schaffen. Können Sie schon sagen, wo das Programm ansetzen wird?  FLASBARTH   Wir befinden uns noch in der Abstimmung mit den anderen Ministerien. Unsere Vorschläge werden selbstverständlich alle Sektoren einschließen, auch den Verkehr und die Landwirtschaft. Wir werden neben CO2 die übrigen Treibhausgase in den Blick nehmen. Bei Methan und Fluorkohlenwasserstoffen können wir wegen ihrer höheren Klimarelevanz mit vergleichsweise geringen Einsparungen beachtliche Beiträge leisten.

Welche Rolle spielt der Energiesektor in Ihren Überlegungen?  FLASBARTH  Der Großteil der Treibhausgasemissionen ist energiebezogen. Deshalb werden wir auch in diesem Sektor fündig werden, wenn es um weitere Einsparungen geht.

In Deutschland laufen Millionen von Heizungsanlagen, die nicht auf dem Stand der Technik sind. Wie wichtig nehmen Sie die Emissionen aus dem Wohnungssektor?

FLASBARTH   Das in der EU beschlossene sogenannte Backloading wird dem Markt vorübergehend 900 Millionen CO2-Zertifikate entziehen. Die Bundesregierung hat in Brüssel vorgeschlagen, diese Menge dauerhaft in eine Marktstabilitätsreserve zu überführen. Damit würden die Zertifikate faktisch stillgelegt. Das wäre ein relevanter Schritt. Wir arbeiten intensiv daran, dafür genügend Verbündete in der EU zu finden. Realistisch betrachtet glaube ich nicht, dass wir darüber hinaus bis 2020 weitere Korrekturen vornehmen können.

FLASBARTH   Wir werden auch die Wärme in den Blick nehmen. Schließlich sind die Kosten für Warmwasser und Heizung für die Verbraucher relevanter als alles, was bisher unter dem Schlagwort Strompreisbremse diskutiert wurde. Die bestehenden Gebäudesanierungsprogramme tragen dazu bei, Heizkosten zu begrenzen. Durch die Erneuerung der Heizungsanlage kann aber auch derjenige, der keinen großen Betrag in die Hand nehmen will, in die Modernisierung einsteigen.

Würde ein novellierter europäischer Emissionshandel ausreichen, damit Deutschland sein nationales Klimaschutzziel noch erreichen kann?

Stichwort Gebäudesanierung: Bund und Länder konnten sich bisher nicht über die steuerliche Förderung einigen. Welche Perspektive sehen Sie?

FLASBARTH   Der Emissionshandel ist jedenfalls ein wichtiger Baustein unserer Strategie, mit der wir die 40 Prozent doch noch schaffen wollen. Außerdem brauchen wir ihn, um die europäischen Klimaschutzziele für die mittlere und die längere Frist zu erreichen. Wenn wir den Emissionshandel nicht wieder flott­ machen können, wird das ungleich schwieriger.

FLASBARTH   Wir wollen zunächst schauen, was wir mit dem verfügbaren Geld und dem vorhandenen Förderinstrumentarium erreichen können. Vor dem Hintergrund der Bemühungen um Haushaltskonsolidierung halte ich das für den richtigen Ansatz. Es kann zwar sein, dass wir am Ende zusätzliche Maßnahmen brauchen, aber beim Finanzminister wollen wir erst ganz zum Schluss anklopfen.

Industrievertreter lehnen die Reformpläne ab und fordern verlässliche Rahmenbedingungen. Was entgegnen Sie?  FLASBARTH   Die Industrielobby hat bei der Einführung des Emissionshandels bis zuletzt Aufweichungen durchgesetzt. Jetzt werden die Folgen sichtbar – das System wirkt nicht. Und

16

nun sagt die Industrie: Der Staat darf seine Fehler von damals nicht korrigieren, er muss doch verlässlich bleiben. Ich finde diese Argumentation etwas bizarr.

STREITFRAGEN 03|2014  KLIMA- UND UMWELTSCHUTZ


Derweil geht die Sanierung des Gebäudebestands zu langsam weiter. Was ist hier bis 2020 überhaupt noch möglich?  FLASBARTH   Wir wissen, dass wir die Sanierungsquote mindestens verdoppeln müssen, um bis 2050 das Ziel eines weitgehend klimaneutralen Gebäudebestands zu erreichen. Die Frage ist aber, welcher Beitrag bis 2020 erbracht werden muss. Wir werden in den nächsten Dekaden in anderen Sektoren Schwierigkeiten bekommen, noch die nötigen Emissionssenkungen zu erzielen. Im Gebäudebereich wird das noch lange funktionieren – deshalb sehe ich das als Aufgabe für den gesamten Zeitraum bis 2050 und nicht nur für die nächsten Jahre.

Welchen Beitrag werden Sie vom Verkehrssektor verlangen? Erdgasfahrzeuge senken heute schon den CO2-Ausstoß, trotzdem läuft die steuerliche Begünstigung voraussichtlich in vier Jahren aus.  FLASBARTH   Ohne dem Verkehrsminister vorzugreifen – auch in diesem Sektor steckt noch Potenzial. Wir werden bei der Flottenerneuerung weiterkommen müssen, auch Elektromobilität spielt eine Rolle. Auch die Verkehrswegeplanung hat einen großen Einfluss auf die Emissionen. Ich glaube, dass vor allem synthetisches Gas auf der Basis von Erneuerbaren Energien mittel- und langfristig im Verkehrssektor eine wichtige Rolle spielen können. Das hat also eher strategische Bedeutung – außerdem bietet Gas die Möglichkeit, Strom, Wärme und Mobilität zu integrieren.

Die deutschen Klimaschutzziele gehen über die Vorgaben der EU hinaus. Kann dieses Engagement den Verhandlungen über ein internationales Klimaschutzabkommen neue Dynamik verleihen?  FLASBARTH  Einerseits dürfen wir uns nicht überschätzen. Andererseits hat Deutschland in der Welt ökonomisch und technisch einen Ruf wie Donnerhall. Wenn wir beweisen, dass ein prosperierendes Industrieland erfolgreich engagierten Klimaschutz betreiben kann, werden sich andere sicherlich daran orientieren. Aber vor allem ist Klimaschutz ein Modernisierungsmotor für unsere Volkswirtschaft. Die Fähigkeit, sich klimaneutral wirtschaftlich weiterzuentwickeln, wird in Zukunft zum wesentlichen Wettbewerbsfaktor zwischen Volkswirtschaften.

Trotzdem warnen Industrievertreter vor einer Abwanderung von Unternehmen in Regionen mit niedrigeren Energiekosten.  FLASBARTH   Die Debatte kenne ich seit mehr als 30 Jahren. Natürlich geben wir beim Einsatz unserer umwelt- und energiepolitischen Instrumente auf die abwanderungsgefährdeten Unternehmen Acht. Und kein vernünftiger Umweltschützer ist zufrieden, wenn eine Produktion hier dicht gemacht und anderswo wieder aufgebaut wird. Wir müssen unterscheiden, welche Klagen der Industrie berechtigt sind – und wo die Larmoyanz anfängt. Je mehr Larmoyanz im Spiel ist, desto schwieriger wird es, diese Grenze zuverlässig zu erkennen.

KLIMANEUTRALE   WIRTSCHAFTLICHE   ENTWICKLUNG WIRD   EIN   WESENTLICHER WETTBEWERBSFAKTOR. KLIMA- UND UMWELTSCHUTZ  STREITFRAGEN 03|2014

17


20 000 KILOMETER ÜBER DAS MEER ›

Eine Werft in Dubai baute für den Übertragungsnetzbetreiber TenneT eine der weltweit größten Konverterplattformen für Offshore-Windstrom. Lex Hartman erklärt die Hintergründe.

TenneT hat eine der weltweit größten OffshoreKonverterplattformen bauen lassen. Solche Projekte sind auf sehr lange Zeiträume angelegt. In welchen Zyklen denken Sie bei einer solchen Investition? Sind die Rahmenbedingungen für die Offshore-Windkraft verlässlich genug, um das durchzuhalten?  LEX HARTMAN    Wir denken in Generationen. Das Übertragungsnetz, egal ob an Land oder auf See, ist ausgelegt, damit es jahrzehntelang sicher und zuverlässig Strom überträgt. Was die Errichtung von Anbindungskapazität betrifft, passen die Rahmenbedingungen, seit sie der Gesetzgeber Ende 2012 angepasst hat. Nun gibt es nicht nur eine langfristige Planung für die Entwicklung der Offshore-Windenergie, sondern auch eine gesetzlich geregelte Haftung. Wir sind auf dem besten Weg, die Ziele der 18

STREITFRAGEN 03|2014  INFRASTRUKTUR

Bundesregierung schon ein Jahr früher zu erfüllen; bis 2019 werden wir über 7 100 Megawatt Anbindungskapazität in der Nordsee haben. Ich hoffe aber, dass dann tatsächlich auch entsprechend viel Off­ shore-Wind installiert ist. Bislang kann man realistisch jedenfalls nur von rund 3  000 Megawatt Wind-Kapazität ausgehen. Was ist das Besondere und das Innovative dieser neuen Offshore-Konverterplattform? Wieso wurde sie eigentlich in Dubai gebaut – zig Tausend Seemeilen von ihrem Einsatzort in der Nordsee entfernt?  HARTMAN    Für mich ist so eine Offshore-Plattform

und die gesamte Netzanbindung einfach ein imposantes technisches Meisterwerk. Die Plattform DolWin beta ist das Herzstück der Netzanbindung, die 2015 etwa 900 Megawatt Windstrom aus der Nordsee vor Niedersachsen an Land bringen wird. Für sie wurden insgesamt 23 000 Tonnen Stahl verbaut und sie hat mit 90 Meter Höhe, 101 Meter Breite und 74 Meter Länge fast die Ausmaße eines Fußballfeldes. In ihrem Inneren befindet sich innovative Elektrotechnik, die den von den Windparks erzeugten Drehstrom in Gleichstrom umwandelt. Durch die Übertragung mithilfe von Gleichstrom reduzieren wir Leitungsverluste über die 135 Kilometer lange Verbindung zur Konverterstation an Land, wo der Gleichstrom wieder


Nach rund zwei Jahren Bauzeit hat die Konverterplattform am 10. Juni dieses Jahres von Dubai aus ihre Reise nach Europa angetreten. Für die rund 20 000 Kilometer über das Meer benötigte die Plattform, die fast die Ausmaße eines Fußballfeldes einnimmt, rund zwei Monate. Bevor der Konverter in der Nordsee vor der nieder­ sächsischen Küste installiert wird, wird er im norwegischen Haugesund endgültig fertiggestellt. Die Netzanbindung wird die Windparks Nordsee One, Gode Wind 1 und Gode Wind 2 an das Stromnetz an Land anschließen.

in Drehstrom umgewandelt wird und dann über das Stromnetz an Land Haushalte und Wirtschaftsunternehmen versorgen kann. Die Auswahl der Werft, in der eine Konverterplattform gebaut wird, trifft das mit der Errichtung der Anbindung beauftragte Unternehmen. Da kann die Entscheidung für eine Werft auch davon abhängen, ob die wenigen deutschen Werften, die überhaupt so eine große Plattform bauen können, bereits ausgelastet sind. Die Netzanbindung von Offshore-Windparks war in der Vergangenheit vielfach mit Problemen behaftet. Sind jetzt alle Schwierigkeiten beseitigt? Oder muss der Bau von Windparks und Netzanschlüssen weiterhin besser koordiniert werden? Wie kann das gelingen?

Denn damit ist die Hauptursache für die Verzögerungen, wie wir sie in einigen älteren Anbindungsprojekten sehen, beseitigt. Die alten Rahmenbedingungen haben dafür gesorgt, dass die Entwicklung von Offshore-Windenergie und Steckdosen auf See eben nicht parallel verlaufen ist. Deshalb gab es manchmal Anbindungen, aber eben öfter auch Windparks mit Verzögerungen. Was unsere Anbindungsprojekte betrifft, haben wir große Fortschritte gemacht. Wir haben allein seit Sommer 2013 fünf Steckdosen in der Nordsee installiert und werden 2015 über 4 000 Megawatt Windstrom von der See ans Land bringen können.

Jetzt im App Store Eine animierte Grafik zur Seeroute der Plattform finden Sie in der aktuellen App-Version dieser Ausgabe.

LEX HARTMAN   HARTMAN    Die Entwicklung von Wind- und Aus-

baukapazitäten kann zukünftig viel besser aufeinander abgestimmt werden. Dafür haben die neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen gesorgt, die unter anderem zum allerersten Mal eine Offshore-Planung vorsehen. Das war eine entscheidende Veränderung.

ist Geschäftsführer bei TenneT. Das Unternehmen betreibt das Hoch- und Höchstspannungsnetz in den Niederlanden und in großen Teilen Deutschlands.

INFRASTRUKTUR  STREITFRAGEN 03|2014

19


Kunst statt Tristesse: Die Trafostation am Kurfürstendamm in Berlin hat Architekt Julius Baasner in Zusammenarbeit mit IONDESIGN kunstvoll verkleidet mit Stahlrohrrahmen und Paneelen aus poliertem Edelstahl – auch, um die Hemmschwelle für Vandalismus heraufzusetzen. Den hatten die Protagonisten selbstverständlich nicht im Sinn: der Schriftzug wurde im Nachhinein am Computer ins Bild eingefügt.

HANS-GÜNTHER  MEIER

ist Vorstandsmitglied der Stadtwerke Düsseldorf.

2

STREITFRAGEN 03|2014  INFRASTRUKTUR


Güstrow in Mecklenburg-­ Vorpommern hat circa 30 000 Ein­wohner – Tendenz sinkend. In der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt Düsseldorf leben fast 20-mal so viele Men­ schen – Tendenz steigend. Beide Kommunen brauchen zukunftssichere Verteilnetze. Was heißt das im Ballungsraum? Vor welchen Herausforderungen stehen ländliche Gebiete? Fragen an die Stadtwerke-­ Manager. Herr Meier, viele Finanzexperten betrachten eine Beteiligung an der Energieinfrastruktur mittlerweile als riskantes Geschäft. Düsseldorf investiert trotzdem in Netze. Wie passt das zusammen?  HANS-GÜNTHER MEIER   Gerade das Netzgeschäft ist eine wesentliche Säule unseres Unternehmenserfolgs und unserer Finanzkraft. Deshalb investieren wir in unsere Netze für Strom, Gas, Fernwärme und Wasser. Wir werden hier in den nächsten fünf Jahren mehr als 200 Millionen Euro ausgeben. Der größte Teil davon entfällt auf Fernwärme und Strom. Außerdem bauen wir ein hocheffizientes Gaskraftwerk. Da findet eine erhebliche Modernisierung des Energiesystems statt.

Herr Föniger, die Stadtwerke Güstrow investieren pro Jahr bis zu drei Millionen Euro in die Netze. Wie kommt dieser Betrag zustande?  EDGAR FÖNIGER   In unserer Region gibt es einen massiven

EDGAR FÖNIGER

leitet als Geschäftsführer die Stadtwerke Güstrow.

Ausbau von EEG-Einspeisungsanlagen, besonders von Freiflächen-Photovoltaikanlagen in unserem Verteilnetz. Durch den erforderlichen Netzausbau entstehen hohe Kosten. Bis zum Jahresende werden wir in unserem Netz voraussichtlich Photovoltaik-Anlagen mit einer installierten Leistung von mehr als 20 Megawatt haben. Das ist mehr, als Güstrow in der Spitze verbraucht. An sonnenreichen Tagen speisen wir Strom ins vorgelagerte 110-Kilovolt-Netz zurück.

INFRASTRUKTUR  STREITFRAGEN 03|2014

3


der Basis von Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen, die zum Teil mit Biomethan betrieben werden. Über die Hälfte der Einwohner Güstrows bezieht Wärme aus KWK-Anlagen der Stadtwerke Güstrow GmbH. Und natürlich hat die Kommune verständlicherweise auch eine Renditeerwartung. Da müssen wir schon mal um Verständnis werben, damit genügend übrig bleibt für unsere Investitionen. Die dezentrale Erzeugung macht die Energieversorgung zunehmend zum kommunalen Thema. In Güstrow entstehen Freiflächen-Solarkraftwerke – was passiert in Düsseldorf?

Welche Risiken schafft das?  FÖNIGER    Es wird immer aufwendiger, Versorgungssicherheit und Systemstabilität im Verteilnetz zu gewährleisten. Zugleich schrumpft die Bevölkerung unserer Region im Zuge des demografischen Wandels. Beides fordert uns massiv. Wir müssen sehr darauf achten, an den richtigen Stellen zu investieren.

Auch in Düsseldorf ändern sich die Strukturen: Der Dienstleistungssektor wächst, produzierende Betriebe werden weniger, auf Gewerbeflächen entstehen Wohngebiete. Was heißt das für die Netze?  MEIER    In Düsseldorf befinden sich 13 Prozent der ehemals industriell genutzten Flächen in der Umwandlung in Gewerbeund Wohngebiete. Dieser Strukturwandel spielt eine massive Rolle für die Netze: Lastschwerpunkte verändern sich, wir müssen sie entsprechend umbauen und erneuern – das bedeutet neue Umspanneinrichtungen und kleinteilige Hausanschlüsse sowie den Ausbau der Fernwärme. All das spiegelt sich in unseren Investitionen wider.

MEIER    Das neue Gaskraftwerk ist ein wesentlicher Baustein unseres dezentralen Systems, denn es dient unter anderem zur regionalen Netzstützung. Die Netze folgen der Erzeugung, vor allem der Ausbau der Fernwärme rankt sich um die neue Anlage herum. Unsere CO2-neutrale Fernwärme hilft der Stadt, ihr Klimaziel zu erreichen. Darüber hinaus sehen wir außerhalb der Fernwärmegebiete einen wachsenden Bedarf, im Zuge von Quartiersentwicklungen Nahwärmenetze, Erneuerbare-EnergienAnlagen sowie Blockheizkraftwerke zu berücksichtigen.

Manche Stadtwerke haben ihr Netz verkauft. Sehen Sie in Ihren jeweiligen Kommunen Begehrlichkeiten, die Energieinfrastruktur abzustoßen und mit dem Erlös den kommunalen Haushalt zu stützen?  FÖNIGER    Das kann ich klar verneinen. In Güstrow ist man froh, dass die Netze in kommunaler Hand sind, das gehört zur Daseinsvorsorge. Es fragt sich ja auch, wo ein Käufer herkommen soll. Als die Kommune zuletzt die Konzessionen für das Gas- und Stromnetz öffentlich ausgeschrieben hat, waren die Stadtwerke der einzige Bewerber.  MEIER    Wir haben in diesem Jahr mit der Landeshauptstadt Düsseldorf unsere Wasserkonzession erneuert auf 20 Jahre. Bei Strom und Gas steht die Vergabe an. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, auch für diese Sparten den Zuschlag zu erhalten.

So ein Umbau macht die von der Kommune betriebene Stadt­ entwicklung erst möglich. Herr Föniger, welchen Beitrag zur Umsetzung lokalpolitischer Pläne erwartet man von Ihnen?

Die Finanzierung des Stromnetzes erfolgt über Netzentgelte. Die liegen im Osten Deutschlands wesentlich höher als im Westen. Wieso?

FÖNIGER   Die Kommune und wir haben gemeinsame Ziele. Das betrifft zum Beispiel den Klimaschutz. Da realisieren wir Quartiersprojekte zusammen mit Wohnungsgesellschaften. Wir sorgen für eine effiziente dezentrale Energieversorgung auf

FÖNIGER    Niemand hat erwartet, dass so schnell so viele Erneuerbare-Energien-Anlagen ans Netz kommen. Da mussten die Netzbetreiber handeln, um die Stabilität zu sichern. Das kostet

» ES WIRD IMMER AUFWENDIGER, VERSORGUNGSSICHERHEIT UND SYSTEMSTABILITÄT ZU GEWÄHRLEISTEN.« 4

STREITFRAGEN 03|2014  INFRASTRUKTUR


» ICH BIN GEGEN EIN SYSTEM, DAS DIE NETZENTGELTE BUNDESWEIT GLEICH MACHT.« Geld und schlägt sich in den Netzentgelten nieder. Im Nordosten Deutschlands sind diese Entgelte am höchsten, das ist eine Ungerechtigkeit den Verbrauchern gegenüber. Was wäre zu tun?  FÖNIGER   Es sollte zu einer Wälzung kommen, also einer solidarischen Verteilung der Kosten. Bei uns betragen die Netz­ entgelte fast 7 Cent pro Kilowattstunde bei SLP-Kunden, in Düsseldorf sind es 4 Cent. Das ist kaum noch zumutbar.

Herr Meier, sollten wir die finanzielle Belastung durch den Ausbau der Verteilnetze auf mehr Schultern verteilen?  MEIER    Von mir kommt ein klares Nein. Das System der Netz­ entgelte soll Anreize und Freiräume für unternehmerisches Handeln schaffen. Ich bin gegen ein System, das alles gleich macht. Netzentgelte sind ein klassisches Fixkostenthema: Wo es wenig Menschen gibt, wird es für den Einzelnen teurer. Außerdem überzeugt mich der isolierte Vergleich der Netzentgelte nicht. Wenn Sie in Güstrow pro Kilowattstunde zwei Cent mehr bezahlen, macht das für den Durchschnittshaushalt 80 Euro im Jahr. Dafür sind sicherlich die Wohnungsmieten deutlich niedriger als in Düsseldorf. Die jährlichen Mehrkosten für Strom holen Sie durch die niedrigere Miete rasch auf.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, durch Kostensenkungen die Netzentgelte zu verringern?  FÖNIGER   Als Mehrsparten-Unternehmen nutzen wir jetzt schon jede Gelegenheit, um durch die Koordination der Baumaßnahmen Kosten zu reduzieren. Wenn eine Straße saniert wird, erneuern wir bei Bedarf gleichzeitig die Netze.

FÖNIGER    Unsere Erfahrung sagt: Der Kunde benötigt lediglich ein Gerät, das neben der Verbrauchsmessung zusätzlich den momentanen Verbrauch anzeigt. Innerhalb von 14 Tagen hat er dann die Stromfresser abgeschaltet oder ersetzt. Danach wird der Smart Meter kaum wieder angeguckt.

Welche Möglichkeiten für einen kostengünstigen Netzbetrieb bieten Kooperationen?  MEIER    Wir sehen da großes Potenzial. Denn: Die Netzbetreiber stehen nicht im Wettbewerb, ihre Gebiete grenzen aneinander, sie erfüllen dieselben Aufgaben und folgen derselben Organisationslogik. Wir haben mit den Versorgungsunternehmen aus Köln und Duisburg das Projekt »Rheinschiene« aufgesetzt. Dort suchen wir nach Möglichkeiten, Prozesse und Materialien zu standardisieren. Einheitliche Abläufe bieten die Chance, qualifizierte Mitarbeiter flexibel einzusetzen. Standardisierte Materialien könnten wir gemeinsam einkaufen und durch Bündelung des Volumens Preisvorteile erzielen.  FÖNIGER    Wir kooperieren bereits beim Energie-Einkauf mit acht anderen kommunalen Stadtwerken. Weitere Möglichkeiten sehe ich bei gemeinsamen Projekten für kommunale Windparks. Denn Mecklenburg-Vorpommern ist eine Windkraftregion, zwei Prozent der Landesfläche sollen als geeignete Standorte für Windräder ausgewiesen werden. Neue Anlagen stoßen aber in den Tourismusregionen zunehmend auf Akzeptanzprobleme. Die Landesregierung traut der kommunalen Ebene eher zu, weitere Windparks zu realisieren. Auch dabei könnten Stadtwerke zusammenarbeiten. Netzkooperationen mit angrenzenden Netzbetreibern sind für uns ebenfalls vorstellbar und in unserem Flächenland durchaus sinnvoll und kostensparend.

MEIER    Dasselbe gilt für Düsseldorf. Durch gute Abstimmung müssen wir den Graben nur einmal aufmachen, das spart viel Geld. Außerdem schaffen unsere Investitionen in sichere Technik die Voraussetzung für einen kostengünstigen Netzbetrieb. Dazu findet eine gute Koordination mit der Stadt Düsseldorf zur Senkung der finanziellen und verkehrstechnischen Belastung statt.

Brauchen Sie für eine kostengünstige, nachhaltig tragfähige Netzplanung den intelligenten Zähler? Oder bleibt der ein technisches Spielzeug?

INFRASTRUKTUR  STREITFRAGEN 03|2014

5


LÄRMSCHUTZWAND AUS LUFT Um Offshore-Windräder sicher zu verankern, werden Fundamente in den Meeresboden gerammt. Das erzeugt Lärm, der das Gehör von Schweinswalen schädigen kann. Die Blasenschleier-­ Technik schützt die Meeressäuger: Der Vorhang aus Luftblasen schluckt mehr als 90 Prozent des Ramm-Krachs.

DIE RAMMPLATTFORM

verankert die Fundamente der Windräder im Meeresboden.

DAS VERLEGESCHIFF

platziert den Schlauch rund um die Baustelle auf dem Meeresboden. Der Kompressor an Bord liefert die nötige Pressluft.

DER BLASENSCHLEIER

bremst die Ausbreitung des Unterwasserlärms. Bei Bedarf können auch mehrere »Vorhänge« um eine Baustelle gezogen werden. SCHWEINSWALE

stehen auf der Roten Liste der gefährdeten Arten. Starker Lärm kann ihr Leben bedrohen: Er schädigt ihr Gehör so schwer, dass sie es nicht mehr zur Orientierung und zur Nahrungssuche einsetzen können.

DER DÜSENSCHLAUCH

lässt den Blasenschleier aufsteigen.

DIE SCHALLWELLEN

werden vom Blasenschleier absorbiert und gestreut.


HERR DR. NEHLS, MÜSSEN WIR UNS BEI DER OFFSHOREWINDKRAFT ZWISCHEN KLIMASCHUTZ UND NATUR­ SCHUTZ ENTSCHEIDEN?

UNTERWASSER-SCHALL-SCHUTZ DURCH DIE BLASENSCHLEIER­ TECHNOLOGIE BIETET EINE LÖSUNG DES PROBLEMS. WIE ARBEITET DAS SYSTEM?

IST DAS LÄRMPROBLEM UNTER WASSER DAMIT GELÖST?

Es gibt sicherlich keine Form der Energieerzeugung in Deutschland, für die ein derart enges Regelwerk aufgestellt wurde wie für die Offshore-Windenergie. Erhebliche Eingriffe in die Meeresumwelt werden dadurch ausgeschlossen. Meeresschutzgebiete sichern in einem Drittel der deutschen Meeresgewässer die ökologisch wertvollsten Bereiche. Außerhalb dieser Gebiete erfolgt die Genehmigung von Offshore-Windparks auf der Grundlage sehr umfangreicher Voruntersuchungen und strenger Prüfungskriterien. Gleichzeitig ist dem Naturschutz jedoch nicht vorzuhalten, dass er den Ausbau der Offshore-Windenergienutzung verhindert hat. Dieser wird sicherlich eher durch die Ausbauziele der Bundesregierung und durch fehlende Kapazitäten der Netzanbindung gebremst. Die Frage, welchem Anliegen der Vorrang zu gewähren ist, stellt sich im Großen daher nicht. Im Einzelfall, also bei der Planung einzelner Vorhaben, hätte der Naturschutz Vorrang: Wenn ein beantragtes Vorhaben zu erheblichen Auswirkungen auf die Meeresumwelt führt, ist es nicht zulässig. Sehr strenge Maßstäbe werden in Deutschland beim Unterwasserschall angelegt, da man bei schallintensiven Rammarbeiten eine Gefährdung von Schweinswalen befürchtet. Die Windindustrie wurde daher verpflichtet, bei den Rammarbeiten sehr aufwendige Schallminderungsmaßnahmen anzuwenden.

Ein Blasenschleier funktioniert so, dass durch ein auf dem Meeresboden verlegtes Düsenrohr Druckluft gepumpt wird, die aus vorgefertigten Poren austritt und in der Wassersäule aufsteigt. Bei kreisförmiger Verlegung des Düsenrohrs entsteht ein Blasenschleier, der die Rammbaustelle umschließt. Aufgrund der sehr hohen Dichteunterschiede zwischen Luft und Wasser wird die Schallausbreitung gestört: Die Blasen absorbieren und streuen den Schall. Besonders stark werden die hohen Frequenzen gedämpft, die für Schweinswale gut hörbar sind. Blasenschleier wurden in den letzten Jahren bei mehreren Bauvorhaben getestet und schließlich erfolgreich bei den Rammungen eingesetzt. Dabei konnten Schallminderungen von zwölf Dezibel und mehr erzielt werden. Dies entspricht einer Verringerung der Schallenergie um mehr als 90 Prozent. Untersuchungen an Schweinswalen zeigen sehr deutlich, dass die Störung dieser Tiere dadurch wesentlich verringert werden kann.

Der Einsatz von Blasenschleiern und weiteren Schallschutzmaßnahmen hat sich als sehr erfolgreich erwiesen. Schwierigkeiten bereitet der Schallschutz aber bei Vorhaben in größeren Wassertiefen. Ob und mit welchem Aufwand es hier gelingen kann, die hohen Anforderungen zu erfüllen, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen. Da Deutschland bisher weltweit das einzige Land ist, in dem Offshore-Rammarbeiten durch Schallschutzmaßnahmen begleitet werden, lässt sich nicht auf Erfahrungen von anderer Seite zurückgreifen. Die Weiterentwicklung und Verbesserung des Schallschutzes ist ein noch laufender Prozess. Ob weitere Maßnahmen notwendig sind oder ob man den beträchtlichen Aufwand reduzieren kann, sollte anhand der Erfahrungen aus den ersten Projekten beantwortet werden. Wie stark der verbleibende Lärm die Schweinswale stört, wird man in den nächsten Monaten anhand dieser Daten diskutieren können.

DR. GEORG NEHLS

führt die BioConsult SH. Das Husumer Unternehmen hat sich auf Umweltverträglichkeitsstudien und ökologische Forschung spezialisiert.

INFRASTRUKTUR STREITFRAGEN 03|2014

25


pro

KOHLEKRAFTWERKE SORGEN FÜR SICHERHEIT UND BEZAHLBARKEIT.

Dem Klima kann es egal sein, ob deutsche Kohlekraftwerke laufen, meint Dr. Rolf Martin Schmitz, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der RWE AG. Denn: Die vom EUEmissionshandel gesetzte Obergrenze für den CO2-Ausstoß wird eingehalten. Was verstehen Sie unter einer nachhaltigen Energieversorgung?  DR. ROLF MARTIN SCHMITZ   Sicher, klimafreundlich und bezahlbar – so muss eine nachhaltige Energieversorgung sein. Klar, diese Kriterien geraten bisweilen in Konkurrenz zueinander. Dann müssen wir vernünftig abwägen und keines der Ziele aus den Augen verlieren – wir müssen die Balance halten.

Der Anteil von Braun- und Steinkohle an der deutschen Stromerzeugung kletterte 2013 auf rund 45 Prozent. Wie passt das zu einer nachhaltigen Stromversorgung?  SCHMITZ   Das ist nur vordergründig ein Widerspruch. Im Sinne einer nachhaltigen Stromerzeugung leisten Kohlekraftwerke durchaus ihren Beitrag, denn sie sorgen vor allem für Sicherheit und Bezahlbarkeit. Nach dem beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie wurde die Grundlast vermehrt durch Kohlekraftwerke bereitgestellt – das war ab-

26

STREITFRAGEN 03|2014  INFRASTRUKTUR

sehbar. Dieser Effekt ist aber temporär und gegenwärtig durch den weiteren Ausbau der Erneuerbaren rückläufig. Davon unabhängig: Für das Klima ist es irrelevant, ob in Deutschland mehr Kohlekraftwerke laufen, denn durch die Deckelung der Zertifikate im EU-Emissionshandel steigt dadurch der CO2-Ausstoß insgesamt nicht. Kohleverstromung setzt CO2 frei. Der europäische Emissionshandel soll Anreize zur CO2-Vermeidung setzen. Allerdings kann das Instrument im Moment durch einen Überschuss an Zertifikaten im Markt und einen entsprechenden Verfall des CO2-Preises diese Wirkung nicht entfalten. Wie sollte eine Reform des Emissionshandels Ihrer Meinung nach konkret aussehen?  SCHMITZ   Der EU-Emissionshandel funktioniert und er sollte das zentrale Klimaschutzinstrument in der EU bleiben! Das System soll dafür sorgen, dass CO2-Reduktionsziele für den Kraftwerks- und Industriesektor zielgenau erreicht werden – und genau das


contra

BEIM AUSSTIEG AUS DER KOHLE GEHT ES NUR NOCH UM DAS WIE.

In einigen Jahrzehnten soll die deutsche Wirtschaft nahezu CO2-frei arbeiten. Aus der Sicht von Oliver Krischer, dem stellvertretenden Fraktionschef der Grünen im Bundestag, ist dann kein Platz für mehr Kohlekraftwerke.

Was ist die Lösung für eine nachhaltige Energieversorgung?  OLIVER KRISCHER    Es muss Schluss sein damit, dass wir weiter

Energie auf Kosten folgender Generationen, anderer Regionen in der Welt und auf Kosten von Natur und Umwelt produzieren. Erneuerbare Energien, Effizienz und Einsparung sind deshalb die Lösung für eine nachhaltige Energieversorgung in allen Sektoren. Wie passt der hohe Anteil der konventionellen Stromerzeugung zu einer nachhaltigen Stromversorgung?  KRISCHER    Gar nicht. Wenn wir die Klimaschutzziele Deutsch-

lands ernst nehmen und spätestens Mitte des Jahrhunderts eine nahezu CO2-freie Wirtschaft haben wollen, dann ist der Kohleausstieg nicht eine Frage des Ob, sondern nur noch des Wie. Es geht darum, den ohnehin anstehenden Strukturwandel im fossilen Kraftwerk so zu steuern, dass die ineffizienten und unflexiblen Methusalem-Kohlekraftwerke aus den 50er und 60er Jahren des vorherigen Jahrhunderts zuerst aus dem Markt gehen. Das bietet den vorhandenen modernen und flexiblen Anlagen eine wirtschaftliche Perspektive bis zur Vollversorgung mit Erneuerbaren Energien. Es kann doch nicht sein, dass hocheffizien-

te Gaskraftwerke eingemottet werden, Uralt-Kohlekraftwerke aber rund um die Uhr laufen. Abgesehen davon ist es alles andere als zukunftsfähig und nachhaltig, ganze Landschaften inklusive der dort lebenden Menschen abzubaggern für eine Kohle, die zu 60 Prozent aus Wasser besteht und bei deren Verbrennung nicht nur Unmengen CO2, sondern auch noch Quecksilber, Feinstaub und andere Schadstoffe in die Umwelt geblasen werden. Brauchen wir eine Reform des Emissionshandels?  KRISCHER    Eine Reform des Emissionshandels ist dringend nötig, um den Ausstoß von CO2 zu mindern. Dazu reicht es nicht aus – wie von Union und SPD im Koalitionsvertrag vereinbart –, 900 Millionen. Emissionszertifikate vorübergehend vom Markt zu nehmen, sondern es müssen dauerhaft 2 Milliarden Zertifikate herausgenommen werden. Die Marktstabilitätsreserve muss spätestens zum Jahr 2016 eingeführt werden, um parallel zu einer Stabilisierung des Zertifikatepreises zu sorgen.

INFRASTRUKTUR  STREITFRAGEN 03|2014

27


» NATIONALE CO2-ZIELE OHNE EUROPÄISCHE HARMONISIERUNG SIND WENIG HILFREICH.« tut der Emissionshandel auch. Dass die Preise derzeit relativ gering sind, hat einerseits mit der geringen Nachfrage in der teilweise kriselnden europäischen Wirtschaft zu tun, aber auch mit dem parallelen Ausbau der Erneuerbaren Energien. Das Instrument an sich funktioniert und reduziert die CO2-Emissionen auf die kostengünstigste Weise. Bis 2020 will die Bundesregierung den CO2-Ausstoß gegenüber 1990 um 40 Prozent vermindern. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks hat das gerade noch einmal bekräftigt. Kann Deutschland dieses Ziel erreichen ohne einen Kohleausstieg?  SCHMITZ   Die Schließung deutscher Kohlekraftwerke bedeutet lediglich, dass meist weniger effiziente Kraftwerke in den Nachbarländern die Stromproduktion übernehmen; es würde deswegen noch lange kein Gaskraftwerk in Deutschland laufen. So verlagert sich der CO2-Ausstoß ins Ausland – was an der Gesamtbilanz nichts ändert. Aber die Wertschöpfung ist dann ebenfalls ins Ausland verlagert. Das wäre industriepolitischer Nonsens, schädlich für die Versorgungssicherheit und ohne Nutzen für das Klima – also alles andere als nachhaltig. Um die nationalen CO2-Ziele zu erreichen, sollten Maßnahmen außerhalb des Emissionshandelssektors ergriffen werden, etwa bei Gebäuden oder im Verkehr. Aber um es von meiner Seite klar zu sagen: Ich halte nationale CO2-Ziele ohne europäische Harmonisierung für wenig hilfreich.

Eine nachhaltige Energieversorgung muss langfristig belastbar und funktionsfähig bleiben. Dafür brauchen wir auch konventionelle Kraftwerke als Reserve. Was bedeutet das für Ihre Bewertung der konventionellen Erzeugung und insbesondere der Kohlekraftwerke?

SCHMITZ    Konventionelle Kraftwerke werden in der Tat noch lange gebraucht. Wie lange das genau sein wird, ist heute noch nicht absehbar. Es hängt davon ab, wann zuverlässige und wirtschaftliche Alternativen zur Verfügung stehen, um jederzeit gesicherte Leistung zur Verfügung zu stellen. Aber lassen wir das doch den Markt entscheiden. Der BDEW hat den Vorschlag eines dezentralen Marktes für gesicherte Leistung gemacht, der gewährleistet, dass jederzeit genügend Leistung zur Verfügung steht. Hier kann jede Erzeugungs-, Speicher- und Laststeuerungstechnologie in Wettbewerb treten – die kostengünstigsten werden sich auch vor dem Hintergrund der europäischen CO2-Ziele durchsetzen.

Die Deutschen treiben den Ausbau der Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien mit Milliardenbeträgen voran, während die Stabilität der Netze und die Versorgungssicherheit zunehmend in Frage gestellt werden. Was ist daran nachhaltig?  SCHMITZ    Der Schwenk zu umweltfreundlichen Erneuerbaren Energien ist richtig, doch er muss gesteuert werden. Sonst laufen wir Gefahr, die Ziele Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit aus den Augen zu verlieren. Das ist dann nicht mehr nachhaltig. Bei den Erneuerbaren hat Deutschland bislang alle Ausbauprognosen übertroffen. Jetzt gilt es, darauf zu achten, dass die Kosten nicht weiter aus dem Ruder laufen und durch Netzausbau und ein ergänztes Strommarktdesign Versorgungssicherheit gewahrt bleibt. Die Energiewirtschaft ist viel mehr als Strom. Energieeffizienz ist ein großes Thema. Das müssen wir angehen. Aber bitte nicht wieder mit ausufernden Markteingriffen.

DR. ROLF MARTIN SCHMITZ

ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender der RWE AG.

28

STREITFRAGEN 03|2014  INFRASTRUKTUR


» WENN WIR NICHT GEGENSTEUERN, WERDEN WIR UNSER CO2-ZIEL FÜR 2020 VERFEHLEN.« Kann Deutschland sein CO2-Einsparzielerreichen ohne einen Kohleausstieg?

Strommarktdesigns auf die lange Bank. Damit wird sie ihrer Verantwortung für eine sichere und klimafreundliche Energieversorgung auch in diesem Bereich nicht gerecht.

KRISCHER    Deutschland hat sich verpflichtet, bis 2050 die

CO2-Emissionen um 80 bis 95 Prozent senken. Doch in den letzten Jahren ist der CO2-Ausstoß sogar noch gestiegen und wenn wir nicht gegensteuern, werden wir selbst das 2020-Ziel krachend verfehlen. Leider hat Frau Hendricks bisher keine konkreten Maßnahmen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes genannt geschweige denn angepackt. Natürlich müssen auch der Wärme- und der Verkehrssektor ihren Beitrag bringen. Aber klar ist auch: Das Klimaschutzziel ist nur mit sinkenden und (nicht steigenden) CO2-Emissionen zu erreichen sowie mit einer Stromerzeugung, die perspektivisch auch klimaneutral ist. Eine nachhaltige Energieversorgung muss langfristig belastbar und funktionsfähig bleiben. Das heißt: Für die »dunkle Flaute« werden konventionelle Kraftwerke als Reserve gebraucht. Was bedeutet das für Ihre Bewertung der konventionellen Erzeugung und insbesondere der Kohlekraftwerke?  KRISCHER    Der Ausbau der Erneuerbaren Energien führt logischerweise dazu, dass konventionelle Kraftwerke immer weniger Betriebsstunden erreichen und über den Energy-only-Markt alleine nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden können. Wir brauchen allerdings noch auf absehbare Zeit Kapazitäten, die je nach Bedarf rasch zu- oder abgeschaltet werden können, wenn kein Wind weht und die Sonne nicht scheint. Ein neues Strommarktdesign muss sicherstellen, dass flexible Kraftwerke, Kraft-Wärme-Kopplung, Lastmanagement und Speicher die Versorgungssicherheit garantieren können. Wir schlagen deshalb das Instrument des »ökologischen Flexibilitätsmarkts« vor, das die Bereitstellung gesicherter Leistung mit dem anstehenden Strukturwandel im fossilen Kraftwerkspark verbindet. Unverständlicherweise schiebt die Große Koalition trotz anderslauten der Ankündigungen die Schaffung eines mit dem weiteren Ausbau der Erneuerbaren Energien kompatiblen

Tun wir insgesamt genug, um das Gesamtsystem auf eine neue, nachhaltig tragfähige Basis zu stellen?  KRISCHER    Ein Anteil von 28 Prozent Erneuerbarer Energien im

Stromsektor mit kWh-Preisen für Wind und Sonne zum Teil deutlich unter 10 Cent, wie wir ihn heute haben, ist vor ein paar Jahren von vielen »Experten« noch für völlig unmöglich gehalten worden. Dabei hat sich die Versorgungssicherheit, wie die Zahlen der Bundesnetzagentur zeigen, sogar noch verbessert und weltweit ein Spitzenniveau erreicht. Natürlich bringt der Transformationsprozess – zumal wenn er von der Bundesregierung miserabel gemanagt wird – Schwierigkeiten und Probleme für die Energiewirtschaft mit sich. Die Alternative zu dieser Entwicklung hieße aber, wir bauen neue Atom- und Kohlekraftwerke. Das aber ist nicht nachhaltig, erhöht unsere Abhängigkeit von Energierohstoffimporten und ist darüber hinaus keineswegs billiger. Im Gegenteil: Die kWh-Preise von neuen (!) Kohle- und Atomkraftwerken übertreffen die von Wind und Sonne deutlich, wie z.B. die Ausschreibung für neue AKW in Großbritannien gezeigt hat, von den nicht eingerechneten Folgekosten einmal ganz abgesehen. Richtig ist, dass wir uns auch vielmehr um den Klimaschutz und die Energiewende im Wärme- und Stromsektor kümmern müssen.

OLIVER KRISCHER

ist stellvertretender Fraktionschef der Grünen im Bundestag.

Jetzt im App Store Vergleichen Sie die Veränderungen der Emissionen und Wirkungsgrade von Braun- und Stein­kohle sowie Erdgas in der App-Version dieser Ausgabe. INFRASTRUKTUR  STREITFRAGEN 03|2014

29


» NACHHALTIGE ENERGIEVERSORGUNG WELTWEIT – DAS IST DIE ZUKUNFT!« ›

Auch Schwellen- und Entwicklungsländer können von mehr Energieeffizienz und der Nutzung Erneuerbarer Energien profitieren, meint Tanja Gönner von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Die Wirtschaft wächst – weltweit im vergangenen Jahr um drei Prozent. Und damit wächst auch der Bedarf an Energie. Dies macht sich insbesondere in Schwellenländern wie Indien und China bemerkbar. Sie haben den größten »Energiehunger«. Denn im Vergleich zu den Industrieländern haben sie ein höheres Wachstum, eine zahlenmäßig größere Bevölkerung und –

30

STREITFRAGEN 03|2014  INFRASTRUKTUR

aufgrund der häufig weniger effizienten Produktionsverfahren – einen deutlich höheren spezifischen Energieeinsatz. Und auch die Bevölkerungsentwicklung insgesamt trägt zur Erhöhung des Energiebedarfs bei. Nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) wird der weltweite Energieverbrauch im Jahr 2035 um ein Drittel höher liegen als noch zwei Dekaden zuvor.


Wie soll dieser Energiehunger gestillt werden? »Nachhaltig« ist die Antwort, die Deutschland auf diese Frage gibt. Die Energiewende setzt auf Energieeffizienz und Erneuerbare Energien. Dass wir die Energiewende umsetzen können, traut uns das Ausland zu. »Wenn ihr das nicht schafft, schafft es niemand«, sagte einer von vielen ausländischen Politikern, Wissenschaftlern und Unternehmern, die wir für die Studie »Deutschland in den Augen der Welt – Rückschlüsse für die internationale Zusammenarbeit« nach ihrem Deutschlandbild gefragt haben.

Energieeffizienz ist der Schlüssel, um den Energieverbrauch zu senken oder wenigstens weniger schnell ansteigen zu lassen und ihn von der wirtschaftlichen Entwicklung zu entkoppeln. Zudem ist dies nach Angaben der IEA die derzeit wirtschaftlichste und vielversprechendste Option zur Minderung von Treibhausgasen. Das spiegelt sich auch in der Zusammenarbeit mit unseren Partnern wider. Doch bis zur Umsetzung ist es oft ein langer Weg. Um förderliche Rahmenbedingungen für Energieeffizienz zu etablieren, bedarf es eines intensiven Aushandlungsprozesses zwischen zahlreichen und sehr unterschiedlichen Akteuren: von Ministerien und Kommunalverwaltungen, Verbänden, Dienstleistern und wissenschaftlichen Instituten bis hin zu den Verbrauchern, Unternehmen und Privathaushalten. Für die GIZ ist das eine von vielen Aufgaben, die wir im Auftrag der Bundesregierung in unseren Partnerländern umsetzen.

Energieeffizienz-Maßnahmen ergeben naturgemäß dort am meisten Sinn, wo auch viel Energie verbraucht wird: bei der Stromerzeugung und -verteilung, in der Industrie, in Privathaushalten oder im Transport. Dazu braucht es zunächst ausreichend Wissen und Bewusstsein für einen rationalen Umgang mit Energie. Darauf aufbauend bedarf es energieeffizienter Technologien, geeigneter Finanzierungsoptionen und eines funktionierenden Marktes für Energiedienstleistungen. In Mexiko beispielsweise unterstützt die GIZ im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit die Steigerung der Energieeffizienz im Wohnungsbau – ein wichtiges Thema für das Schwellenland. Mexiko benötigt jährlich über eine halbe Million neuer Sozialwohnungen. Vor ganz anderen Problemen stehen viele Menschen in weniger entwickelten Ländern: Hier gibt es oftmals keinen Stromzugang. Geheizt und gekocht wird mit Brennholz und Holzkohle. Und auch hier steigt der Bedarf mit dem Bevölkerungswachstum, wodurch Wälder zunehmend schwinden. Daher gilt: Der Energiebedarf muss langfristig erneuerbar gedeckt werden. Erneuerbare Energien sind längst nicht mehr nur Optionen für umweltbewusste Verbraucher in reichen Industrieländern. In zahlreichen Schwellen- und Entwicklungsländern haben sie sich zu wirtschaftlichen Alternativen zu fossilen Energieträgern entwickelt.

Viele Länder, in denen die GIZ arbeitet, haben dabei sehr gute Voraussetzungen für den Ausbau Erneuerbarer Energien. Konventionelle Alternativen sind meist relativ teuer und auch nicht immer ausreichend verfügbar. Erneuerbare Energien sind daher in ländlichen, dünn besiedelten Gegenden häufig die kostengünstigste Option, um die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen: Solarmodule können Licht, Biogasanlagen Gas zum Kochen produzieren, durch energiesparende Herde wird weniger Feuerholz oder Dung benötigt – eine wichtige Voraussetzung im Kampf gegen die in vielen Regionen fortschreitende Übernutzung der natürlichen Ressourcen. Der verstärkte Einsatz von Erneuerbaren Energien zielt zudem auf eine kostengünstigere Versorgung mit Infrastrukturleistungen wie Trinkwasser, Gesundheit, Bildung und Kommunikation. Erneuerbare Energien leisten einen signifikanten Beitrag zur Kosteneffizienz und Versorgungssicherheit. Die GIZ unterstützt ihre Partner etwa dabei, Technologien wie Solar-­ Home-Systeme oder Kleinwasserkraftanlagen im ländlichen Raum zu verbreiten.

Den Blick in die weitere Zukunft der Energie in Deutschland und der Welt wollen wir mit einer Delphi-Befragung liefern, die wir zusammen mit dem Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft und PricewaterhouseCoopers starten. Ziel ist es, die Zukunft der Energie in Deutschland im globalen Kontext zu denken und die Diskussion über die Gegenwart hinaus zu weiten, losgelöst von aktuellen, oftmals sehr fokussierten Fragestellungen. Es gilt, eine globale und themenübergreifende Perspektive einzunehmen und einen weltweiten Dialogprozess zu starten, um nicht nur mögliche Szenarien der deutschen Energiesituation in 30 Jahren zu entwickeln, sondern auch einen Beitrag zu leisten, damit die Energiewende kein deutscher Sonderweg wird, sondern integriert und weltweit geschieht. Jetzt im App Store Die Langversion dieses Beitrags mit noch mehr Hintergründen zur nachhaltigen Energieversorgung weltweit finden Sie in der App-Version dieser Ausgabe.

TANJA GÖNNER

ist Vorstandssprecherin der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Das bundeseigene Unternehmen ist in rund 130 Ländern aktiv.

INFRASTRUKTUR  STREITFRAGEN 03|2014

31


Die Energiewirtschaft muss hohe Investitionen stemmen – die deutschen Versicherer suchen langfristige Kapitalanlagen mit attraktiver Rendite. Eigentlich wären die Branchen ideale Partner. Doch EU-Regeln machen Netze und Kraftwerke unattraktiv für die Assekuranz, erklärt Dr. Paul-Otto Faßbender von der ARAG.


DR. PAUL-OTTO FASSBENDER

ist Mehrheitsaktionär und Vorstandsvorsitzender des ARAG Konzerns. Die ARAG ist das größte Familienunternehmen der deutschen Versicherungswirtschaft und in insgesamt 15 Ländern aktiv.


Herr Dr. Faßbender, Sie haben sich zusammen mit anderen Versicherungsunternehmen mit der Frage beschäftigt, ob und wie die Versicherungswirtschaft in Erneuerbare Energien, Strom- und Gasnetze etc. investieren kann. Sind Sie zu gemeinsamen Schlüssen gekommen?  DR. PAUL-OTTO FASSBENDER   Wir haben uns im Kreis einiger Versicherungsunternehmen hier in Nordrhein-Westfalen recht intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Für uns war das naheliegend. Schließlich ist NRW die Energieregion Nummer eins in Deutschland. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir viele Möglichkeiten sehen, in die gesamte Energieinfrastruktur zu investieren. Allerdings haben wir auch recht schnell erkennen müssen, dass die Investitionshemmnisse sehr hoch sind. Wir stehen entsprechend erst am Anfang eines offenbar sehr, sehr langwierigen Prozesses.

Wie passen die Anforderungen der Versicherungswirtschaft an Sicherheit und Rentabilität von Investitionen zu den Anforderungen der Energiewirtschaft an ihre Finanzpartner? Wächst da zusammen, was zusammengehört, wie manche Experten glauben?  FASSBENDER    Sie passen sehr gut zusammen. Die deutschen Versicherer sind mit Kapitalanlagen von mehr als 1 300 Milliarden Euro die mit Abstand größten institutionellen Anleger im Land. Zugleich sucht die Assekuranz in der aktuellen Tiefstzins­ phase dringend nach neuen Anlagemöglichkeiten. Dabei ist sie an langfristigen Investitionen interessiert. Zeiträume von 20, 30 Jahren schrecken uns nicht – ganz im Gegenteil. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Energiewende nicht nur durch Fremdkapital, sondern vor allem in hohem Maße durch Eigenkapital zu finanzieren ist. Das ist die Domäne der Assekuranz. Sie kann Eigenkapital etwa über Spezialfonds, aber auch Fremdkapital durch den Kauf von Unternehmensanleihen langfristig bereitstellen. Die Kreditwirtschaft sieht sich durch Basel III bei der Vergabe von Fremdkapital mit sehr hohen Anforderungen konfrontiert, so dass die Finanzierungsmöglichkeiten durch Banken bei diesen sehr langfristigen Engagements erheblich eingeschränkt sind. Insofern wären Versicherungen die idealen Finanzpartner für die Energiewirtschaft.

34

STREITFRAGEN 03|2014  INFRASTRUKTUR

Im Jahr 2011 hat eine Gruppe von Versicherungen und Versorgungswerken die Mehrheit am Übertragungsnetzbetreiber Amprion übernommen. Damals sind einige Branchenbeobachter davon ausgegangen, dass weitere Investitionen der Assekuranzbranche vor allem im regulierten Bereich der Energiewirtschaft folgen würden. 2013 hat der GDV ein Positionspapier dazu veröffentlicht. Passiert ist aber seitdem nicht viel. Erwarten Sie weitere große Transaktionen?  FASSBENDER    Die damalige Transaktion zeigte als Eigenkapitalfinanzierung bereits in die richtige Richtung. Die Hoffnungen erwiesen sich aber als deutlich verfrüht. Das Positionspapier des GDV macht dabei sehr klar, wo die Schwierigkeiten für weitere Investitionen liegen. Die Versicherer möchten gerne investieren, aber die regulatorischen Hemmnisse sind immens. Der Bundesverband deutscher Banken hat ebenfalls die Investitionsmöglichkeiten der Kreditwirtschaft im Energiesektor beleuchtet und kommt auch zu dem Schluss, dass durch das Regelwerk Basel III die Bereitstellung von Fremdkapital für die Energiewirtschaft erheblich schwieriger geworden ist. Wenn ich beide Papiere nebeneinander lege, kann ich schon den Eindruck gewinnen, dass die Energiebranche eigentlich vom europäischen Kapitalmarkt abgeklemmt ist. Es ist jedenfalls kein Wunder, dass die deutsche Assekuranz noch nicht einmal ein Prozent ihrer Kapitalanlagen in Energieerzeugung und Netze investiert. Für größere Transaktionen sehe ich im Moment eher wenig Chancen.


Welche Hindernisse sehen Sie für ein verstärktes Engagement der Versicherungswirtschaft im Energiesektor?  FASSBENDER    Das hat nichts mit meiner persönlichen Wahrnehmung zu tun. Die Investitionshemmnisse sind groß und beruhen auf den Vorgaben der Regulierungsbehörden. Bekannt ist die Anforderung des Regelwerkes Solvency II für die europäischen Versicherer, wonach Investitionen in Energieerzeugung und Energieinfrastruktur mit 49 Prozent Risikokapital zu hinterlegen sind. Unter bestimmten Bedingungen kann dieser Anteil sogar auf 59 Prozent anwachsen. Im Klartext: Wenn ich im Energiesektor eine Milliarde Euro investieren will, muss ich gut 1,5 Milliarden Euro in die Hand nehmen. Rendite bekomme ich aber nur auf die direkt investierte Summe. Damit gelten für die Energiewirtschaft in den Augen des Regulators dieselben Regeln wie für Hedgefonds. Es sind Hochrisiko-Investitionen. Angesichts dieser Rahmenbedingungen überlegt es sich jeder Versicherer sehr genau, ob er sich diese Belastungen ins Buch holen will. Ob daraus volkswirtschaftliche Vernunft spricht, ist eine ganz andere Frage.

Wie müsste der regulatorische Rahmen angepasst werden, Stichwort »Solvency II«? Wie weit sind die Bemühungen gediehen, eine eigene Risikoklasse für vergleichsweise sichere Investitionen in Energie- und Infrastrukturprojekte zu etablieren?  FASSBENDER    Der Vorschlag einer eigenen Risikoklasse macht Sinn und würde die Bedeutung der Energiewende auch aus politischer Sicht unterstreichen. Aber: Die Energiewende ist eine deutsche Erfindung. Solvency II hingegen ist ein europäisches Regelwerk. Die europäische Versicherungsaufsicht EIOPA hat Mitte Juni erläutert, dass sie einem Abbau von Investitionshemmnissen nur zustimmt, wenn mehr Daten zur technischen Zuverlässigkeit insbesondere bei den Erneuerbaren Energien vorliegen. Bei Offshore-Windparks kann ich das auch nachvollziehen. Wir reden in Deutschland aber nicht nur über diese Energiequelle, sondern vor allem über eine Erneuerung und den Ausbau der Netzsysteme. Diese Investitionen brauchen wir dringend und hier haben wir es mit erprobter Technik zu tun. Ich gehe davon aus, dass durch das klare Votum der EIOPA, die Finanzierungshemmnisse zunächst zu belassen, derzeit kein

Versicherer mehr in den Energiesektor investieren wird. Schließlich würde das sehr schnell kritische Fragen bei den eigenen Aktionären auslösen. EU-Regeln machen es für Anleger nahezu unmöglich, gleichzeitig in die Erzeugung und in den Transport von Energie zu investieren – Stichwort »Unbundling«. Finden Sie diese Entflechtung auch bei der Finanzierung problematisch? Wenn ja: Kann es hier eine Lösung geben, und wie müsste sie aussehen?  FASSBENDER    Ja, das ist problematisch, weil der Versicherer nicht entlang der Wertschöpfungskette investieren kann. Der Versicherer kann nur in die Erzeugung oder das Netz investieren. Damit wird das zur Verfügung stehende Finanzierungsvolumen deutlich eingeschränkt. Hier wäre etwas mehr Spielraum hilfreich – so wie es auch der GDV bereits vorgeschlagen hat. Für wichtiger halte ich es aber, dass wir einen Weg finden, Investitionen in die Energiewirtschaft dem sogenannten Sicherungsvermögen der Versicherer zuordnen zu können. Das Sicherungsvermögen ist derjenige Kapitalstock des Versicherers, aus dem heraus er die Leistungsansprüche seiner Kunden bedient. Für dieses Vermögen gelten natürlich ganz besonders strenge Anlagekriterien. Der stark regulierte Energiesektor würde sich hier in meinen Augen für ein entsprechend verlässliches Engagement gut eignen. Schließlich unterliegt auch die Energiewirtschaft gerade in Deutschland einer starken Regulierung. Ob uns diese Regulierung auch auf die wichtige Frage der Investitionssicherheit die notwendigen Antworten liefert, ist ein ganz anderes Thema. Dennoch glaube ich, dass eine Zuordnung von Investitionen in die Energiewirtschaft zum Sicherungsvermögen die Investitionsneigung der Assekuranz in diesem Bereich erhöhen würde. Dreh- und Angelpunkt bleiben aber die sehr hohen Anforderungen bei der Unterlegung von Risikokapital. Das ist zunächst das zentrale Investitionshemmnis für den umfassenden Eintritt unserer Branche als Investor in die Energiewirtschaft.

INFRASTRUKTUR  STREITFRAGEN 03|2014

35



STELLSCHRAUBEN FÜR NACHHALTIGEN GEWÄSSER­ SCHUTZ ›

Nachhaltigkeit im Gewässerschutz bedeutet Wasser schonend zu nutzen, zudem die Ökologie von Flüssen, Seen und Meeren in einen guten Zustand zurückzuführen, meint Dr. Christian Hey vom Sachverständigenrat für Umweltfragen.


» NOCH SIND WIR WEIT DAVON ENTFERNT, DIE GUTE QUALITÄT DER GEWÄSSER ERREICHT ZU HABEN.«

Was bedeutet für Sie Nachhaltigkeit im Gewässer­ schutz?  DR. CHRISTIAN HEY   Nachhaltigkeit im Gewässerschutz muss Gesundheits- und Ökosystemschutz gleichermaßen berücksichtigen. Wir wissen, dass Trinkwasserschutz auf eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz stößt, nicht aber durchweg der Ökosystemschutz. Konkret bedeutet das zum einen, Wasser schonend zu nutzen, um diese essenzielle Ressource und deren Qualität für zukünftige Generationen zu erhalten. Zum anderen muss die Ökologie von Flüssen, Seen und Meeren in einen guten Zustand zurückgeführt werden, damit wir langfristig von den Leistungen dieser wichtigen natürlichen Lebensräume profitieren können.

Was sind aus Ihrer Sicht die Stellschrauben im Gewässerschutz?  HEY   Die beiden großen Stellschrauben im Gewässerschutz sind der Erhalt der guten chemischen Qualität der Oberflächengewässer und des Grundwas-

38

STREITFRAGEN 03|2014  WASSERWIRTSCHAFT

sers. Dafür müssen Schad- und Nährstoffeinträge deutlich gemindert bzw. vermieden werden. Darüber hinaus betrifft dies die Morphologie der Gewässer. Die besondere Herausforderung besteht darin, die Oberflächengewässer wieder in einen möglichst naturnahen Zustand zu bringen. Wie kann das Nitratproblem gelöst werden?  HEY   Der Hauptverursacher für die Nitrateinträge in die Gewässer ist die Landwirtschaft. Um diese Einträge zu mindern, ist die anstehende Novelle der Düngeverordnung von entscheidender Bedeutung. Dazu gehören die Einbeziehung aller organischen Dünger einschließlich Gärreste aus Biogasanlagen in die Ausbringungsobergrenze, hohe technische Anforderungen an die Ausbringungstechnik und die Lagerhaltung von Wirtschaftsdünger, Sperrfristen, die klar am Düngebedarf ausgerichtet sind, und strengere Kontrollen und Sanktionen. Um Letzteres zu erleichtern sollte die Hoftorbilanz eingeführt werden. Erforderlich sind auch deutlich mehr Mittel für Agrarumweltmaßnahmen und die landwirtschaftli-


che Beratung. Vor allem sollte das Ordnungsrecht stärker zum Tragen kommen – z.B. durch eine intensivere Ausweisung von Wasserschutzgebieten. Um weitere Anreize für die Verminderung der Gesamtbelastung zu schaffen, halten wir auch ökonomische Instrumente wie eine Stickstoffüberschussabgabe für sinnvoll. Welche Kriterien sollten beim Fracking beachtet werden?  HEY   Grundsätzlich ist das Vorsorgeprinzip zu beachten. Das bedeutet nach Auffassung des SRU konkret für das Fracking, dass die Risiken zunächst im Rahmen von Pilotprojekten überprüft werden sollten, bevor man überhaupt an die kommerzielle Gewinnung geht. Die im Eckpunktepapier der Ministerien angekündigten Regelungen gehen sicher in die richtige Richtung. Sie müssen nun konkretisiert werden. Darüber hinaus sollte aber auch über die Novelle des Bergrechts ernsthaft nachgedacht werden.

Welches sind die »Gewässerschutz«-Probleme von morgen?  HEY   Noch sind wir weit davon entfernt, die gute Qualität der Gewässer erreicht zu haben. Darüber hinaus sind die Anpassung an den Klimawandel und der damit verbundene Hochwasserschutz zentrale Herausforderungen. Beim Hochwasserschutz sollten die Synergien mit dem Naturschutz und der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie genutzt werden.

DR. CHRISTIAN HEY

ist Generalsekretär des Sach­ verständigenrates für Umweltfragen.

» DER HAUPTVERURSACHER FÜR DIE NITRATEINTRÄGE IN DIE GEWÄSSER IST DIE LANDWIRTSCHAFT.« WASSERWIRTSCHAFT  STREITFRAGEN 03|2014

39


DER KAMPF UM DIE TALENTE BEGINNT IM HÖRSAAL

Mit der »Generation Y« kommt ein neuer Typ von Berufseinsteigern auf den Arbeitsmarkt. Wie kann die Energie- und Wasserwirtschaft diese anspruchsvollen jungen Talente gewinnen und halten? Kerstin Abraham, Stadtwerke Krefeld, und der angehende Ingenieur Colin de Vrieze diskutieren. Herr de Vrieze, Sie stehen vor dem Bachelor-Abschluss in Elektrotechnik. Wenn Sie mit Ihren Kommilitonen über potenzielle Arbeitgeber reden – worauf achten Sie?  COLIN DE VRIEZE    Ich glaube, dass meine Generation sehr individuell ist in ihren Anforderungen und Wünschen. Bei der Entscheidung für einen Arbeitgeber spielen die klassischen Faktoren wie Reputation und Größe des Unternehmens nach wie vor eine wichtige Rolle. Außerdem muss die Arbeit einen Sinn

40

COLIN DE VRIEZE    studiert Elektrotechnik an der Rheinisch-­ Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Er engagiert sich im VDE YoungNet, dem Netzwerk der Studierenden im ElektrotechnikVerband.

STREITFRAGEN 03|2014  NACHWUCHS

haben und abwechslungsreich sein. Dann ist der Ort wichtig, viele Absolventen wollen in der Region bleiben. Die Bewerber erwarten Weiterbildungsmöglichkeiten und einen sicheren Arbeitsplatz. … und Geld spielt keine Rolle?  DE VRIEZE   Das Gehalt soll stimmen. Geld ist aber nicht das

Wichtigste. Übrigens wünschen sich viele Absolventen auch noch einen internationalen Bezug ihrer Arbeit.


KERSTIN ABRAHAM

ist Vorstandsmitglied der Stadtwerke Krefeld. Das kommunale Unternehmen mit den Geschäftsfeldern Energie, Wasser, Entsorgung und Verkehr beschäftigt knapp 2 600 Mitarbeiter.

Frau Abraham, was kann die Energiewirtschaft Bewerbern mit solchen Erwartungen bieten?

Reicht das zum Sieg im »War for Talents«?  ABRAHAM    Wir haben viel zu bieten, müssen uns aber noch

KERSTIN ABRAHAM    Die jungen Leute wollen etwas Sinnvol-

les tun – das können sie bei uns. Wir gestalten mit der Energiewende ein wichtiges Stück Zukunft. Das müssen wir stärker herausstellen, im Moment dominiert in der öffentlichen Diskussion leider eher die Krise unserer Branche. Und: Absolventen, die einen sicheren Arbeitsplatz suchen, finden den weiterhin bei Versorgungsunternehmen.

stärker mit den veränderten Erwartungen auseinandersetzen. Unsere Aufgabe ist, zu verstehen, wie die jungen Talente von heute wirklich ticken. Um dann die passenden Jobprofile und Arbeitszeitmodelle zu entwickeln, brauchen wir auch die Unterstützung der Betriebsräte und der Tarifpartner.

NACHWUCHS  STREITFRAGEN 03|2014

41


Herr de Vrieze, ein Personalmanager von RWE hat im Gespräch mit den »Streitfragen!« erklärt, die Energiewende mache die Branche wieder sexy. Stimmen Sie zu?

Manche Unternehmen fördern Talente direkt. Was halten Sie davon?  DE VRIEZE  Förderprogramme, Preise und Stipendien sind

DE VRIEZE   Auf jeden Fall. Viele Interessenten messen offene

Stellen und Unternehmen daran, wie viel man dort zur Energiewende beitragen kann. Dann dürfen die Stadtwerke Krefeld mit vielen Bewerbungen Ihrer Aachener Kommilitonen rechnen?

sehr positiv, doch da findet selten Bindung statt. Die Studenten freuen sich über das Geld. Aber sie erwarten darüber hinaus, dass das Unternehmen auf sie zugeht und einen nachhaltigen Kontakt aufbaut. Frau Abraham, auch die Stadtwerke Krefeld vergeben Stipendien. Wie stark binden Sie die Empfänger an Ihr Haus?

DE VRIEZE   Frau Abraham wird das nicht gerne hören, aber die

lokalen Energieversorger haben ein schlechtes Image bei den Absolventen. Viele Studenten denken, dass die Energiewende gerade nicht beim lokalen Versorger stattfindet oder dort noch nicht angekommen ist. Ähnlich ist es bei der konventionellen Erzeugung. Die gilt als eher rückwärts gewandt und damit unattraktiv, obwohl die fossilen Kraftwerke für die Energiewende eminent wichtig sind.

ABRAHAM   Momentan läuft der Kontakt vor allem über die

Personalabteilung. Bei der Einbindung in die Organisation können wir in der Tat noch besser werden. Auch da zeigt sich: Das Werben um junge Talente erfordert künftig mehr Einsatz der Fachabteilungen. Da müssen auch unsere Führungskräfte umdenken.

Frau Abraham, da steht Ihnen noch einige Aufklärungs­ arbeit bevor …

Sie erwähnten eben, dass Sie den veränderten Erwartungen der Berufseinsteiger mit neuen Modellen entgegenkommen wollen. Was heißt das konkret?

ABRAHAM    Wir tun lokal und regional schon viel – aber es

ABRAHAM    Wir müssen uns lösen von einer Karriereplanung,

stimmt, wir müssen als Branche unser Arbeitgeberimage verbessern. Und die Stadtwerke-Landschaft ist sehr heterogen. Ich erlebe immer wieder junge Menschen, die als Werkstudenten oder Praktikanten zu uns ins Haus kommen und begeistert sind von der Vielfalt der Aufgabenfelder, von der Dynamik und Geschwindigkeit in unserem Konzern. Die sagen: »Das habe ich mir nicht so vorgestellt.«

die auf Geld, Dienstwagen und Personalverantwortung zielt. Immer mehr Nachwuchskräfte sagen, dass sie gar keine Personalverantwortung wünschen. Denen müssen wir eine Expertenlaufbahn ermöglichen.

Was unternehmen Sie, um den akademischen Nachwuchs für Ihr Unternehmen zu interessieren?  ABRAHAM    Die Stadtwerke Krefeld kooperieren beispielsweise

mit der Hochschule Niederrhein und unterstützen dort das SWK Energiezentrum E2. Durch gemeinsame Projekte bekommen wir frühzeitig Kontakt zu Studierenden. Das müssen wir ausbauen.

DE VRIEZE   Natürlich gibt es diese Leute, aber wir sollten das

nicht verallgemeinern. Ich kenne viele, die gerade die Personalverantwortung suchen und fürchten, in einer Expertenlaufbahn als Fachidioten zu enden …  ABRAHAM    … und wieder andere wollen regelmäßig die Aufgabe wechseln. Für die brauchen wir eine Projektlaufbahn. Die würde zugleich helfen, das Know-how älterer Mitarbeiter im Unternehmen zu halten: Sie könnten zum Ende des Berufs­ lebens die Zahl der Arbeitsstunden verringern, aber weiter ihr Know-how einbringen und zugleich als Mentoren für junge Leute wirken.

DE VRIEZE   Hochschulkooperationen sind sicherlich der beste

Weg. Denn die Mitarbeiter der Institute und die Professoren unterstützen die Studierenden aktiv bei der Berufsorientierung. Auch Gastvorlesungen und Vortragsabende sind für meine Kommilitonen und mich sehr attraktiv.

Wir haben gerade viel über die Ansprüche und Bedürfnisse der Bewerber gelernt. Aber: Was brauchen die Unternehmen? Welche Kompetenzen erwarten sie von Berufseinsteigern?  ABRAHAM    Aufgrund

Welche Rolle spielen Praktika?  DE VRIEZE   Dafür sollte sich die Branche noch stärker öffnen.

Denn viele Studierende der Elektrotechnik und anderer eher theoretischer Fachrichtungen wissen gar nicht, was die großen Unternehmen alles machen. Aber auch ein Praktikum muss individuelle Anforderungen berücksichtigen. Der eine sucht vielleicht ein Schnupperpraktikum, bei dem er alle Sparten des Unternehmens kennen lernt. Der andere muss sich zwischen Praktikum und Ferienjob entscheiden – dann ist es eine finanzielle Frage.

42

STREITFRAGEN 03|2014  NACHWUCHS

der zunehmenden Digitalisierung brauchen die Unternehmen immer mehr Leute mit IT-Affinität. Darüber hinaus benötigen wir Mitarbeiter, die die gesamte Prozesskette von der Erzeugung und Beschaffung bis zum Vertrieb und Kundenservice im Blick behalten können. Denn unsere Märkte verändern sich schnell. Wir müssen an der einen Stelle reagieren und dabei die Auswirkungen auf alle anderen Bereiche


des Unternehmens beachten. Dieses Denken an die Konsequenzen passt zu einer Generation, die sich so stark für die Folgen ihres Handelns interessiert.

Ist die Ausbildung im dualen System denn überhaupt noch zeitgemäß?  ABRAHAM    Auf jeden Fall. Unser duales Ausbildungssystem

Die Unternehmen suchen nicht nur Hochschulabsolventen, sondern auch Auszubildende. Wie kann die Energiewirtschaft für Schülerinnen und Schüler attraktiv bleiben?

bleibt ein wichtiger Motor unserer Volkswirtschaft. Aber es muss sich verändern, sich auf andere Zielgruppen und noch schneller auf veränderte Bedarfe der Unternehmen einstellen.

ABRAHAM    Wir spüren zwei Effekte: Wir haben immer weniger Schulabgänger – und fast die Hälfte eines Jahrgangs macht Abitur. Die meisten beginnen dann ein Studium. Deshalb müssen sich die Unternehmen verstärkt Bewerberinnen und Bewerber mit anderen Schulabschlüssen ansehen. Wir haben so viele Talente, die kein Abitur haben, und die müssen wir auch gewinnen! Wir sollten sie schon in der Schule begeistern. Außerdem müssen wir mehr Mädchen und junge Frauen an Naturwissenschaften und Technik heranführen.

Herr de Vrieze, Sie haben sich fürs Studium entschieden. Berührt Sie eine Diskussion über das duale Ausbildungssystem eigentlich?

DE VRIEZE    Da würde eine praxisnahe Gestaltung des Unter-

richts helfen. Heute wird vielen Schülerinnen und Schülern gar nicht erklärt, was sie später mit Mathematik und Physik anfangen können. Dann glauben sie, dass das nur etwas für Nerds ist. In Aachen starten wir gerade eine Studenteninitiative: Wir wollen Schulen eine Physikstunde mit Versuchen anbieten – inklusive Lötkolben für die Kinder.

DE VRIEZE  Ja, schon weil einige meiner Freunde nach der

Schule eine Ausbildung angefangen haben. Ich finde es wichtig, dass der Übergang zwischen beiden Wegen möglich ist. So, wie der Facharbeiter mit Meisterbrief studieren kann, muss der Wechsel vom Studium zur Ausbildung möglich sein. Das Beenden des Studiums zugunsten einer Ausbildung darf kein Makel sein – es sollte einfach als Verlagerung des Schwerpunkts akzeptiert werden.


REGIONALE VERSORGER HABEN EINEN TRUMPF IN DER HAND Attraktive Arbeitgeber müssen sich künftig als moderne, zukunfts- und wertorientierte Unternehmen präsentieren, meint DEW-Chef Dr. Frank Brinkmann.

Wie kommen Sie an die Jugendlichen heran, die sich in der Phase der Berufsorientierung befinden? Wie ist das Timing, und welche Kanäle muss man wählen?  DR. FRANK BRINKMANN   Als regionales Versorgungsunternehmen mit großer Reputation in Dortmund und Umgebung hat DEW21 bisher keine Nachwuchssorgen: 20 Ausbildungsplätze besetzen wir im Jahr – und noch bekommen wir gut 700 Bewerbungen! Früher waren es deutlich mehr – insofern sehen wir bereits die Auswirkungen des demografischen Wandels. Außerdem interessieren sich die meisten Jugendlichen heute eher für eine kaufmännische Ausbildung: Wir suchen aber vor allem Verstärkung für unsere technischen Bereiche, z.B. Anlagenmechaniker. Deshalb unterstützen wir im Rahmen unseres gesellschaftlichen Engagements zahlreiche Informations- und Bildungsangebote schon für Kinder: Dazu gehören die Förderung von MINT-Schulprojekten in Kooperation mit dem Dortmunder Kindertechnologiezentrum, die Veranstaltung von Energie­ seminaren im Rahmen eines städtischen Schulprogramms, Schulzeitungsprojekte und spezielle Förderprogramme für Mädchen über den Girls Day hinaus.

Was können Unternehmen aus der Energiewirtschaft dem Nachwuchs anbieten? Gibt es Angebote, die nur Energieversorger machen können?

Wie stehen die Energieversorger im Wettbewerb mit anderen Branchen da? Wer hat in Sachen Berufsorientierung derzeit die Nase vorn?  BRINKMANN   Keine Frage: Die Autobranche steht bei vielen Jugendlichen immer noch höher im Kurs – diese Faszination ist kaum zu brechen. Aber vor allem die regionalen Versorgungsunternehmen haben durch ihre Bodenständigkeit in der Regel einen Trumpf in der Hand. Wichtig und entscheidend dürfte in Zukunft der Spagat sein: ein zukunfts- und gleichzeitig wertorientierter Arbeitgeber mit moderner Markenführung zu sein.

Welches Best-Practice-Beispiel aus der Branche oder aus Ihrem Hause würden Sie anderen Unternehmen zur Nach­ ahmung empfehlen?  BRINKMANN    DEW21 ist in der komfortablen Lage, zusammen

BRINKMANN    Die Energiewirtschaft mausert sich: Die techni-

schen Herausforderungen aus dem Umbau unserer Versorgung haben zu einer Reihe neuer, anspruchsvoller Berufsbilder geführt. Wir bieten Einblicke in eine Branche, die sich mittlerweile im ständigen Wandel befindet – erst recht in den Unternehmen, die die Zeichen der Zeit frühzeitig erkannt haben und neue Wachstumsfelder erschließen.

44

STREITFRAGEN 03|2014  NACHWUCHS

mit unserem Mutterkonzern DSW21 eine Ausbildungswerkstatt unterhalten zu können, in der auch für andere Dortmunder Unternehmen und über Bedarf eine qualitativ hochwertige Ausbildung geboten wird. Kooperation ist also durchaus ein Schlüssel.


Seit zehn Jahren bereits machen wir sehr gute Erfahrungen mit der »Jufi«, der Juniorenfirma, in der sich unsere Azubis in der Unternehmensführung ausprobieren können. Ausgezahlt hat sich die eigene Gestaltung eines hochwertigen Traineeprogramms, in dem eine auf die persönlichen Interessen abgestimmte Qualifizierung mit Praxiseinsätzen und einer übergreifenden Weiterbildung kombiniert wird – dafür ist DEW21 sogar 2012 ausgezeichnet worden.

halbes Jahr länger dauernden technischen Ausbildungen Realschulabgänger, aber nicht als Regel. Dennoch können wir manchen Ausbildungsplatz gerade in der Technik nicht mehr passend besetzen. In diesem Jahr starten wir deshalb ein zweijähriges Ausbildungsangebot zur Fachkraft Metalltechnik für Schulabgänger, bei denen technisches Verständnis und Fingerfertigkeit vorhanden sind, die aber ansonsten Schwierigkeiten haben, auf dem Ausbildungsmarkt Fuß zu fassen.

Geben Sie auch Bewerbern mit schlechten Noten und/oder ohne Schulabschluss eine Chance? Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?  DR. FRANK BRINKMANN   BRINKMANN    Noten allein sind bei uns nicht entscheidend,

ausschlaggebend ist für uns das Gesamtergebnis der speziellen Auswahltests. Allerdings sind die Berufsbilder tatsächlich auch komplexer geworden, auch die Bildungsträger setzen hohe Maßstäbe: Englisch ist in der Berufsschule mittlerweile Pflichtfach. Deshalb glauben wir, dass ein Jugendlicher, der keinen Schulabschluss geschafft hat, zu große Schwierigkeiten mit dem Ausbildungsabschluss haben wird. Oft wählen wir für unsere dreijährigen Ausbildungen im kaufmännischen Bereich und die ein

leitet als Vorsitzender der Geschäftsführung die Dortmunder Energie- und Wasserversorgung GmbH (DEW).

SCHULABBRECHER – DIE AZUBIS VON MORGEN? NICHT NUR DAS DEUTSCHE SCHULSYSTEM PRODUZIERT ABBRECHER. DÄNEMARK HAT FÜR JUNGE MENSCHEN OHNE ABSCHLUSS EIN EIGENES ANGEBOT GESCHAFFEN: DIE PRODUKTIONSSCHULE. In Deutschland werden Auszubildende knapp: Nach einer aktuellen Studie dürften 2025 noch 430 000 junge Leute jährlich einen Ausbildungsvertrag abschließen – etwa ein Viertel weniger als heute. Gleichzeitig verlassen jedes Jahr mehrere zehntausend junge Menschen das Schulsystem ohne Abschluss. Wie kann diese Gruppe für eine Ausbildung qualifiziert und motiviert werden? Vor dieser Frage stehen auch andere Länder. Dänemark hat die sogenannte Produktionsschule etabliert – sie fördert und fordert junge Leute ohne schulischen und beruflichen Abschluss. Die dänische Produktionsschule forciert praktisches, auftrags- und arbeitsnahes Lernen. Damit setzt sie sich von der herkömmlichen »Buchschule« mit ihrem theoretisch geprägten Unterricht ab. Wichtigster Lern­

ort ist die Werkstatt: Hier arbeitet jeder Produktionsschüler mit einem Lehrer zusammen, der ihn individuell berät und bei der beruflichen Orientierung unterstützt. In der Regel ist der Betreuer ein gelernter Handwerker. Die Produkte und Dienstleistungen der Lehrwerkstätten werden vermarktet. Das schafft einen Anreiz für die Schüler, ihre Arbeit pünktlich und sorgfältig zu erledigen. Das Spektrum der Tätigkeiten reicht von traditioneller Holz- und Metallbearbeitung bis zum Webdesign. Der Besuch der Einrichtung dauert normalerweise maximal ein Jahr. Die Schülerinnen und Schüler – Höchstalter: 25 Jahre – erwerben keinen Abschluss. Sie sollen die Zeit nutzen, um ihre Talente zu testen, Chancen auf einen Job erkunden und den

weiteren Bildungsweg planen. Für den Schulbesuch erhalten sie eine Vergütung. Aktuell arbeiten in Dänemark rund 100 Produktionsschulen. Die Finanzierung teilen sich der Staat und die jeweilige Gemeinde. Das Modell hat in Deutschland erste Nachahmer gefunden: Derzeit bereiten sich rund 5 000 Jugendliche in Einrichtungen verschiedener Träger nach dänischem Vorbild »marktnah« und praxisorientiert aufs Berufsleben vor. Vom dänischen Standard mit einem flächendeckend verfüg­ baren Angebot, einheitlicher Finanzierung und staatlich definierten Standards ist die Bundesrepublik aber weit entfernt – als Haupthindernis gilt der Föderalismus in der Bildungspolitik.

45


Lust auf mehr? Dann laden sie sich  streitfragen! kostenlos im app store herunter.

Herausgeber bdew bundesverband der energie- und wasserwirtschaft e.v.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.