BDEW-Magazin "Streitfragen!" - 02/2012

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Streitfragen! Die Energie- und Wasserwirtschaft im Dialog | Das Magazin 02|2012

S.22

S.38

S.44

Erdgas: Sicher versorgt

Nichts ist unmöglich

Die Gasversorgung in Deutschland ist gesichert, so das Argument von Dr. Heinz Riemer, E.ON Ruhrgas

EU-Energiekommissar Günther Oettinger über die Modernisierung des europäischen Energiesystems

»Ginge es nach der EU, dürften wir nicht einmal Trinkwasser einleiten.« Prof. Dr. Harro Bode, Ruhrverband, äußert sich kritisch zu Plänen der EU-Kommission


EWALD WOSTE

WULF ABKE

amtiert seit 2010 als Präsident des BDEW. Seit 2007 ist er Vorstandsvorsitzender der Thüga AG in München.

ist Vizepräsident des BDEW und Geschäftsführer der Hessenwasser GmbH & Co. KG.

Liebe Leserin, Lieber Leser, die Grundversorgung der Menschen und der Unternehmen in Deutschland mit Energie und Wasser hat einen sehr hohen Stellenwert. Die Bandbreite reicht von Stadtwerken, kommunalen Wasserver- und Abwasserentsorgern bis hin zu privaten Unternehmen, Zweckverbänden, Genossenschaften, ja selbst Bürgerinitiativen, die zum Beispiel Windparks betreiben. In dieser Vielfalt herrscht ein Wettbewerb um die besten Lösungen, der zu höchster Qualität, exzellenter Versorgungssicherheit und weitgehend stabilen Preisen für Erzeugung und Vertrieb geführt hat. So liegt die Entwicklung der Preise bzw. Gebühren für Wasser und Abwasser seit Jahren in der Regel unterhalb des Inflationsindexes.


Demgegenüber sind zum Beispiel bei den Strompreisen seit der Liberalisierung 1998 die Steuern und Abgabenlasten um das bis zu Zehnfache geradezu explodiert. Das müsste der Politik durchaus zu denken geben. Eigentlich müsste sie ihren Teil der Verantwortung übernehmen. Doch stattdessen beobachten wir überall den Trend, dass der Staat nicht mehr nur Ziele vorgibt (die mit der Energiewende zudem äußerst ambitioniert angelegt sind), sondern auch immer stärker in die Gestaltung eingreift. In der Steuerung des konventionellen Kraftwerksparks beobachten wir das, und es begegnet uns, wenn die Kartellbehörden ohne Rücksicht auf die unterschiedlichen Gegebenheiten vor Ort in die Preisgestaltung der Wasserwirtschaft einzugreifen versuchen. Am Beispiel des BDEW, der 2012 fünf Jahre alt wird, sollte die Politik eigentlich erkennen können, dass unsere Unternehmen durchaus willens und in der Lage sind, selbst den besten Weg und die dazu geeigneten Kompromisse zu finden. Interessenkonflikte, die die Politik lange Zeit lähmen, haben wir im Verband schon immer alleine wegen der Bandbreite unserer Mitglieder viel schneller klären müssen – und auch geklärt. Dazu gehören etwa die Kompromisse zwischen Energie- und Wasserwirtschaft in den Fragen von Carbon Capture and Storage (CCS) und der Förderung unkonventionellen Erdgases – keine Kompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern tragfähige, praxistaugliche Lösungen im Sinne von Energie- und Wasserwirtschaft im BDEW. Dazu gehört aktuell auch ein geordnetes brancheninternes Verfahren zur Klärung von Notwendigkeit und Ausgestaltung sogenannter Kapazitätsmechanismen. Diese Diskussionen finden nicht hinter verschlossenen Türen statt. Dafür steht auch das vorliegende Magazin. Die Politik ist herzlich eingeladen, sich an der Debatte über die besten Lösungen zu beteiligen. Viel Freude beim Lesen Ihre

Ewald Woste

Wulf Abke

Streitfragen 02|2012

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S.10 Power to Gas – Hoffnungsträger mit Fragezeichen

Dr. Jürgen Lenz vom Deutschen Verein des Gas- und Wasserfachs e.V. (DVGW), Dr. Christoph von dem Bussche, GASCADE Gastransport GmbH und Martin Heun von der Gas- und Wasserversorgung Fulda im Gespräch über die Möglichkeiten der Power-to-Gas-Technologie

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S.18

S.32

S.34

Klar zur wende

Drei Fragen an Matthias Jung

Handelssystem und Emissionsminderungen

Erdgaslieferant Hugo Wiemer, Gas-Union, schaut zuversichtlich in die Zukunft

Das Vorstandsmitglied der Forschungsgruppe

EU-Klimakommissarin Connie Hedegaard

Wahlen über das Interesse der Öffentlichkeit am

erläutert die aktuelle Situation des europäischen

Thema Energie

Emissionshandels

Streitfragen 02|2012


S.06

Intelligentes Marktdesign statt Planwirtschaft

FOKUS ENERGIEWENDE

Hildegard Müller, Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäftsführung, plädiert für pragmatische Ansätze bei der Umsetzung der Energiewende

S.30

Dr. Jörg Hermsmeier, EWE AG, fordert mehr Anreize, um unternehmerische Forschungsaktivitäten zur Energiewende zu stärken

ZUKUNFT DES ENERGIETRÄGERS GAS

S.10

S.32

Power to Gas – Hoffnungsträger mit Fragezeichen

Dr. Christoph von dem Bussche, GASCADE, Dr. Jürgen Lenz, DVGW, und Martin Heun, Gas- und Wasserversorgung Fulda, im Gespräch über die Power-to-Gas-Technologie

S.16

S.18

Drei Fragen an Matthias Jung

Das Vorstandsmitglied der Forschungsgruppe Wahlen über das Interesse der Öffentlichkeit am Thema Energie

S.34

»Nur mit Gas bleibt die Energiewende finanzierbar.«

Dr. Constantin Alsheimer, Mainova AG, plädiert für eine Art „Energie-Soli“

»Wir brauchen die Anerkennung von Forschungskosten.«

»Das Handelssystem wird die vereinbarten Emissionsminderungen erbringen.«

EU-Klimakommissarin Connie Hedegaard erläutert die aktuelle Situation des europäischen Emissionshandels

S.38

Nichts ist unmöglich

EU-Energiekommissar Günther Oettinger über die Moderni­sierung des europäischen Energiesystems

Klar zur wende

Erdgaslieferant Hugo Wiemer, Gas-Union, schaut zuversichtlich in die Zukunft

S.22

WASSERWIRTSCHAFT ERDGAS: Sicher versorgt

Die Gasversorgung in Deutschland ist gesichert, so das Argument von Dr. Heinz Riemer, E.ON Ruhrgas

S.26

Wie entwickelt sich der Erdgas-Markt?

Drei Fragen an Helmut Herdt

Der Sprecher der Geschäftsführung der Städtischen Werke Magdeburg zu zukünftigen Herausforderungen der Wasser- und Abwasserwirtschaft

Europäisch denken, Alternativen prüfen

Für Dr. Jürgen Tzschoppe, Statkraft, ist der Bau von neuen Gaskraftwerken nur ein möglicher von mehreren Wegen, Versorgungssicherheit zu gewährleisten

S.28

S.42

S.44

»Ginge es nach der EU, dürften wir nicht einmal Trinkwasser einleiten.«

Prof. Dr. Harro Bode, Ruhrverband, äußert sich kritisch zu Plänen der EU-Kommission

Stefan Kapferer, BMWi, und Paul Betts, ExxonMobil, beleuchten das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven

Impressum Herausgeber

BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V. Reinhardtstraße 32 10117 Berlin streitfragen@bdew.de www.bdew.de Redaktion

Mathias Bucksteeg Sven Kulka

Konzept und Realisierung

Kuhn, Kammann & Kuhn GmbH, unter Mitarbeit von Wolf Szameit, Redaktion. Meltem Walter und Julia Dörfler, BDEW. Druck und Verarbeitung

Druck Center Drake + Huber, Bad Oeynhausen

Bildnachweis

Siemens AG: Titelseite; Laif: S.04, 34, 38; Roland Horn: S. 07, 12, 18, 20, 42; Frank Rümmele: S. 10, 14, 26; gettyimages: S. 09; EWE AG: S. 30; Werner Schüring: S. 32; Corbis: S. 37; BDEW: S. 44; E.ON Ruhrgas AG: S. 23; Mainova AG: S. 17; Redaktionsschluss: Juni 2012

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200 000 000 $ kostet ein Tanker für Flüssigerdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) im Schnitt. Weltweit sind etwa 200 dieser Schiffe im Einsatz. Die Tanks der größten Exemplare (hier im Bild) fassen mehr als 150 000 Kubikmeter. Derzeit wird mehr als ein Viertel des weltweit transportierten Erdgases in flüssigem Zustand befördert. Dazu wird das Gas auf unter − 160°C gekühlt.



Intelligentes Marktdesign statt Planwirtschaft

Wenn das Generationenprojekt Energiewende gelingen soll, muss die Politik sich von überholten Denkmustern verabschieden. Noch fehlt vielfach das Verständnis für unternehmerische und energiewirtschaftliche Zusammenhänge – nötig sind pragmatische Ansätze nach der Devise „steuern, nicht rudern“.

Manchmal braucht man einfach einen, der den Kopf noch frei hat. Einen wie Joachim Gauck: „Das ehrgeizige Projekt, das sich Deutschland als führende Industrienation mit der Energiewende vorgenommen hat, wird nicht mit planwirtschaftlichen Verordnungen und Subventionen gelingen.“ So der Bundespräsident Anfang Juni. Er weiß genau, warum und zu welchem Zeitpunkt er es sagt. Runde 5 000 Tage nach der Liberalisierung steht in der Energiepolitik altes gegen neues Denken. Auf der einen Seite weht ein kräftiger Hauch von staatlicher Investitionsplanung und Preiskontrolle durch Abgeordnetenbüros und Amtsstuben. In den Bundesländern feiert eine Planungshybris fröhliche Urstände, die den 70er Jahren zur Ehre gereicht hätte. Staatlich sanktionierte Eingriffe in den Betrieb der Kraftwerke werden zum Normalfall, der Wirkungsbereich des Energiemarktes mit freier Preisbildung schrumpft immer weiter.

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Streitfragen 02|2012

EEG muss überarbeitet werden

Auf der anderen Seite steht neues, pragmatisches Denken. In der Debatte um eine Marktintegration der erneuerbaren Energien sind nicht alle Vorschläge neu und sie ergeben auch noch kein Ganzes. Aber die Diskussion läuft. Es geht dabei nicht um „Kahlschlag“. Sondern es geht um Weitsicht: Was wird mit der unauflöslichen Verknüpfung zwischen fester Vergütung und Einspeisevorrang, wenn die Erneuerbaren einen Anteil von 80 Prozent am Stromverbrauch erreicht haben? Wer hat Vorrang, wenn wir bei Überproduktion nur die Wahl haben, PV oder Wind abzuregeln? Wollen wir dann wirklich einen de facto staatlich festgesetzten Strompreis? Das EEG ist eines jener Gesetze, das dazu bestimmt wurde, sich durch seinen eigenen Erfolg überflüssig zu machen. Es muss grundsätzlich überarbeitet werden. Eine auf rein quantitativen Zuwachs ausgerichtete Subvention, ohne qualitative Lenkungswirkung – das ist altes Denken. Der Mai 2012 war wieder ein Re-


Hildegard Müller

ist Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des BDEW.

kordmonat für die PV, es wurden über vier Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugt. Eine Erfolgsmeldung, aber sie hatte einen Preis: Die Mehrkosten gegenüber den Prognosen im Zuge der Berechnung der EEGUmlage 2012 belaufen sich schon jetzt auf 460 Millionen Euro. Der Strompreis an der Börse sinkt durch den Ausbau der Erneuerbaren, doch der Verbraucher hat nichts davon, weil gerade deshalb die Umlage, als Ausgleich zwischen Verkaufserlös und garantierter Vergütung, steigt. Sinnvoll geht anders. Neues Denken dagegen wäre zum Beispiel, Effizienz und Chancen im Wettbewerb zum Fördergrundsatz zu machen, den Ausbau der Erneuerbaren verbindlich an die Fortschritte beim Ausbau der Infra­ struktur, insbesondere bei den Netzen, zu koppeln. Politik entwickelt Problembewusstsein

Hoffnung macht das neue Personal. Peter Altmaier hat die notwendigen Investitionen in den konventionellen Kraftwerkspark und das Thema Strompreise schon benannt. Er wird absichtlich missverstanden, wenn er die Überprüfung der Ziele der Energiewende ankündigt. Es geht ihm nicht darum, den beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie umzudrehen. Der ist verbindliche Grundlage für das Generationenprojekt Energiewende. Auch im BDEW hat niemand Ambitionen, diese Diskussion wieder zu führen. Altmaier geht es darum, Prioritäten und ein Management auf der Zeitschiene einzuführen. Mit Gauck und Altmaier in der Ecke des neuen Denkens: der neue Präsident der Bundesnetzagentur Jochen Homann, der seinen Terminkalender mit Investorengesprächen vollpackt, um frisches Geld der BNetzA für die Netze aufzutreiben. Dafür sollte er aber auch einen Blick auf die Regulierungspraxis werfen. Das Hauptproblem des alten Denkens ist ein fehlendes Verständnis für unternehmerische und energiewirtschaftliche Zusammenhänge. Ein Beispiel

ist die Mentalität, mit der die „Beschlusskammer 8“ in der Bundesnetzagentur ihr einziges Ziel einer Reduzierung der Netzkosten verfolgt. Redispatch-Maßnahmen, immer öfter die letzte Barriere vor dem Blackout, will sie auf einem Niveau entschädigen, dass sich kein Kraftwerksbetreiber dafür mehr in die Pflicht nehmen lassen will. Wer auf seinen Kosten sitzen bleibt, wenn er hilft, das System zu stützen – welches Interesse soll er dann künftig an der Bereitstellung von Reservekapazitäten haben? Die Beschlusskammer behindert damit auch die Diskussionen im Kraftwerksforum des BMWi – ein Staat im Staate. Investitionen lassen sich nicht anordnen, Stilllegungen nicht verbieten. Auch der Staat kann keine Kraftwerke bauen, deren Betrieb nicht wirtschaftlich ist. Im Jahr 2020 werden konventionelle Kraftwerke im Vergleich zu heute rund 40 Prozent weniger im Betrieb sein. Kraftwerke werden aber nach Arbeit, also den erzeugten Kilowattstunden, bezahlt, nicht nach Leistung bzw. Kapazität. Doch die Erlöse aus der Stromproduktion sinken bei abnehmenden Betriebszeiten drastisch, während die Fixkosten, zum Beispiel für das Personal, konstant bleiben. Von den 84 Bauprojekten der BDEW-Kraftwerksliste sind 15 noch in der Planung. Insgesamt befinden sich viele in Wartestellung, da die Wirtschaftlichkeit nicht gegeben ist. Wie lange noch? Es soll Überlegungen im Bundeswirtschaftministerium und der Bundesnetzagentur geben, Kraftwerke „par ordre de Mufti“ länger laufen zu lassen. Der baden-württembergische Umweltminister will staatlicherseits festlegen, wie viel Leistung gebraucht wird, und diese dann auktionieren. Neues Denken dagegen heißt: Für die Zeit ab 2020 brauchen wir ein Marktdesign, in dem auch die Bereitstellung von Leistung honoriert wird. Heute interessieren sich Finanzinvestoren, wenn überhaupt, vornehmlich für den regulierten Teil des Marktes, für Netze und EEG-Anlagen, aber nicht für den liberalisierten Teil, nicht für die konventionellen Kraftwerke. Wenn regulierte Bereiche für internationale Finanzinvestoren attraktiver sind als freie Märkte – dann ist das immer ein Alarmsignal.

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Die Summe staatlicher Steuern und Abgaben im Strompreis hat sich seit der Liberalisierung im Jahr 1998 verzehnfacht. Die Bundesländer stricken mit an der Illusion staatlicher Machbarkeit. Kleinstaaterei ist die Folge. Schleswig-Holstein will deutscher Exportmeister von Strom aus erneuerbaren Energien werden, Bayern dagegen will autark sein. Bayerischer Strom für bayerische Bürger. Die Finanzierung läuft im einen wie im anderen Fall über die Taschen aller Bürger in Deutschland. Und Europa, der europäische Energiebinnenmarkt ist in

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Streitfragen 02|2012

solchen Momenten ohnehin ganz, ganz weit weg und wird ignoriert. Autarkiedenken ist altes Denken. Neues Denken läuft auf Vernetzung und Abstimmung hinaus. Es muss geklärt werden, wer wie viel Strom produziert und wie man ihn verteilen kann. Wer meint, Überkapazitäten aufbauen zu müssen, sollte sich nicht auf EEG-Umlage und Einspeisevorrang verlassen können. Strompreis-Debatte beginnt erst

Altes und neues Denken auch bei den Strompreisen. Die Summe staatlicher Steuern und Abgaben im Strompreis hat sich seit der Liberalisierung im Jahr 1998 verzehnfacht. Die Stromkunden bezahlen aktuell 23,7 Milliarden Euro an Steuern und Abgaben mit ihrer Stromrechnung, über 14 Milliarden macht die EEG-Umlage aus. Die Bundesregierung bereitet sich jetzt darauf vor, einen weiteren dramatischen Anstieg der EEG-Umlage zu erklären. Die Belastungen für einkommensschwache Haushalte werden zum Thema. Ein alter Reflex darauf ist die Forderung nach Sozial­ tarifen. Das wäre so, als würde man zum Inflationsausgleich nicht den Hartz-IV-Satz erhöhen, sondern die Brotpreise deckeln. Sachsen hat jüngst als Alternative die Senkung der Stromsteuer vorgeschlagen, auf europäisches Mindestniveau, von 20,50 Euro je MWh auf einen Euro – de facto eine Abschaffung. Das setzt zumindest an der richtigen Stelle an. In jedem Fall aber sollte der Finanzminister die Mehrwertsteuer auf die EEG-Umlage im System belassen und zur Finanzierung zentraler Vorhaben einsetzen, die ansonsten die Preise treiben: die Mehrkosten durch eine von vielen geforderte grundsätzliche Erdverkabelung von Übertragungsnetzen etwa oder die Risiken bei der Offshore-Netzanbindung. Gerade Letztere ist ein nationales Projekt, ebenso wie die geplanten „Stromautobahnen“. Die zentralen Elemente des Netzausbauplans sollten deshalb auch aus der Kleinstaaterei gelöst und zentral geplant und koordiniert – und womöglich auch finanziert – werden. Das wäre neues Denken, bei dem man auch nicht gleich die Abschaffung des Föderalismus befürchten muss. Es würde schon viel helfen, wenn sich die Politik auf ihre vornehmste Aufgabe in unserer sozialen Marktwirtschaft besinnen würde: Ziele vorgeben, koordinieren, ausgleichen, wo Verwerfungen entstehen. Steuern, nicht rudern. Und auf den Bundespräsidenten hören.


Netto-Zubau von kraftwerks-kapazitäten 42,5 Gigawatt

Projekte im Bau, genehmigt, im Genehmigungsverfahren oder in Planung

12,6 Gigawatt

davon noch im Genehmigungsverfahren

7,0 Gigawatt

Anlagen ohne oder mit nur geringem Beitrag zur gesicherten Leistung

3,9 Gigawatt

Stilllegungen bis 2020 durch KernenergieAusstieg

? Gigawatt

Kraftwerke, deren Rentabilität unter zukünftigen Rahmenbedingungen fraglich wird

36,1 GW

23,5 GW

16,5 GW

11,1 GW

7,2 GW

1,2 GW

6,4 Gigawatt

davon unsicher (in Planung)

23,5 Gigawatt

Brutto-Zubau mit hoher Verfügbarkeit und hoher Realisierungswahrscheinlichkeit

5,4 Gigawatt

davon an Genehmigungen gebundene Stilllegungsverpflichtungen

?

6 Gigawatt

bis 2017 erwartbare Stilllegungen durch Verschärfung der Emissionsgrenzwerte


Dr. J체rgen Lenz

ist Vizepr채sident des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfachs e.V. (DVGW). Der DVGW versteht sich als technisch-wissenschaftliche Autorit채t der Gas- und Wasserbranche.


Power to Gas – Hoffnungsträger mit Fragezeichen

Die Idee klingt bestechend: Elektrolyse und Methanisierung entlasten das Stromnetz und machen überschüssige Elektrizität aus Wind- und Sonnenkraftwerken speicherbar. Drei Fachleute erklären, was heute getan werden muss, damit Power to Gas morgen funktioniert.

Die Stromeinspeisung aus Windrädern und Solaranlagen übersteigt heute schon phasenweise die Nachfrage, durch den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien dürfte diese Situation immer häufiger auftreten. Was versprechen Sie sich vor diesem Hintergrund von Power to Gas? Dr. Christoph von dem Bussche Strom lässt sich nun mal schlecht aufbewahren, aber synthetisches Methan und in Grenzen auch Wasserstoff können wir in unseren Netzen und Speichern hervorragend lagern. Power to Gas wäre eine mögliche Antwort auf die Speicherproblematik – nicht die Zauberformel, die alle Schwierigkeiten beseitigt, aber ein Baustein des künftigen Energiesystems. Wir verstehen unsere Gasleitungen als große Energieadern quer durch Deutschland, diese Funktion würde durch die Einspeisung von Wasserstoff und Methan weiter gestärkt.

Dr. Jürgen Lenz Strom- und Gasnetze sind komplementär, sie ergänzen sich ganz gut. Über die Konvergenz der Energienetze können viele Probleme der Integration regenerativer Energien gelöst werden. Durch die fluktuierende Einspeisung von Wind und Photovoltaik wird das Stromnetz zunehmend volatil. Das Gasnetz hat eine hohe Flexibilität durch die Kompressibilität des Gases und durch die integrierten großvolumigen Speicher. Die Toleranzbreite im Betrieb ist ja viel größer als beim Strom. Der Reiz liegt darin, ein volatiles und ein flexibles Energiesystem zu kombinieren. Power to Gas ist eine Möglichkeit, die zeitweise entstehenden Stromüberschüsse durch Speicher nutzbar zu machen und sozusagen den Rest des Jahres davon zu leben.

ZUKUNFT DES ENERGIETRÄGERS GAS Streitfragen 02|2012

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Dr. Christoph von dem Bussche

ist Mitglied der Geschäftsführung der GASCADE Gastransport GmbH. Das Unternehmen betreibt in Deutschland ein Fernleitungsnetz von über 2 200 Kilometern Länge.


Martin Heun Die Gas- und Wasserversorgung Fulda baut gerade eine Biogas-Anlage, die wir später als CO2-Quelle für die Herstellung von synthetischem Methan nutzen wollen. Den für die Elektrolyse nötigen Strom werden wir durch Solarzellen und eine Windkraftanlage erzeugen. Dabei stellen wir fest: Es gibt für solche Systeme keine Serientechnik, wir müssen uns herantasten. Und dann sind da noch die Lieferfristen. Trotz dieser Unwägbarkeiten sind wir bereit, in die Power-to-Gas-Technik einen zweistelligen Millionenbetrag zu investieren, und hoffen, dass wir 2014 mit der Methanerzeugung starten können. von dem Bussche Grundsätzlich ist das in der Tat alles bekannte Technologie – Elektrolyse ist nichts Neues, Gasnetze sind nichts Neues. Wir müssen aber schauen, welche Konsequenzen es hat, wenn wir Wasserstoff ins Gasnetz einspeisen. Was passiert bei den Speichern, gibt es Probleme bei den Verdichtern? Das muss erst erprobt werden.

Herr Dr. Lenz, müssen wir mit dem Wasserstoff im Gasnetz wirklich so vorsichtig sein? Lenz Nach dem heutigen Regelwerk ist eine Wasserstoffbeimischung im einstelligen Prozentbereich zulässig. Es gibt aber auch Beispiele für wesentlich höhere Anteile: So hat man in Ostdeutschland vor der Wende das Netz mit aus Kohle hergestelltem Stadtgas betrieben, das enthielt bis zu 50 Prozent Wasserstoff. Nach oben ist also noch Spielraum. Und zu den Speichern: In den USA wird reiner Wasserstoff in Salzkavernen gelagert, das ist Stand der Technik. Einige Porenspeicher in Deutschland wurden in der Vergangenheit schon für wasserstoffreiches Stadtgas genutzt. Wir sind dabei, die Obergrenze für den Wasserstoff im Gasnetz wissenschaftlich systematisch zu ermitteln und nach oben zu verschieben.

Kann denn Deutschland im Alleingang große Mengen Wasserstoff ins Gasnetz pumpen?

» Es ist auch wichtig, die europäische Perspektive zu sehen.« » Noch sind wir First Mover in einem international beachteten Markt.« » Wir brauchen einen Masterplan für den Ausbau.«

Die wichtigsten Prozesse zur Erzeugung von synthetischem Erdgas sind alte Bekannte: Die Elektrolyse kennt wahrscheinlich jeder aus dem Chemieunterricht, die so genannte Sabatier-Methode zur Methanproduktion ist seit über 100 Jahren etabliert. Trotzdem ist Power to Gas bisher über das Stadium von Pilotversuchen nicht hinausgekommen. Woran liegt das?

Lenz Die Signale aus anderen Ländern sind sehr positiv. Großbritannien etwa produziert so viel Windenergie, dass man dort schnell eine Lösung braucht. Die Briten sind forsch und wollen den Wasserstoffanteil im Gasnetz auf zehn Prozent erhöhen. Auch in Holland fließt schon Wasserstoff aus der Elektrolyse in die Gasleitungen. Ich bin sicher, über unsere internationalen Verbände können wir hier gute gemeinsame Lösungen finden.

Wann wird Power to Gas in nennenswertem Umfang eingesetzt werden können? Heun Ich rechne damit, dass Wasserstoff und Methan aus Wind- und Sonnenstrom in signifikanten Mengen erst im Jahr 2030 produziert werden. Denn wir müssen erst mal die Pilotanlagen bauen und optimieren. Wenn die Technik ausgereift ist, können wir sie in größerem Maßstab nutzen. Auf jeden Fall müssen wir heute anfangen. Denn noch sind wir First Mover in einem international beachteten Markt – wie bei Windkraftanlagen. Da ergeben sich neue Exportchancen. Lenz Wenn die Ausbaupläne der Bundesländer realisiert werden, haben wir schon 2020 in Deutschland 150 000 MW installierte Leistung aus erneuerbaren Energien, das entspricht dem Doppelten des durchschnittlichen Stromverbrauchs. Wenn wir dann nicht genügend Speicherkapazität haben, entsteht ein riesiges Hindernis für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Wir dürfen nicht warten, bis das Problem da ist, sondern müssen jetzt das Nötige unternehmen. Wir brauchen einen Masterplan für den Ausbau sowie ein Regulierungsregime – oder besser ein Anreizsystem. Da müssen viele Fragen geklärt werden, etwa wer die Investitionen trägt, wie der Strom für die Elektrolyse bepreist wird und wie die Speicherfunktion honoriert werden soll.

von dem Bussche Es ist auch hier wichtig, die europäische Perspektive zu sehen. Denn unsere Netze sind eng verknüpft, salopp gesagt schieben wir alle dasselbe Gas durch die Leitungen. Hier müssen wir uns auf eine Gaszusammensetzung einigen, die alle europäischen Nachbarn akzeptieren. ZUKUNFT DES ENERGIETRÄGERS GAS Streitfragen 02|2012

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Martin Heun

ist Geschäftsführer der Gas- und Wasserversorgung Fulda GmbH. Die hessische Gesellschaft engagiert sich konsequent für den Klimaschutz und ist als „klimaneutrales Unternehmen“ zertifiziert.


Stichwort Kosten: Wie teuer wird Methan, also synthetisches Erdgas, eigentlich? Heun Das ist noch gar nicht kalkulierbar. Ich könnte mir vorstellen, dass es in etwa so teuer wird wie Biogas, aber das ist im Moment reine Spekulation.

Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass Power to Gas ein Weg zu preiswerterem Gas ist. Das ist meines Erachtens der falsche Ansatz – wir fördern auch Photovoltaik nicht, weil das die günstigste Form der Stromerzeugung ist. Bei der Energiewende geht es um Ziele wie CO2-Vermeidung, einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und nicht in erster Linie um billige Energie. von dem Bussche

Lenz Die Innovations-Offensive des DVGW plädiert für eine ganzheitliche Betrachtung des Zusammenwachsens von Stromund Gasnetzen, der Rückverstromung und der Nutzung von Gas in dezentralen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Dieser integrierte Ansatz macht sichtbar, dass die CO2-Vermeidung durch Power to Gas wesentlich preiswerter zu erreichen ist als durch die momentan diskutierte energetische Sanierung des Gebäudebestands. Wenn wir nämlich regenerativ erzeugten Strom in Gas umwandeln und dieses zum Teil in dezentralen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen nutzen, entsteht viel kostenlose Wärme. Ein volkswirtschaftliches Optimum würde erreicht, indem man dort, wo man diese Abwärme nutzen kann, die energetische Sanierung der Gebäude auf ein erträgliches Maß reduziert. Eine Studie des Forschungszentrums Jülich verweist auf die durch intelligente Sys-

temtechnik möglichen enormen Kosteneinsparungen bei gleichen CO2-Zielen. Wir könnten die Bürger also im Bereich der Gebäude­ sanierung um Milliardenbeträge entlasten. Das muss man berücksichtigen, wenn man die Wirtschaftlichkeit von Power to Gas diskutiert. Mit anderen Worten: Power to Gas könnte sich ohne Subventionen durchsetzen? Heun Meines Erachtens wird das kein Selbstläufer sein, ohne Subventionen wird es nicht gehen. Viele Bürger werden nur auf den Preis sehen. Nicht allen dürfte klar sein, dass Energieproduktion immer mit Herstellungskosten verbunden ist, egal ob dabei grüner oder konventioneller, sozusagen grauer Strom entsteht. von dem Bussche Ich vergleiche das mit der Einführung des bleifreien Benzins in den 80er Jahren. Der durchschlagende Erfolg gelang dem bleifreien Sprit erst, als er billiger war als der herkömmliche Kraftstoff. So wird das auch beim umweltfreundlich erzeugten Strom und bei Power to Gas sein: Den Durchbruch zum Erfolg gibt es nur mit staatlichen Anreizsystemen.

Brücke zwischen Strom- und Gasnetz Unter dem Schlagwort Power to Gas wird die Nutzung regenerativ erzeugten Stroms zur Herstellung von Wasserstoff und – in einem zweiten Schritt – von Methan diskutiert. Produzieren beispielsweise OffshoreWindräder mehr Strom als gerade gebraucht wird, kann mit Hilfe der überschüssigen Elektrizität per Elektrolyse Wasserstoff erzeugt werden. Der lässt sich bis zu einer

gewissen Grenze direkt ins Gasnetz einspeisen. Ist die Grenze erreicht, kann Wasserstoff unter Zugabe von Kohlendioxid „methanisiert“ werden. Das entstehende synthetische Methan ist voll mit herkömmlichem Erdgas kompatibel und kann ohne Einschränkung in vorhandenen Leitungen transportiert sowie in Speichern gelagert werden.

Befürworter von Power to Gas weisen darauf hin, das sämtliche benötigten Technologien vorhanden und erprobt sind. Außerdem gilt das vorhandene Gas-System schon durch sein Volumen als geeignetes Reservoir für große Energiemengen: Allein das deutsche Leitungsnetz ist rund 500 000 Kilometer lang und umfasst zahlreiche große unterirdische Speicher. 15


» Nur mit Gas bleibt die Energiewende finanzierbar.« ›

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Dezentrale, mit Gas betriebene Kraft-Wärme-KopplungsAnlagen leisten einen entscheidenden Beitrag zu einer bezahlbaren Energiewende, meint Dr. Constantin Alsheimer. Zur Finanzierung der Wende plädiert der Manager für eine Art „Energie-Soli“.

Streitfragen 02|2012 ZUKUNFT DES ENERGIETRÄGERS GAS


Herr Dr. Alsheimer, Dezentralität ist eine Leitidee der Energiewende. Wie wichtig ist die dezentrale Erzeugung ihrer Ansicht nach für den erfolgreichen Umbau der Energieversorgung?

Dr. Constantin Alsheimer

ist Vorsitzender der Mainova AG, Frankfurt am Main. Er ist zudem Vorsitzender des Vorstandes des LDEW-Landesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft in Hessen/ Rheinland-Pfalz.

Dr. Constantin Alsheimer

Meines Erachtens kann die Energiewende nur gelingen, wenn wir mehr dezentrale Anlagen bauen. Denn je näher wir Erzeugung und Verbrauch räumlich zusammenbringen, desto weniger ist der kostenträchtige Ausbau der Stromnetze nötig. Daher ist Dezentralität aus meiner Sicht ein entscheidender Hebel, um die Energiewende finanzierbar zu halten. Ich glaube: Die Zukunft wird durch dezentrale Erzeugung geprägt sein. Unterstellen wir, die dezentrale Erzeugung setzt sich tatsächlich durch. Was spricht dafür, die übers Land verteilten kleinen und mittelgroßen Anlagen für die Kraft-Wärme-Kopplung, kurz KWK, ausgerechnet mit Gas zu betreiben? Alsheimer Dafür sprechen praktische und wirtschaftliche Gründe. Gas ist relativ preisgünstig und im Vergleich zu anderen fossilen Brennstoffen klimaschonender. Außerdem können Sie kleinere und mittlere Gaskraftwerke rentabel errichten und betreiben, das ist Voraussetzung für dezentrale Konzepte. Mit Gas lassen sich kleine und mittelgroße Blockheizkraftwerke realisieren, auch für Industriebetriebe. Ein Miniatur-Gaskraftwerk in Form einer Strom produzierenden Heizung passt ja sozusagen in jeden Keller. Mini-Kohlekraftwerke in vergleichbarer Weise gibt es dagegen keine.

Kritiker der Kraft-Wärme-Kopplung weisen darauf hin, dass die ganze Wärme im Sommer gar nicht benötigt wird. Können Sie diesen Einwand entkräften? Alsheimer Heute ist es möglich, mit Wärme nicht nur zu heizen, sondern auch zu klimatisieren. Mainova liefert beispielsweise an die Universität Frankfurt Wärme. Dort nutzt man die Absorptionstechnik, grob gesagt ein umgekehrtes Kühlschrank-

prinzip, um Kälte zu erzeugen. So etwas ist vor allem in Großstädten und Siedlungsschwerpunkten mit einem gut ausgebauten Fernwärmenetz möglich. Das wäre schon mal ein großer Beitrag zum Gelingen der Energiewende. Dezentrale Strom- und Wärmeerzeugung durch Privatleute und Betriebe macht aber die traditionelle Leistung von Versorgungsunternehmen teilweise überflüssig. Wie wollen Sie im Geschäft bleiben? Alsheimer In der Tat muss sich das Geschäftsmodell der Energieversorger ändern. Wir werden nicht mehr nur wie bisher Lieferant sein, wir werden auch Abnehmer sein und mit dem Kunden eng interagieren. Beispielsweise können wir ein Netzwerk dezentraler Anlagen von Kunden intelligent steuern und dadurch einen Mehrwert schaffen. Mainova betreibt derzeit für ein Frankfurter Wohnungsbau-Unternehmen zehn Blockheizkraftwerke, die zu einem virtuellen Kraftwerk zusammengeschlossen sind. Wir steuern dieses System und lassen es zu der Zeit Strom produzieren, wenn der Kunde dafür den höchsten Börsenpreis erzielt. Solche Leistungen sowie der Ankauf des vom Kunden erzeugten Stroms werden neben die Lieferung von Energie treten.

Sie haben eingangs das Thema Kosten angesprochen. Was hat der finanzielle Aufwand für die Energiewende mit der künftigen Rolle von Gas zu tun?

wesentlich günstiger weg als etwa bei der Förderung von Photovoltaik zu den derzeitigen Sätzen. Außerdem brauchen wir beim Gas keinen aufwändigen Ausbau der Übertragungsnetze. Der verstärkte Einsatz von Gas für dezentrale KWK-Anlagen ist aus meiner Sicht der beste Weg, die Kosten der Energiewende zu minimieren. Die werden auch so noch gewaltig sein. Fachleute schätzen die Kosten auf 1,4 Billionen Euro. Das ist dieselbe Größenordnung wie für den Aufbau Ost nach der Wiedervereinigung. Die deutsche Einheit wurde zum großen Teil über Steuern finanziert, Stichwort Solidaritätszuschlag. Wie stellen Sie sich die Finanzierung der Energiewende vor? Alsheimer Auf jeden Fall können wir die Kosten nicht unbegrenzt über Umlagen auf den Strompreis aufschlagen. Das wäre sozial ungerecht und würde die Akzeptanz gefährden, ohne die eine Wende nicht gelingen kann. Denn der Stromverbrauch ist relativ unflexibel. Sozial Schwache können ihn nur begrenzt reduzieren und werden daher prozentual stärker belastet als andere. Wir werden deshalb zu anderen Lösungen kommen müssen. Der heutige Solidaritätszuschlag hat durch die Steuerprogression eine soziale Komponente – so etwas brauchen wir meines Erachtens auch für eine faire, sozial ausgewogene Verteilung der Kosten der Energiewende.

Alsheimer Unter dem Aspekt der CO2-Vermeidungskosten kommen wir mit Kraft-Wärme-Kopplung auf Gasbasis und einem Ausbau der Fernwärme per saldo ZUKUNFT DES ENERGIETRÄGERS GAS Streitfragen 02|2012

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Streitfragen 02|2012 ZUKUNFT DES ENERGIETRÄGERS GAS


Klar zur Wende ›

Für regionale Ferngasgesellschaften sahen viele Experten in der „neuen Gaswelt“ keine Zukunft. Dennoch hat beispielsweise Gas-Union nicht nur überlebt – das Unternehmen erfreut sich bester Gesundheit. Hugo Wiemer erklärt, wie die Gesellschaft den raschen Wandel des Geschäfts für sich nutzen kann.

ZUKUNFT DES ENERGIETRÄGERS GAS Streitfragen 02|2012

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Gas-Union hat 2011 wieder mehr Erdgas verkauft als im Vorjahr – obwohl im Allgemeinen der Gasabsatz sinkt. Zugleich lässt sich eine Verschiebung von der klassischen Vollversorgung hin zur strukturierten Beschaffung beobachten. Wie geht man damit um? Hugo Wiemer Wir haben uns nicht lange mit einem Lamento über die Schwierigkeiten der Systemumstellung und die ständigen Änderungen der Regulierung aufgehalten. Unser Unternehmen ist ja eher mittelständisch und wird auch so geführt – ein kleineres, wendiges Schiffchen eben, mit dem wir Wind und Strömung nutzen können. Wir haben schnell und flexibel auf die Anforderungen des Marktes und der Kunden reagiert und innovative Liefer- und Dienstleistungsprodukte entwickelt. Die sind auf den Bedarf und die Beschaffungskonzepte unserer Kunden – Stadtwerke und Industrie – abgestimmt und werden laufend angepasst. Unsere unabhängige, dezidiert kommunalfreundliche Haltung ist dabei Grundlage eines nachhaltigen Vertrauensverhältnisses zu unseren Stadtwerkekunden. Last but not least sind Know-how, Innovationsstärke, Frische und persönliches Engagement unserer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Voraussetzung unseres derzeitigen Erfolgs.

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Streitfragen 02|2012 ZUKUNFT DES ENERGIETRÄGERS GAS

Der Gasmarkt hat sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt, insbesondere mit Blick auf die veränderten Rollen und Verantwortlichkeiten der Marktakteure, zum Beispiel durch die Entflechtungsvorgaben. Welche Chancen und Risiken bietet dieses neue Umfeld für ein mittleres Unternehmen wie die Gas-Union? Wiemer In der alten Gaswelt waren wir in der Rolle einer regionalen Ferngasgesellschaft, in einer Sandwichposition zwischen den Erdgasimporteuren und den regionalen Verteilern sowie örtlichen Stadtwerken. Kluge Strategen haben uns das baldige Ende prophezeit. Sie haben dabei übersehen, dass wir unsere Wertschöpfung in Richtung Upstream und Downstream ausdehnen und über unser früheres Demarkationsgebiet hinaus aktiv sein konnten. Wir haben uns sehr angestrengt, durch die Regulierung nach „oben“ verlagerte Wertschöpfung durch ein zusätzliches Leistungsspektrum zu kompensieren. Natürlich gibt es auch mehr und neue Risiken. So basiert unser Erfolg zunehmend auf kurzfristigen Geschäften. Portfoliound Risikomanagement sind anspruchsvoller geworden, Kontrahentenausfall- und Marktpreisrisiken müssen wir konsequent beobachten und eingrenzen. Zusätzliche von unseren Kunden gewünschte Produkte sind oft mit höheren Risiken verbunden als in der alten Welt. Die Ergebnisse des Unternehmens sind dadurch weniger planbar geworden.


Hugo Wiemer

ist Geschäftsführer der Gas-Union GmbH. GasUnion beliefert seit rund 50 Jahren lokale Energieversorger und große Industrieunternehmen mit Erdgas. In der britischen Nordsee engagiert sich das Unternehmen auch in der Erdgasförderung.

Wie wirken sich die seit kurzem wieder zunehmenden regulatorischen Eingriffe auf das Gasgeschäft aus? Wiemer Der Weg in Richtung Sozialisierung durch Umlagesysteme wie die Regelenergieumlage und die Konvertierungsumlage engt marktwirtschaftlich orientierte Unternehmen wie unseres immer mehr ein. Wir können so als Optimierungsspezialisten unser Know-how weniger für unsere Kunden und uns selbst im Markt nutzen. Ganz allgemein sind die Atemlosigkeit der Regulierung und die immer schneller aufeinander folgenden regulatorischen Nachjustierungen für alle Marktteilnehmer eine hohe Belastung, die letztlich auch für die Kunden zu Kostennachteilen führt.

Ein stetiges Absinken des Gasverbrauchs einerseits, ein zumindest mittelfristig ansteigender Gasverbrauch andererseits – beide Entwicklungsrichtungen sind denkbar. Wie stellen Sie die richtigen Prognosen? Wiemer Wir gehen davon aus, dass durch die Effizienzsteigerungen bei der Erdgasanwendung in allen Sektoren der spezifische Erdgasverbrauch stetig weiter sinkt. Hier denke ich vor allem an die Entwicklung im Gebäudebestand. Andererseits ist derzeit noch schwer abschätzbar, inwieweit die Energiewende zu mehr Einsatz von Erdgas in Kraftwerken führt. Auch die Marktentwicklung dezentraler Kraft-Wärme-Kopplungs-Konzepte ist nicht leicht einzuschätzen. Ich bin hier aber optimistisch. Wir fördern dieses Segment als Unternehmen unter anderem mit Zuschüssen an unsere Kunden. Wir unterstützen den Bau einer Mikro-KWKAnlage mit bis zu 2 000 Euro.

Grundsätzlich müssen wir Prognosen ständig überprüfen und das Portfolio ständig anpassen. Das ist für uns nichts Neues. Wir haben in Know-how und Prognosesysteme investiert und bieten die Prognose unseren Kunden auch als separate Dienstleistung an. Unsere Chance: Die zunehmend marktnahe Beschaffung unserer Kunden erzeugt einen Bedarf für Produkte, mit denen Handelsund Dienstleistungsunternehmen wie Gas-Union das Risiko der Mengenschwankung übernehmen. Wie schätzen Sie die zukünftige Rolle von Speicherprodukten angesichts eines immer stärker kurzfristig ausgerichteten Marktes ein? Wiemer Struktur und Flexibilität werden in Lieferangeboten derzeit am Markt nicht voll eingepreist. Das Energiekonzept der Bundesregierung läuft aber darauf hinaus, dass in Zukunft immer mehr Regelleistung erforderlich sein wird. Und wir brauchen innovative mittelbare Speichersysteme für regenerativ erzeugten Strom, etwa Power to Gas. Deshalb werden mittelfristig auch Strukturierungs- und Flexibilisierungsdienstleistungen und damit die Erdgasspeicher entsprechend ihres Beitrages wieder angemessen bewertet werden. Wir haben daher in jüngster Zeit – gegen die allgemeine Markteinschätzung – in Speicherkapazitäten investiert. Grundsätzlich ist es für uns wichtig, darüber hinaus neue Lösungen durch Produkte anzubieten, die vom physikalischen Speicher losgelöst sind, unter anderem über den Speicherpool.

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ERDGAS: SIchER VERSORGT 4

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Dr. Heinz Riemer

ist Leiter Gaspolitik bei der E.ON AG und Vorsitzender der BDEW-Projektgruppe „Versorgungssicherheit/Gaswirtschaft – nationale Umsetzung“.

Im Februar dieses Jahres war die Gasversorgung in Süddeutschland zeitweise angespannt. Trotzdem musste kein Haushalt auf Gas verzichten. Dr. Heinz Riemer von der E.ON AG erklärt, wie der Engpass entstand und welche Lehren daraus zu ziehen sind. Die wichtigste Botschaft zur Gasliefersituation im Februar 2012 lautet: Trotz der sehr kalten Temperaturen in Deutschland konnten alle Haushaltskunden zu jedem Zeitpunkt zuverlässig mit Erdgas versorgt werden. Der vergangene Winter hat aber auch gezeigt, dass aufgrund veränderter politischer und regulatorischer Rahmenbedingungen Verbesserungspotenzial in einzelnen Punkten besteht, um auch in Zukunft ein vielfältiges marktorientiertes Instrumentarium zur sicheren Belieferung der Verbraucher auch in außergewöhnlichen Situationen nutzen zu können. Im Nachgang zur Versorgungssituation im Februar 2012 hat der BDEW wertschöpfungsstufenübergreifend eine umfangreiche Analyse des Verlaufs und der vielfältigen Einflussfaktoren vorgenommen sowie daraus Handlungsempfehlungen zur Optimierung einzelner Aspekte (Rahmenbedingungen Regulierungs- und Bilanzierungsregime, Behebung von Kapazitätsengpässen, Umgang mit zunehmender Korrelation von Strom- und Gasversorgungssicherheit) abgeleitet.

Reduziertes Angebot, rekordverdächtige Nachfrage

Die Analyse zeigt, dass die angespannte Versorgungssituation im süddeutschen Raum in der ersten Februarhälfte 2012 wesentlich durch eine flächendeckende und andauernde Kältewelle von Russland bis Westeuropa ausgelöst wurde. Diese Kältewelle ging einher mit hohen bzw. zum Teil historisch höchsten Gasabsätzen an Letztverbraucher und mit entsprechenden Höchstauslastungen in nachgelagerten Netzen. Hinzu kam eine zeitweise Reduzierung der Bereitstellung von russischem Erdgas an den Grenzübergangspunkten Waidhaus und Frankfurt/Oder. Durch Anwendung vielfältiger Maßnahmen konnte diese Versorgungssituation stabilisiert und die Versorgung der Haushaltskunden zu jedem Zeitpunkt gewährleistet werden. Dazu gehörten insbesondere Maßnahmen wie die Maximierung von Erdgastransporten von Nord- nach Süddeutschland, der Rückgriff auf unterbrechbare Kapazitätsverträge mit nachgelagerten Netzbetreibern auf vertraglicher Basis, der Ein-

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satz interner und externer Regelenergie, die Nutzung kontrahierter Lastflusszusagen, die erhöhte Ausspeicherung aus Erdgasspeichern sowie die Nutzung unterbrechbarer Lieferverträge mit Industriekunden auf vertraglicher Basis. In Deutschland insgesamt bestand zu keinem Zeitpunkt ein Problem bei der mengenmäßigen Versorgung des Erdgaskunden. Vielmehr standen im genannten Zeitraum durch diversifizierte Lieferquellen und Transportwege, liquide Handelsplätze sowie gut gefüllte Erdgasspeicher insgesamt gesehen ausreichende Erdgasmengen zur Verfügung. Stabile Ausgangslage

Die Marktmechanismen wie zum Beispiel die Nachfrage und das Angebot an Regelenergie an der EEX und an den virtuellen Handelspunkten der Marktgebiete Net Connect Germany (NCG) sowie GASPOOL haben funktioniert. Dies zeigen entsprechende Signale wie ein steigendes Regelenergievolumen sowie steigende Preise an den Handelspunkten. Die Erfahrungen im Februar 2012 haben gezeigt, dass der Erdgasversorgung in Deutschland die sehr gute Ausgangslage und die vielfältigen privatwirtschaftlichen Vorkehrungen zugutekamen, die von den Erdgasunternehmen in der Vergangenheit im Interesse eines hohen Grads an Versorgungssicherheit getroffen wurden. Dazu gehören insbesondere: deutschen Unternehmen beziehen Erdgas aus Die vielen Bezugsquellen und über verschiedene Transportwege, um ihre Kunden auch beim Ausfall eines Lieferanten oder einer Pipeline weiterhin zuverlässig versorgen zu können. Zwei Drittel des Erdgases stammen aus heimischen und westeuropäischen Quellen wie zum Beispiel aus Norwegen (26 Prozent), den Niederlanden (20 Prozent) und aus heimischer Produktion (13 Prozent). Rund ein Drittel des Erdgasbedarfs wird durch russische Produzenten gedeckt.

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Deutschland verfügt mit einem Gesamtspeichervolumen von etwa 21 Milliarden Kubikmetern Arbeitsgas und 47 unterirdischen Erdgasspeichern über das größte Erdgasspeichervolumen Europas. Dies entspricht rund einem Viertel des deutschen Erdgasverbrauchs pro Jahr. Zunehmend liquide Handelsplätze in Deutschland und Europa erhöhen die Verfügbarkeit von Erdgas. Versorgungssicherheit im neuen Marktumfeld

Im Ergebnis bleibt jedoch auch festzuhalten, dass sich die politischen und regulatorischen Rahmenbedingungen in den letzten Jahren erheblich verändert haben. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang zum einen die Beschlüsse der Bundesregierung zur beschleunigten Energiewende aus dem Jahr 2011. Aufgrund des Moratoriums für sieben Kernkraftwerke gewinnen Gaskraftwerke mit Blick auf die Stromversorgungssicherheit erheblich an Bedeutung. Diesem Aspekt muss zukünftig von allen Beteiligten – Politik, Regulierungsbehörden und Unternehmen – ein deutlich höherer Stellenwert beigemessen werden. Erforderlich ist deshalb die Untersuchung der Abhängigkeiten Strom/Gas aus Netz- und aus Marktsicht sowie die Überprüfung des Einflusses von bestehenden Gesetzen auf die Reaktion und das Zusammenspiel der Marktteilnehmer. In diesem Zusammenhang sollte auch untersucht und geklärt werden, wie mit potenziell „systemrelevanten“ Kraftwerken umgegangen wird, um Marktverzerrungen zu vermeiden. Zum anderen haben sich durch verschärfte Entflechtungsvorschriften, die Weiterentwicklung des Bilanzierungsregimes und die Zusammenlegung von Marktgebieten die Spielregeln für die Unternehmen verändert – auch oder gerade in einer angespannten Situation tritt zu Tage, dass es hier nachjustiert werden muss. Ein „integriertes“ Management ist nicht mehr


In Deutschland insgesamt bestand zu keinem Zeitpunkt ein Problem bei der mengenmäSSigen Versorgung des Erdgaskunden. möglich. Hier müssen neue Kommunikationswege und Instrumente gefunden bzw. bestehende Regelungen angepasst werden. Deutlich wird dies zum Beispiel bei der Bereitstellung lokaler Regelenergie, die von entscheidender Bedeutung für die Versorgungssicherheit ist. Das derzeitige Bilanzierungsregime bietet keine umfassende Transparenz zum Systemzustand und zum lokalen Regelenergiebedarf. Deshalb sollte geprüft werden, wie bestehende Prozesse diskriminierungsfrei optimiert und gleichzeitig wirtschaftliche Anreize für die Händler zur Bereitstellung gesetzt werden können. Gleiches gilt für die kurzfristige Bereitstellung von Lastflusszusagen. Nicht zuletzt hat die Situation im Februar 2012 auch gezeigt, dass im Rahmen des gegenwärtigen Regulierungsregimes Instrumente zur Versorgungssicherheit, die in der Vergangenheit eingerichtet und zum Teil noch genutzt werden konnten, nicht in ausreichendem Maß anerkannt werden. Diese für die Versorgungssicherheit wichtigen Instrumente sollten in der regulatorischen Praxis durch die Regulierungsbehörden zukünftig wieder verstärkt anerkannt werden. Dies gilt sowohl für Speicheranlagen in nachgelagerten Netzen (zum Beispiel Röhren- oder Kugelspeicher) als auch unterbrechbare Verträge zwischen Ausspeisenetzbetreibern und Letztverbrauchern.

Konkrete Vorschläge

Wir werden mit Blick auf mögliche Optimierungspotenziale im Bilanzierungs- und Regulierungsregime sowie im Ordnungsrahmen zur Strom- und Gasversorgungssicherheit in Abstimmung mit Politik und Behörden konkrete Vorschläge erarbeiten. Es ist nicht zuletzt eine Bringschuld der Branche gegenüber der Politik, Lösungen zu entwickeln und vorzuschlagen. Dies auch deshalb, um ein weiteres Drehen an der Regulierungsschraube möglichst zu verhindern.

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Dr. Jürgen Tzschoppe sieht den Bau neuer Gaskraftwerke als einen von mehreren Wegen, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Er verlangt eine unvoreingenommene Prüfung der Alternativen und will die Entscheidung über den richtigen Mix dem Markt überlassen. „Wenn wir in Deutschland nicht schnellstens neue Gaskraftwerke bauen, gehen bald die Lichter aus.“ Diese Annahme beherrscht die Diskussion über die Frage, wie viele Kraftwerke und speziell GasKraftwerke Deutschland braucht. Aber die These ist falsch und führt den Verbraucher in die Irre. Die meisten Fachleute sind sich einig, dass bis 2020 ausreichend Stromerzeugungskapazität zur Verfügung steht. Doch irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem alte Anlagen ersetzt werden müssen. Ohne Frage brauchen wir zuverlässige sowie leistungsfähige Systeme, die einspringen, wenn Sonnen- und Windkraftwerke keinen Strom liefern. Aus meiner Sicht ist aber bisher offen, welche Erzeugungstechnologie hier die richtige ist. In Deutschland schaut man einseitig auf neue Gaskraftwerke und blendet die Alternativen weitgehend aus. Natürlich ist der Bau von Gaskraftwerken eine Möglichkeit, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Er ist aber nicht notwendigerweise der beste Weg zu einem effizienten System und vertretbaren Energiekosten für den Endverbraucher. Netzausbau, Speicher und Lastmanagement

Wir sollten die folgenden Alternativen zum Neubau von Gaskraftwerken unvoreingenommen prüfen. Da ist zunächst der Ausbau der internationalen Netze. Dieser Schritt würde es ermöglichen, Kraftwerke in anderen Ländern „anzuzapfen“, etwa in Skandinavien. Die Erzeugungsanlagen dort könnten bei Bedarf Abhilfe leisten. Eine zweite Alternative besteht im Ausbau von Speicherkapazität, beispielsweise in Form von Pumpspeicherkraftwerken. Die dritte Option ist Lastmanagement, auch bekannt als Demand Side Management. Dieses erlaubt Eingriffe auf der Verbrauchsseite, um bei geringerem Stromangebot den Bedarf zu reduzieren. Der Neubau von Kraftwerken und die genannten Alternativen stehen in Konkurrenz zueinander – langfristig muss der Markt entscheiden, welcher Mix der richtige ist. Das kann nicht politisch vorgegeben werden. Ich plädiere außerdem dafür, die Frage nach der Zahl der benötigten Kraftwerke im europäischen Kontext zu beantworten. Die nationale Betrachtung führt unter Umständen dazu, dass jedes Land seine eigenen Reserven aufbaut. Summa summarum entstünde dadurch ein heillos überdimensioniertes – und kaum finanzierbares – System. Zwar sind große Gaskraftwerke vergleichsweise günstig zu errichten: Eine Anlage mit 450 MW kostet

derzeit alles in allem rund 350 Millionen Euro. Dennoch muss jeder Investor darauf vertrauen können, dass er eine angemessene Verzinsung seines Kapitals erhält. Wenn ein Kraftwerk nur wenige Tage im Jahr laufen kann, sehe ich hier ein großes Fragezeichen. Verschlechterte Rahmenbedingungen

Die gegenwärtige Marktentwicklung ist für Investoren tatsächlich sehr dramatisch. Statkraft betreibt eine der modernsten europäischen Flotten, aber es gelingt bei den hohen Gaspreisen noch nicht einmal mit hocheffizienten Kraftwerken, die Fixkosten zu erwirtschaften, geschweige denn die Abschreibung. Wir haben im letzten Jahr eine hohe Sonderabschreibung auf unsere Neuanlagen tätigen müssen. Momentan sind wir eher gezwungen, uns mit der Frage der Auslastung unserer alten und neuen Anlagen zu befassen als mit zusätzlichen Investitionen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Ruf nach Neuinvestitionen geradezu absurd. Statkraft hat in Emden ein älteres Gaskraftwerk stillgelegt, weil wir keine Aussicht hatten, die Anlage rentabel zu betreiben. Die Ersatzinvestition haben wir zurückgestellt, weil bei den aktuellen Gas- und Strompreisen ein Neubau an diesem Standort wirtschaftlich keinen Sinn ergibt. In Hürth-Knapsack erweitern wir zwar eine bestehende Anlage – doch dieses Projekt haben wir in besseren Zeiten begonnen. Heute würden wir uns damit vermutlich schwerer tun. Jeder Investor muss genau prüfen, ob er unter den aktuellen Rahmenbedingungen ein neues Gaskraftwerk mit einer Lebensdauer von mehreren Jahrzehnten errichten kann. Die Politik täte gut daran, bei der Umsetzung der Energiewende auf weitere überhastete „Übernachtaktionen“ zu verzichten und neue Regeln handwerklich sauber zu gestalten. Alles andere birgt die Gefahr, Investoren dauerhaft zu verschrecken. Dr. Jürgen Tzschoppe

ist Geschäftsführer der Statkraft Markets GmbH, einer Tochtergesellschaft des norwegischen Staatsunternehmens Statkraft. Unter anderem baut und betreibt der Konzern Wasser-, Wind-, Gas- und Fernwärmekraftwerke. Statkraft beschäftigt etwa 3 400 Mitarbeiter in über 20 Ländern.

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» Weltweit wächst kein Energieträger so stark wie Erdgas.«

Die Vorteile von Erdgas überzeugen Investoren weltweit. Doch staatliche Regulierung könnte den Siegeszug des Energieträgers bremsen, warnt Paul Betts von ExxonMobil.

Wie schätzen Sie die Zukunft von Erdgas im globalen Strommarkt ein, wenn Strom zunehmend aus erneuerbaren Energien gewonnen wird?

Im vergangenen Jahr haben Sie einen Informations- und Dialogprozess zum Thema Fracking ins Leben gerufen. Wie bewerten Sie die Ergebnisse?

Paul Betts Die Rolle von Erdgas wird häufig unterschätzt. Weltweit wächst kein Energieträger so stark wie Erdgas. Die Nachfrage nach Erdgas wird bis 2040 gegenüber 2010 um etwa 60 Prozent zulegen. Hauptgrund dafür ist der zunehmende Einsatz von Erdgas in der Stromerzeugung. Dieses wird helfen, die CO2-Minderungsziele zu erreichen, da Erdgas bis zu 60 Prozent weniger CO2 emittiert als Kohle.

Betts Wir produzieren seit über 50 Jahren Erdgas in Deutschland und fördern zurzeit aus 230 Bohrungen in Niedersachsen. Hydraulic Fracturing, das sogenannte Fracking, kommt seit den 1960er Jahren zum Einsatz, bisher über 300-mal. Ein Drittel der heutigen Erdgasproduktion geht auf Fracking zurück. Was nun geschieht, ist, dass wir diese bewährte Methode auch in unkonventionellen Lagerstätten, also Schiefergas- und Kohleflözgaslagerstätten, zum Einsatz bringen. Dies hat zu einer Vielzahl von Fragen aus dem Erkundungsgebiet im Süden Niedersachsens und im Norden Nordrhein-Westfalens geführt. Nach rund einem Jahr Recherche kommt der Kreis unabhängiger Experten zu dem Ergebnis, dass keine Umwelt- oder Risiko­ aspekte im Grundsatz gegen die Erkundung und Gewinnung von Erdgas aus unkonventionellen Lagerstätten sprechen. Das gilt ausdrücklich auch für das Hydraulic-Fracturing-Verfahren und auch unter der Annahme, dass der Trinkwasserschutz Vorrang vor der Energiegewinnung hat. Der Expertenkreis definiert allerdings Ausschlussgebiete für Fracking, etwa in Kohlebergbaugebieten oder in Gebieten mit besonders kritischen tektonischen Spannungen. Dort werden wir keine Frac-Maßnahme durchführen.

Welche Marktsignale sehen Sie für zusätzliche Kapazitäten aus der Stromerzeugung mit Gas? Betts Wir sind davon überzeugt, dass Investoren sich in einem offenen, unregulierten Markt, in dem alle Energieformen in einem fairen Wettbewerb zueinander stehen, für Gaskraftwerke entscheiden würden. Hauptanreize aus Investorensicht sind dabei geringe Investitionsvolumen für Gaskraftwerke und die Netzanbindung, die Verfügbarkeit von Erdgas aus vielfältigen Bezugsquellen, vergleichsweise kurze Bauzeiten, die flexiblen Einsatzmöglichkeiten und geringere CO2-Emissionen. In der Realität aber gibt es weltweit regulatorische Eingriffe in den freien Wettbewerb, unter anderem getrieben durch das politische Ziel, CO2-Emissionen zu reduzieren. Diese Eingriffe führen zu im Ausmaß wahrscheinlich nicht beabsichtigten Konsequenzen: Die Subventionen für die Stromerzeugung mit erneuerbaren Energien steigen stark, die Kosten für die Integration von erneuerbaren Energien in das deutsche Stromnetz sind signifikant und zugleich nehmen Anreize für Investitionen in die sichere Stromerzeugung mit Erdgas ab.

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Streitfragen 02|2012 ZUKUNFT DES ENERGIETRÄGERS GAS

Die Position des BDEW zu Gas aus unkonventionellen Lagerstätten finden Sie auf www.bdew.de

Paul Betts

ist Manager Europe Gas Marketing bei ExxonMobil. Die ExxonMobil Corporation mit Sitz im US-Bundesstaat Texas ist die größte börsennotierte Öl- und Gasgesellschaft weltweit.


» Erdgas bleibt für Deutschland unverzichtbar.«

Erdgas hat gute Chancen, auch künftig eine wichtige Rolle zu spielen. Am Ende muss aber der Markt entscheiden, in welchem Umfang es sich durchsetzt, meint Stefan Kapferer.

Welche Rolle kann Erdgas als fossiler Energieträger mit den geringsten spezifischen CO2-Emissionen bei der Energiewende spielen, wenn Strom künftig aus erneuerbaren Energien erzeugt werden soll? Was plant die Bundesregierung? Stefan Kapferer Als klimaschonendster fossiler Energieträger hat Erdgas im Wettbewerb gute Chancen. Die vielseitige Einsetzbarkeit von Erdgas in den Bereichen Stromerzeugung, Wärme und Mobilität macht diesen Energieträger interessant und unverzichtbar. Erdgas wird daher eine wichtige Brückenfunktion auf dem Weg in das Zeitalter der regenerativen Energien zukommen. In welchem Umfang sich Erdgas durchsetzt, kann aber nicht Gegenstand einer politischen Entscheidung sein, sondern bleibt dem Markt überlassen. Es werden sich die Energieträger durchsetzen, die klimafreundlich sind, deren Preis stimmt und deren zuverlässige Verfügbarkeit sichergestellt ist.

Konventionelle Kraftwerke sind auch in einem Stromversorgungssystem mit dominierender Erzeugung aus erneuerbaren Energien als Backup unverzichtbar. Wie will die Bundesregierung den Bestand vorhandener Gas- und Kohlekraftwerke sichern und den notwendigen Ausbau anreizen? Kapferer Der Bau von Kraftwerken soll auch weiterhin in unternehmerischer Verantwortung bleiben. Das Bundeswirtschaftsministerium hat auf der vergangenen Sitzung des Kraftwerks­ forums am 20.4.2012 daher einen Dialog über die Zukunft unseres Stromgroßhandelsmarktes begonnen. Das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln (EWI) hat dort ein Gutachten

zum Strommarktdesign vorgestellt. Alle im Kraftwerksforum vertretenen Länder und Verbände sind aufgefordert, bis zum August dieses Jahres zu diesem Thema im Allgemeinen und zu den Modellen, die das EWI-Gutachten diskutiert, im Einzelnen Stellung zu beziehen. Das Bundeswirtschaftsministerium wird auf Grundlage auch dieser Stellungnahmen einen zusammenfassenden Bericht erstellen, der auf dem kommenden Kraftwerksforum im Herbst vorgestellt und diskutiert werden soll. Welchen Stellenwert misst die Bundesregierung der Gewinnung von Gas aus unkonventionellen Lagerstätten bei? Kapferer Die konventionelle Gasproduktion ist in Deutschland rückläufig. Unkonventionelles Erdgas kann diesen Rückgang kompensieren und damit einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten, die Importabhängigkeit reduzieren und zur Sicherung des deutschen Wirtschaftsstandortes beitragen. Deshalb sind die Exploration und die Gewinnung von unkonventionellem Erdgas bei der Einhaltung von hohen Umwelt- und Sicherheitsstandards eine Option. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie nimmt aber auch die Bedenken sehr ernst, die im Hinblick auf den Einsatz der Fracking-Technologie bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas geäußert werden. Es wird deshalb derzeit geprüft, inwieweit die geltenden Regelungen über die Umweltverträglichkeitsprüfung bergbaulicher Vorhaben einer Änderung bedürfen. Stefan Kapferer

ist beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie.

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» Wir brauchen die Anerkennung von Forschungskosten.«

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Zielgerichtete Forschung kann der Energiewende Impulse für intelligente Lösungen geben. Doch ohne entsprechende Anreize wird zu wenig geforscht, warnt Dr. Jörg Hermsmeier.

Streitfragen 02|2012 FOKUS ENERGIEWENDE


Dr. Jörg Hermsmeier

leitet die Abteilung „Forschung und Entwicklung“ bei der EWE AG und ist Vorsitzender des BDEW-Lenkungskreises Innovation / F&E.

Die Energiewende bedeutet mehr Dezentralität, mehr Marktteilnehmer und mehr erneuerbare Energien. In welchen Bereichen wird sich bei den Energieversorgern am meisten ändern müssen, und wo liegen dort die Forschungsschwerpunkte? Die Verteilnetzbetreiber werden mehr Systemverantwortung übernehmen und damit mehr Werkzeuge benötigen, um einen stabilen vorausschauenden Netzbetrieb zu gewährleisten. Auf dem Weg zum intelligenten Netz führt die Informations- und Kommunikationstechnologie zu effizienten Lösungen, zum Beispiel durch Kurzfristprognosen und automatisierte Ablaufprozesse, um die Betriebsmittel bei volatiler Einspeisung optimal auszulasten. Welche Rolle darin Speicher übernehmen, ist bis dato eine Forschungsfrage und wird teilweise durch kostengünstigere Lösungen wieder in Frage gestellt. Um im Wettbewerb bestehen zu können, muss man sich im Markt differenzieren. Daher liegen für den Vertrieb die Forschungsschwerpunkte im Kontext der Bedürfnisse des Kunden. Im Geschäftskundenbereich ist das Potenzial des Lastmanagements und der virtuellen Kraftwerke noch vielfach ungenutzt, während im Privatkundenbereich der Komfortnutzen durch Smart-Home-Anwendungen im Vordergrund steht, dies geht hin bis zur Integration von Elektromobilität. Die Kunden sehen den Energieversorger auch hier als einen Systemintegrator, der ihnen Transparenz, Beratung und Dienstleistungen anbietet. Dr. Jörg Hermsmeier

Welchen Stellenwert nehmen Forschung und Entwicklung bei den Energieversorgern ein? Hermsmeier Energieversorger orientieren sich an der anwendungsbezogenen Forschung, die in einem vorwettbewerblichen Umfeld das technologische Potenzial und die Marktchancen untersucht. Der E-Energy-Wettbewerb von BMWi und BMU brachte einen starken Impuls für die Energieforschungs-Landschaft. Aus dem daran beteiligten EWE-Projekt eTelligence sind innerhalb kurzer Zeit kommerzielle Produkte entstanden, wie beispielsweise der intelligente Lastmanager für Kühlhäuser. Weiterhin wurde bei allen sechs an E-Energy teilnehmenden Modellregionen die Einführung standardisierter Datenprotokolle als dringlich und notwendig erachtet. Forschung und Entwicklung eröffnet die Möglichkeit, Wissen und Erkenntnisse über das eigene Branchenwissen hinaus in neue Richtungen auszuweiten. Energieversorger, die in ihre Marktbeobachtung die Forschung und Entwicklung einbeziehen und einen strukturierten Innovationsprozess im Unternehmen durchlaufen, sind am Ende schneller und erfolgreicher im Markt aktiv. In Demonstrationsvorhaben arbeitet die Forschung und Entwicklung mit Zulieferfirmen in Kooperation, um angepasste und effizientere Lösungen zu entwickeln. Dies bringt im Nachgang Kostenvorteile für die operativen Abteilungen.

Innovationsforschung braucht die richtigen Anreize. Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr ihr neues Energieforschungsprogramm vorgelegt. Was erwarten Sie von der Bundesregierung im Rahmen Ihrer Forschungspolitik? Hermsmeier Wir erwarten eine klare Koordination der Ressorts, wie etwa bei den gemeinsamen Förderinitiativen, um dem Systemansatz als übergeordnetem Leitmotiv zu folgen. Der BDEW hat in seinem Positionspapier zur Energieforschungspolitik deutlich gemacht, dass die Energieforschung die Aufgabe hat, einerseits möglichst breit gefächert existierende Techniken weiterzuentwickeln und marktfähig zu machen sowie andererseits über Grundlagenforschung neue Optionen zu erschließen. Eine zentrale Forderung stellt die Anerkennung von Kosten für Forschung, Entwicklung und Markteinführung im System der Anreizregulierung dar. Fehlen den Energienetzbetreibern die entsprechenden Anreize, Forschung und Entwicklung betreiben und neue Technologien einführen zu können, dann werden wichtige, für die Energiewende notwendige Innovationen nicht zur Verfügung stehen. Einen weiteren wichtigen Punkt bildet die Koordinierung auf europäischer und internationaler Ebene durch eine stärkere Vernetzung. Die unterschiedlichen regionalen Voraussetzungen für einen effizienten Einsatz der Energietechnologien spiegeln sich auch in den jeweiligen Forschungsprogrammen der Staaten wider.

FOKUS ENERGIEWENDE Streitfragen 02|2012

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Drei Fragen an Matthias Jung

01 Welchen Stellenwert hat das Thema Energie aktuell für die Bundesbürger? Generell setzt sich der allergrößte Teil der Bevölkerung nicht sonderlich intensiv mit der Energiepolitik auseinander. Eine breitere Betroffenheit war seit langem nur bei der Ablehnung der Atomenergie erkennbar – auch schon vor Fukushima. Die höchste Betroffenheit größerer Bevölkerungskreise wird regelmäßig durch Energiepreiserhöhungen erreicht. Die Bevölkerung erwartet, dass Energie störungsfrei zur Verfügung steht. Nach wie vor gehen drei Viertel der Deutschen von einer langfristig gesicherten Stromversorgung aus. Ähnliches gilt für die Gasversorgung. Was die Energiewende angeht, haben die meisten kein realistisches Bewusstsein für die Komplexität des Umbauprozesses und für das relativ zögerliche Anlaufen der infrastrukturellen Anpassungen. Gerade

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Streitfragen 02|2012 FOKUS ENERGIEWENDE

bei diesem Prozess laufen die Energieversorgungsunternehmen Gefahr, dass der Vorwurf, es werde nicht genug in neue Anlagen und Netze investiert, letztlich sie trifft. Bereits heute, wo Engpässe in der Versorgung für eine breite Öffentlichkeit noch nicht wirklich sichtbar geworden sind, meinen nur Minderheiten, dass die Energieversorgungsunternehmen genügend Geld ausgeben für neue Kraftwerke, den Ausbau erneuerbarer Energien und des Stromnetzes.


Matthias Jung

ist Mitglied des Vorstands der Forschungsgruppe Wahlen e.V. Der Verein ist vor allem durch die Begleitung der ZDF-Wahlsendungen bekannt. Außerdem erstellt die Forschungsgruppe den BDEW-Energiemonitor, der seit 1996 jährlich ein bundesweit repräsentatives Meinungsbild liefert.

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Wenn die Energiewende haken sollte – wer trägt aus Sicht der Bürger die Verantwortung?

Was sind aus Sicht der Bürger die kritischen Punkte bei der Energiewende?

Wenn wir explizit fragen, ob letztlich die Politik oder die Energieversorger für die Energiewende verantwortlich sind, wird ganz eindeutig der Politik die entscheidende Verantwortung zugewiesen. Allerdings sollte sich kein Energieversorger der Illusion hingeben, er könne ungeschoren davonkommen, wenn erhebliche Probleme auftreten. Die Bewältigung der Energiewende dürfte in erheblichem Maße das Image der Branche bestimmen. Der Bürger denkt: Die Stromversorger sind dafür zuständig, dass der Strom zuverlässig aus der Steck­dose kommt, schließlich bezahle ich einen hohen Preis. Trotz der allgemeinen Imageprobleme der Branche stimmt derzeit eine überwältigende Mehrheit der Befragten der Aussage „Mein Stromversorger steht für eine zuverlässige Stromversorgung“ zu. Die Branche muss ein elementares Interesse haben, dass daran kein Zweifel aufkommt.

Die große Mehrheit der Bevölkerung hält die Energiewende, verstanden als Substitution konventioneller Energieträger durch regenerative, grundsätzlich für sehr wichtig oder wichtig. Vorteile aus der Energiewende werden dabei in erster Linie für den Wirtschaftsstandort Deutschland wahrgenommen oder erhofft. Für sich selbst geht ein großer Teil der Bevölkerung eher von persönlichen Nachteilen oder einer unveränderten Situation aus. Eine deutliche Mehrheit erwartet steigende Strompreise. Obwohl in der öffentlichen Debatte sehr oft die Rede war von einem steigenden Stromimport als Folge des Atomausstiegs, wird diese Befürchtung nur von wenigen geteilt. Fast genauso viele erwarten sogar eine Zunahme des Stromexports.

FOKUS ENERGIEWENDE Streitfragen 02|2012

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Streitfragen 02|2012 FOKUS ENERGIEWENDE


» Das Handelssystem wird die vereinbarten Emissionsminderungen erbringen.«

2011 hat sich der CO2-Ausstoß der EU-Mitgliedsländer verringert. Bedroht diese eigentlich erfreuliche Tatsache das Herzstück der europäischen Klimapolitik, den Handel mit Verschmutzungsrechten? Connie Hedegaard, KlimaKommissarin der EU, rät zur Gelassenheit.

Connie Hedegaard

ist als Mitglied der EU-Kommission für die Klima­politik der Europäischen Union zuständig.

FOKUS ENERGIEWENDE Streitfragen 02|2012

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» Zögern wird den Übergang nicht billiger oder einfacher machen.«

In der Energiebranche ist der Emissionshandel seit längerem heftig in der Kritik. E.ON-Chef Johannes Teyssen etwa forderte schon mehrfach einen kompletten Neuanfang. Der europäische Emissionshandel sei sehr krank, sagte er. Ohne schnelle Therapie werde er sterben. Im Vergleich zum Vorjahresquartal ist der Preis je Tonne Kohlendioxid in den ersten drei Monaten dieses Jahres um rund 50 Prozent unter die Marke von sieben Euro gefallen. Experten gehen davon aus, dass die Preise sogar noch deutlich weiter nachgeben werden. Ist die Sorge berechtigt? Connie Hedegaard Es ist wichtig, die Dinge im richtigen Verhältnis zu betrachten. Das EU-Emissionshandelssystem ETS hat zu einem liquiden Markt für Verschmutzungsrechte und damit zu Emissionsminderungen geführt. Als Resultat der Novellierung aus dem Jahr 2008 wird das EU-Emissionshandelssystem in seiner Funktionsweise ab dem nächsten Jahr zudem erheblich verbessert werden. Beispielsweise wird das Problem der Mitnahmeeffekte im Stromsektor mit der Einführung von Auktionierungen der Vergangenheit angehören. Grund für die erhebliche Abschwächung der Preissignale ist zweifellos die anhaltend schwere Wirtschafts- und Schuldenkrise, die für den Rest dieses Jahrzehnts dauerhafte Auswirkungen auf das EU-ETS haben wird und neue Überlegungen zum zeitlichen Rahmen der Auktionen bis 2020 erfordert. Während der Preis an sich kein Selbstzweck im EU-ETS ist, gilt dies jedoch

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für Innovationen. Ich glaube, diese Sorge teilt auch Herr Teyssen, Vorstandsvorsitzender der E.ON AG. Bei der Eurelectric-Jahreskonferenz am 4.6.2012 betonte er, dass er das ETS für das Schlüsselinstrument halte. In einer inoffiziellen Umfrage bei dieser Konferenz sprachen sich deutlich mehr Teilnehmer für das ETS als entscheidendes Instrument aus als im letzten Jahr, als mehrheitlich eine CO2-Steuer befürwortet wurde. Dies ist ein bemerkenswertes Signal. Umweltpolitiker beklagen, dass der niedrige CO2Preis keinen Anreiz zum Klimaschutz mehr biete. Offenkundig seien zu viele Zertifikate ausgegeben worden. Sie wollen den Emissionshandel nun reformieren. Wie sieht Ihre Lösung aus? Hedegaard Das Emissionshandelssystem wird die bis 2020 vereinbarten Emissionsminderungen erbringen. Die Erleichterung dieses Vorgangs zeigt sich in einem schwächeren Preissignal. Wir brauchen nun eine Diskussion darüber, ob das EU-ETS nach der Rezession immer noch die richtigen Signale bis 2020 und darüber hinaus aussenden kann, um die im EU-Fahrplan für eine kohlenstoffarme Wirtschaft identifizierten Investitionen in kohlenstoffarme Technologien anzuregen. Ich möchte diese Diskussion mit dem kommenden Bericht zum Kohlenstoffmarkt anstoßen und eine Auswahl von Lösungen präsentieren, deren eingehende Prüfung ich für angebracht halte.

Also die Zertifikate verteuern. Wie werden Sie diesen Eingriff beispielsweise Polen erklären, einem Land, das stark auf Kohlekraftwerke mit einem hohen CO2-Ausstoß setzt und sich massiv dagegen wehrt? Oder Wirtschaftspolitikern, die vor einem Preisanstieg der Zertifikate warnen, weil die Kosten am Ende auf die Strompreise umgelegt würden?


Hedegaard Es wird in Europa weithin anerkannt, dass der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft eine erhebliche Herausforderung für Polen darstellt. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass das bestehende Klima- und Energiepaket verschiedene Elemente enthält, die eine Anpassung an die Verhältnisse der Mitgliedsländer mit starker Abhängigkeit von fossilen Energieträgern ermöglichen. Gleichzeitig muss Polen auch einsehen, dass ein Hinauszögern dieser Herausforderung den Übergang höchstwahrscheinlich nicht billiger oder einfacher machen wird. Durch Innovationen und eine Verbesserung der Energieeffizienz können wir außerdem Arbeitsplätze schaffen und Geld sparen. Es sollte nicht vergessen werden, dass auch Polen fossile Brennstoffe importiert.

Hedegaard In der europäischen Realpolitik ist diese Frage nicht stichhaltig. Wir wissen, dass man sich nicht auf eine sinnvolle CO2-Steuer einigen wird, solange dazu Einstimmigkeit erforderlich ist. Außerdem glaube ich, dass ein ETS, bei dem der Markt den CO2-Preis bestimmt und eine klare Weichenstellung vorgegeben wird, einer CO2-Steuer überlegen ist – und sei es nur aufgrund der Tatsache, dass dieses Instrument bereits vorhanden ist. Trotz der Herausforderungen infolge des niedrigen CO2-Preises wächst, wie bereits erwähnt, in Europa die Erkenntnis, dass das EU-Emissionshandelssystem ETS das bestgeeignete Instrument darstellt. Und dieses Instrument wird von einer Reihe anderer Länder und Regionen außerhalb der EU umgesetzt, zum Beispiel Australien, Korea, China und Kalifornien.

Trotzdem, Fakt ist: Der Emissionshandel als Instrument funktioniert, aber die Anreize zur Investition in neue CO2-arme Technologien sind offenkundig nicht ausreichend. Wäre eine CO2-Steuer nicht doch die bessere Lösung, weil sie langfristig besser zu kalkulieren ist?

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Nichts ist unmöglich

Die Modernisierung des europäischen Energiesystems kann die CO2-Emissionen drastisch reduzieren und gleichzeitig Arbeitsplätze, eine bessere Lebensqualität und Wachstum schaffen. Diese These vertritt EUEnergiekommissar Günther Oettinger.

Die Versorgung mit Energie ist eine der größten Herausforderungen, vor der Europa heute steht. Während wir den Kampf gegen den Klimawandel anführen, ist unsere Wirtschaft voll und ganz auf eine zuverlässige Energieversorgung zu erschwinglichen Preisen angewiesen, um wettbewerbsfähig zu sein. Die Energieversorgung wiederum hängt von einer angemessenen Infrastruktur ab. Bis zum Ende der 1990er Jahre war das Ankurbeln der Nachfrage wichtiger als Energie­ effizienz, und die Energieversorger bedienten in erster Linie nationale Märkte. Künftig müssen die Energiesysteme so konzipiert sein, dass sie in ganz Europa mit variabel zur Verfügung stehenden erneuerbaren Energien und mit kohlenstoffarmen Brennstoffen betrieben werden können. Ist Europa bereit und in der Lage, diese Herausforderung anzugehen? Wird Europa die Treibhausgasemissionen bis 2050 um mindestens 80 Prozent senken und seine Wettbewerbsfähigkeit behaupten können? Mit der Veröffentlichung des Energiefahrplans 2050 hat die Europäische Kommis­ sion die Debatte eröffnet.

Was besagt der Energiefahrplan 2050?

Ausgehend von einer auf Szenarios beruhenden Analyse werden im Fahrplan 2050 mögliche Wege aufgezeigt, mit denen eine Dekarbonisierung des Energiesystems der EU erreicht werden kann. Dabei geht es nicht darum, einem Weg gegenüber einem anderen den Vorzug zu geben, sondern vielmehr darum, sich abzeichnende Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, die langfristige Investitionsansätze unterstützen. Die wirkliche Welt wird nie wie diese Modelle aussehen, doch von den Schlussfolgerungen, die man aus ihnen ziehen kann, gehen grundlegende Signale für unsere künftige Politik aus. Das Hauptfazit des Energiefahrplans ist einfach: Der Umbau des Energiesystems ist technisch und wirtschaftlich machbar, wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen. Fünf zentrale Aussagen können uns bei der politischen Entscheidungsfindung leiten, die unser Energiesystem zukunftsfähiger machen soll.

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Energieeinsparungen sind unabdingbar

Langfristig ist eine gröSSere Energieeffizienz bei neuen Gebäu den und im Gebäudebestand von entscheiden der Bedeutung.

Es besteht ein sehr großes, ungenutztes Energieeinsparpotenzial. In allen Dekarbonisierungsszenarios müssten erhebliche Energieeinsparungen erzielt werden. Gegenüber Höchstständen im Zeitraum 2005/2006 geht die Primärenergienachfrage bis 2030 um 16 Prozent bis 20 Prozent und bis 2050 um 32 Prozent bis 41 Prozent zurück. Somit ist Energieeffizienz eine entscheidende Voraussetzung für den Umbau des Energiesystems in den Bereichen Produktion, Versorgung und Endnutzung. Ein Fortführen unserer Anstrengungen auf dem jetzigen Niveau würde nicht die benötigten Fortschritte bewirken. In einem vor kurzem vorgelegten Vorschlag für eine Energieeffizienzrichtlinie hat die Kommission deutlich gemacht, in welchen Bereichen dringender Handlungsbedarf besteht. Wenn wir das Einsparpotenzial nutzen wollen, muss die Richtlinie zügig verabschiedet werden. Langfristig ist zudem eine größere Energie­ effizienz bei neuen Gebäuden und im Gebäudebestand von entscheidender Bedeutung. Nahezu-null-EnergieHäuser sollten die Norm werden. Produkte und Geräte sollten die höchsten Energieeffizienzstandards erfüllen. Im Verkehrssektor werden effiziente Fahrzeuge

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und Anreize für Verhaltensänderungen benötigt. All dies setzt weitere Maßnahmen sowohl der EU als auch der Mitgliedstaaten voraus. Erneuerbare Energien im Energiemix

Die Analyse zeigt, dass 2050 der größte Anteil der Energieversorgungstechnologien auf die erneuerbaren Energien entfällt. Für 2030 deuten alle Dekarbonisierungsszenarios darauf hin, dass der Anteil erneuerbarer Energien auf rund 30 Prozent des Bruttoendenergieverbrauchs steigt. Im Jahr 2050 werden die erneuerbaren Energien mindestens einen Anteil von 55 Prozent haben, was eine Zunahme von 45 Prozentpunkten gegenüber dem derzeitigen Anteil darstellt. Dies ist sowohl eine gewaltige Veränderung als auch eine Herausforderung. Die erneuerbaren Energien werden eine zentrale Rolle im europäischen Energiemix spielen, wobei der Weg von der technologischen Entwicklung hin zur Massenproduktion und umfassenden Einführung, vom Einsatz im kleinen Maßstab hin zum Einsatz im großen Maßstab, vom subventionierten Produkt hin zum wettbewerbsfähigen Produkt führt. Alle diese Umstellungen erfordern parallel dazu Änderungen in der Politik. Die künftigen Anreize müssen effizienter werden, Skaleneffekte erzielen und zu einer größeren Marktintegration führen. Der Aufbau der notwendigen Infrastruktur

Da in fast allen Szenarios der Stromhandel und die Verbreitung erneuerbarer Energien bis 2050 zunehmen, wird eine angemessene Verteilungs-, Verbindungs- und Langstreckenübertragungsinfrastruktur dringend benötigt. Eine angemessene Infrastruktur ist daher eine unverzichtbare Voraussetzung. Langfristig müssen die aktuellen Planungsmethoden über einen potenziell längeren Zeitraum auf eine vollständig integrierte Netzplanung für die Übertragung, Verteilung und Speicherung sowie Stromautobahnen ausgedehnt werden. Vor allem müssen wir intelligentere Stromnetze entwickeln, die der variablen Erzeugung aus vielen dezentralen Quellen Rechnung tragen, um so zu neuen Möglichkeiten der Steuerung von Stromangebot und Stromnachfrage zu gelangen.


Günther Oettinger

ist seit Februar 2010 EU-Kommissar für Energie. Seine wichtigste Aufgabe besteht in der Entwicklung und Umsetzung einer europäischen Energiepolitik. Vor seinem Wechsel nach Brüssel war Oettinger Ministerpräsident von Baden-Württemberg.

Europäische Energiemärkte vollständig integrieren

Ein europäischer Markt bietet die angemessene Größenordnung, um den Zugang zu Ressourcen zu sichern und die gewaltigen erforderlichen Investitionen bereitzustellen. Der Energiebinnenmarkt muss bis 2014 vollständig integriert sein. Eine weitere Herausforderung betrifft die Notwendigkeit, im Stromsystem über flexible Ressourcen zu verfügen, da der Anteil der ungleichmäßig zur Verfügung stehenden erneuerbaren Energien zunimmt. Der Zugang zu flexiblen Energielieferungen jeder Art muss sichergestellt werden (zum Beispiel durch Nachfragemanagement, Speicherung und flexible Reservekraftwerke). Eine weitere Herausforderung betrifft die Auswirkungen der regenerativen Erzeugung auf die Großhandelsmarktpreise. Wie auch immer die Antwort ausfällt, wichtig ist, dass die Marktordnung kosteneffektive Lösungen für diese Herausforderungen bietet. Die grenzüberschreitenden Auswirkungen auf den Binnenmarkt erfordern erneute Aufmerksamkeit. Mehr als je zuvor besteht jetzt Koordinierungsbedarf. Die energiepolitischen Entwicklungen müssen die Art und Weise, in der sich Entscheidungen in Nachbarländern auf die einzelnen nationalen Systeme auswirken, in vollem Umfang berücksichtigen. Investitionen in CO2-arme Technologien

Die Bepreisung von CO2-Emissionen kann einen Anreiz für die Einführung effizienter, CO2-armer Technologien in ganz Europa sein. Das Europäische Emissionshandelssystem ist eine notwendige Voraussetzung für den Umbau des Energiesystems, jedoch reicht es nicht aus. Größere öffentliche und private Investitionen in Forschung, Demonstration und technologische Innovation sind für eine schnellere Vermarktung und Modernisierung aller CO2-armen Lösungen unabhängig von den jeweiligen Energiequellen ebenfalls ausschlaggebend. Insbesondere muss Europa sicherlich die CO2-Abtrennung und Speicherung ab ca. 2030 im

Stromsektor weiterentwickeln, um die Dekarbonisierungsziele zu erreichen. Für Europa ist es kostengünstiger und einfacher, zusammenzuarbeiten. Der europäische Markt bietet uns die Möglichkeit, Skaleneffekte zu erzielen und schneller neue Märkte für CO2arme Technologien zu erschließen. Bis 2050 müssen in der gesamten Wirtschaft Infrastruktur und Geräte im großen Stil ersetzt werden, darunter auch Verbrauchsgüter privater Haushalte. Die Modernisierung des Energiesystems wird für hohe Investitionen in die europäische Wirtschaft sorgen. Sie kann mehr Arbeitsplätze, eine bessere Lebensqualität und mehr Wachstum schaffen. Außerdem kann die Dekarbonisierung für Europa, das sich als Vorreiter auf dem wachsenden weltweiten Markt für energiebezogene Waren und Dienstleistungen in Stellung bringt, ein Vorteil sein. Ferner trägt der Umbau des Energiesystems dazu bei, die Abhängigkeit von Importen und damit von volatilen Preisen für fossile Brennstoffe zu verringern. Die Debatte ist eröffnet

In den nächsten Monaten werden alle Akteure in allen Mitgliedstaaten eine offene Debatte führen und dabei über die Meilensteine und den Politikrahmen bis 2030 diskutieren. Dies wird zu der von den Mitgliedstaaten und Investoren benötigten Sicherheit beitragen. Wir können nicht mehr abwarten. Wir müssen jetzt für die Zukunft handeln. Unsere bisherigen Maßnahmen helfen zwar, unseren CO2-Fußabdruck zu verringern, wir müssen jedoch unsere Anstrengungen intensivieren: Wir brauchen mehr erneuerbare Energien, mehr umweltfreundliche Technologien, mehr Investitionen in die Netze, mehr Integration und mehr Energieeffizienz. Wir brauchen Entscheidungen und Investitionen. Wir brauchen den entsprechenden politischen Willen.

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Drei Fragen an Helmut Herdt 01

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Die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Ver- und Entsorgung werden für die betroffenen Regionen immer stärker spürbar. Was ist bei ihrer Bewältigung der Probleme zu beachten?

Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag hat vorgeschlagen, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse neu zu definieren. Kann dies helfen?

Brauchen wir neue Mindeststandards der Daseinsvorsorge und wer sollte über diese entscheiden?

Die Wasserwirtschaft und Abwasserwirtschaft sieht die Bewältigung des demografischen Wandels, des Verbrauchs- und Strukturwandels als gesamtgesellschaftliche und interdisziplinäre Aufgabe an. Die Branchen sind im demografischen, Struktur- und Verbrauchswandel mit schwerwiegenden technischen und wirtschaftlichen Problemen sowie einem kostenintensiven Infrastrukturumbau konfrontiert. Die Unterauslastung der Infrastrukturen löst vielfältige technisch-wirtschaftliche Folgemaßnahmen und Kosten für Kommunen, Bevölkerung und Unternehmen aus. Oberstes Ziel sollte die Förderung einer wirtschaftlich-rationellen Aufgabenerfüllung bei den Leistungen der infrastrukturabhängigen Daseinsvorsorge sein. Die Städtebau-Förderprogramme Stadtumbau Ost und Stadtumbau West haben sich bewährt. Aus Sicht der Wasserwirtschaft und Abwasserwirtschaft ist eine verstärkte Koordinierung wünschenswert. Vielerorts ist die Zusammenarbeit zwischen Stadtplanung und Ver- und Entsorgung noch ausbaufähig, um weitere Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung und Wirtschaftlichkeit nutzen zu können. Im demografischen Wandel sind eine interdisziplinäre Vorgehensweise und ein Einvernehmen der für Wasser und Abwasser zuständigen Fachbehörden mit der Raumplanung notwendig.

Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse wird im Wasser- und Abwasserbereich bereits durch die von der Europäischen Union verabschiedeten Mindeststandards, die EU-Trinkwasserrichtlinie und die Kommunale EU-Abwasserrichtlinie vorgegeben. Die Umsetzung der EU-Richtlinien obliegt in Deutschland Bund und Ländern. Eine 1:1-Umsetzung gegenüber dem EU-Recht ist in Deutschland anzustreben. Territoriale Besonderheiten in der Ver- und Entsorgung werden im Vollzug weitgehend berücksichtigt. Aus unserer Sicht könnte eine bessere Auslastung der Infrastrukturen durch Anreizsysteme erreicht werden. Mit Blick auf die im Grundgesetz verankerte kommunale Entscheidungshoheit im Bereich Wasser und Abwasser könnten so auch Anreize für interkommunale Kooperationen in problematischen ländlichen Räumen geschaffen werden.

Ziel ist es aus unserer Sicht, eine Qualitätsverschlechterung bei den Leistungen der Daseinsvorsorge zu vermeiden. Wir sehen die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung als unverzichtbare Leistungen zur Sicherung der Lebensqualität der Bevölkerung an. Wir wollen die hohe Qualität und Zuverlässigkeit der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung unter wirtschaftlichen und ökologischen Gesichtspunkten erhalten. Die für die Ver- und Entsorgung geltenden Standards werden auf europäischer Ebene von den Mitgliedstaaten geregelt.

Helmut Herdt

ist Vorsitzender der BDEW-Projektgruppe „Demografischer Wandel“ und Sprecher der Geschäftsführung der Städtischen Werke Magdeburg GmbH.

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Prof. Dr. Harro Bode

ist Mitglied des BDEW-Vorstands und Vorstandsvorsitzender des Ruhrverbands. Der Ruhrverband ist ein รถffentlich-rechtliches Wasserwirtschaftsunternehmen. 44


» Ginge es nach der EU, dürften wir nicht mal Trinkwasser einleiten.«

Die Europäische Kommission will die chemische Qualität der Oberflächengewässer verbessern. Dazu soll die Einleitung bestimmter Substanzen, sogenannter prioritärer Stoffe, begrenzt werden. An einigen Stellen schießen die Brüsseler Vorschläge aber über das Ziel hinaus, meint Prof. Dr. Harro Bode.

Wie steht es aktuell um die Qualität unserer Gewässer? Prof. Dr. Harro Bode Für die Beurteilung der Qualität von Gewässern sind zwei Aspekte ausschlaggebend: Zum einen die vornehmlich „chemische“ Qualität des Wassers selbst und zum anderen die „ökologische“ Qualität, zu der die strukturelle Beschaffenheit von Gewässersohle, Ufern und Auen gehört, verbunden mit der Frage der Durchgängigkeit der Gewässer für aquatische Lebewesen. Im Hinblick auf den ersten Aspekt hat die EU Anfang der 90er Jahre neue Anforderungskataloge an die Leistungsfähigkeit von Kläranlagen herausgegeben und den Mitgliedsländern zur Umsetzung der daraus resultierenden milliardenschweren Investitionen 15 Jahre Zeit gegeben. Obwohl Deutschland den Beschluss gefasst hat, für sich flächendeckend die höchsten Anforderungen gelten zu lassen, hat es seine Schularbeiten zeitgerecht erledigt. Es erfüllt heute (zusammen mit den Niederlanden, Dänemark und Österreich und im Gegensatz zu vielen anderen europäi-

schen Staaten, bei denen häufig nicht einmal das hohe Anforderungsniveau gilt) die europäischen Anforderungen zu 100 Prozent. Infolge dieser großen Investitionen in den Kläranlagenausbau hat sich in den letzten 20 Jahren die chemische Qualität der Oberflächengewässer hierzulande ständig verbessert. Sie war noch nie so gut wie heute. Hinsichtlich der Gewässerstruktur (Ufer, Gewässersohle und Durchgängigkeit) hat die Bestandsaufnahme im Sinne der im Jahre 2000 verabschiedeten EU-Wasserrahmenrichtlinie Defizite und Verbesserungspotenziale erbracht. In Deutschland wird im Zuge der daraus resultierenden Maßnahmen­ umsetzung viel staatliches Geld bereitgestellt, um solche Strukturdefizite abzubauen. Allerdings wird man auch hier zu gegebener Zeit den Vergleich mit anderen Ländern in Europa suchen, um herauszufinden, bis zu welchem Punkt die Renaturierung der Gewässer sinnvoll und machbar erscheint.

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» Es gilt, die endokrin wirksamen Stoffe in unseren Gewässern weiter zu minimieren.« Die Europäische Kommission hat erstmals auch pharmazeutische Wirkstoffe für die Aufnahme in die prioritäre Stoffliste vorgeschlagen, das weitverbreitete Schmerzmittel Diclofenac und zwei weibliche Hormone. Wie bewerten Sie diese Vorschläge? Bode Parallel zum Vorschlag der Aufnahme dieser Substanzen in die Liste prioritärer Stoffe empfiehlt die Kommission bekanntlich auch Umweltqualitätsnormen in Form von Konzentrationen, die es in Oberflächengewässern einzuhalten gilt. Die Nennung von

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Konzentrationswerten erscheint mir notwendig und sinnvoll, da ohne eine Betrachtung von bestimmten Konzentrationen eine Diskussion über das Vorhandensein von Stoffen in der Umwelt nicht zielführend ist. Denn Stoffe, die der Mensch zuerst herstellt und dann verwendet, werden später immer in der Umwelt vorhanden sein, das lässt sich nicht verhindern. Wenn die Menschen auf den Einsatz bestimmter Stoffe nicht verzichten wollen (und dies ist bei Medikamenten häufig der Fall), muss gefragt werden, bis zu welchen Konzentrationen diese Stoffe dann in der Umwelt und in unserem Fall in den Gewässern auftauchen dürfen. Mir erscheinen allerdings die in dem Entwurf der Richtlinie zu Diclofenac und den weiblichen Hormonen vorgeschlagenen Umweltqualitätsnormen (Konzentrationen) als zu niedrig und noch genauer zu hinterfragen. Dies gilt auch für die Konzentrationen mancher anderer Stoffe. Wissenschaftler berichten vom Phänomen der Verweiblichung von Fischen und anderen aquatischen Organismen in unseren Gewässern. Wie kommt es dazu und was kann man dagegen tun? Bode Aquatische Lebewesen sind stoff- und organismusspezifisch oft deutlich empfindlicher als wir Menschen. Dies hat auch damit zu tun, dass diese Organismen im Gewässer leben und daher ständig mit dem Wasser in Berührung sind. Hormone können deshalb eher entsprechende Wirkungen entfalten. Nach meiner Kenntnislage hat dies allerdings bislang noch nicht zur Bedrohung oder gar zum Aussterben bestimmter Arten geführt. Dennoch gilt es, die endokrin wirksamen Stoffe in unseren Gewässern weiter zu monitoren und unter Abwägung von Nutzen und Kosten zu minimieren. Endokrine Wirkungen im Sinne einer Verweiblichung gehen nicht nur von natürlichen Hormonen wie 17-β-Estradiol und dem Pillen-Hormon 17-α-Ethinylestradiol aus, sondern auch von einer Reihe von Industriechemikalien wie Bisphenol A und DEHP. Unter Würdigung der Diskussion, die bei der Forderung nach dem Verzicht auf bestimmte Medika-


mente zwangsläufig einsetzt, gilt es zu versuchen, vor allem die Industriechemikalien durch umweltverträgliche Stoffe zu substituieren. Welche Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht sinnvoll, um den Eintrag von gefährlichen Stoffen in die Gewässer zu verringern bzw. zu verhindern? Bode Bei den prioritär gefährlichen Stoffen sieht die EU ein „Phasing out“ vor. Dabei wird ein Verbot von Produktion und Verwendung innerhalb von 20 Jahren ausgesprochen. Diese Maßnahme ist sicherlich der richtige Weg für wirklich gefährliche Stoffe. Auch für andere Stoffe, von denen Gefahren ausgehen, ist generell die Substitution durch umweltverträglichere Produkte anzustreben. Parallel dazu oder wenn dies nicht möglich ist, sollte die Emissionsminimierung an der Quelle, zum Beispiel bei Industrie und Gewerbe, ansetzen, wo man am effizientesten und kostengünstigsten Stoffe daran hindern kann, in größerem Umfang in die Umwelt zu treten. Auch bei gefährlichen Stoffen, die hauptsächlich von privaten Haushalten abgegeben werden und über das kommunale Abwasser in die Gewässer gelangen, muss zuerst die Frage nach einer Substitution dieser Stoffe durch ungefährlichere gestellt werden. Erst wenn man nach Abwägung der Vor- und Nachteile und der Kosten zu dem Ergebnis kommt, dass man den Einsatz und die Benutzung solcher Stoffe beibehalten und sie auch weiterhin in die Abwässer eintragen möchte, ist zu erwägen, ob man als End-of-the-pipeMaßnahme eine noch weitergehendere Reinigung der Abwässer anstrebt. Die für solche Fälle einzusetzenden Technologien sind allerdings erst in der Erprobung. Es zeichnet sich ab, dass sie sehr kosten- und energieaufwändig sind. Bezüglich ihrer Kosten und ihrer letztendlichen Klimaschädlichkeit sowie ihrer selektiven Wirkungsweise ist vor einer Anwendung die damit verbundene Sinnhaftigkeit sehr kritisch zu überprüfen. Man muss sich fragen, welchen Zugewinn die auf diese Weise erreichbaren Konzentrationsabsenkungen in den Oberflächengewässern tatsächlich bedeuten. Wir sollten den Einsatz von synthetischen Stoffen nicht verteufeln. Wir verdanken ihnen einen nicht unerheblichen Anteil am technischen und gesell-

schaftlichen Fortschritt und insbesondere an unserem hohen Gesundheitsniveau. Wir müssen aber in der Chemikalienpolitik und im Chemikalienrecht insgesamt mehr auf die stoffspezifischen Auswirkungen auf Mensch und Umwelt achten. Welche Auswirkungen werden die neuen europäischen Vorgaben für den Ruhrverband haben? Bode Nach der Ablehnung des Entwurfs durch den Bundesrat am 30.03.2012 muss erst einmal abgewartet werden, ob dieser Entwurf so bestehen bleibt. Die in ihm abgeleiteten Umweltqualitätsnormen sind teilweise auf sehr dünner Datenbasis und mit extrem hohen Sicherheitsfaktoren ermittelt worden. Sie beziehen sich nicht auf Trinkwasser, sondern auf das Schutzgut „aquatisches Leben“. Zum Teil sind die zuzulassenden Konzentrationen so niedrig, dass sie analytisch nicht mehr nachweisbar sind, da sie sich rein mathematisch durch Berücksichtigung der erwähnten Sicherheitsfaktoren ergeben haben. Bei einigen Parametern verbietet sich zum Beispiel die Einleitung von Trinkwasser in Oberflächengewässer, da bereits dies eine Belastung mit sich brächte. Dadurch wird meines Erachtens deutlich, dass einige Forderungen unverhältnismäßig sind und zu weit gehen. Wenn die deutschen Behörden im Vollzug der europäischen Vorgaben, sofern sie letztlich verabschiedet werden, vom Ruhrverband fordern müssten, bestimmte Stoffe wie zum Beispiel 17-β-Estradiol zu minimieren, werden wir, wie viele andere Kläranlagenbetreiber, an bestimmten Orten die vierte Reinigungsstufe zu implementieren haben. Dies wird allerdings ohne erhebliche Investitionen, einen höheren Betriebsaufwand und auch einen dann steigenden Energieverbrauch nicht möglich sein. Auch diese Folgen für die Bevölkerung und das Klima gilt es zu bedenken.

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Herausgeber BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V.


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