Die Partnerschaft mit der Schweiz neu gestalten

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Die Partnerschaft mit der Schweiz neu gestalten Eine positive Agenda für die EU-Schweiz-Beziehungen

19. Januar 2022

Die deutsche Wirtschaft bedauert den Abbruch der Verhandlungen mit der Schweiz zum Institutionellen Rahmenabkommen (InstA). Infolgedessen sind bereits erhebliche wirtschaftliche Störungen im bilateralen Handel zwischen der EU und der Schweiz aufgetreten. Dies betrifft derzeit ganz besonders die Zertifizierung von Medizinprodukten. Kurzfristig sind weitere Beeinträchtigungen jedoch absehbar, etwa beim Maschinenbau. Langfristig drohen mit Blick auf die Dynamik in der gesamteuropäischen Wirtschaftsregion strategische Schäden, die es zu vermeiden gilt. Viele KMU, aber auch Großunternehmen aus Deutschland und der Schweiz pflegen langjährige intensive Wirtschaftsbeziehungen. Mit einem gemeinsamen Außenhandelsvolumen von mehr als 101 Milliarden Euro in 20201 ist Deutschland sogar der wichtigste Wirtschaftspartner der Schweiz. 2 Für die EU ist die Schweiz der viertwichtigste Handelspartner.3 Auch bei ausländischen Direktinvestitionen ist die Schweiz für die EU eine der TOP5-Adressen sowohl als Ziel- als auch als Herkunftsland.4 Mit 1,4 Millionen EU-Bürgern und ca. 344.000 Grenzgängern in der Schweiz nehmen die bilateralen Beziehungen eine besondere arbeitsmarktpolitische Bedeutung ein, z.B. in der Forschung. 5 Es ist daher für die deutsche Wirtschaft von besonderem Interesse, dass dieses traditionell sehr gute Verhältnis zum südlichen Nachbarn erhalten bleibt und gestärkt wird. Die Wirtschaft fordert beide Seiten auf, konstruktive Gespräche zügig wieder aufzunehmen. Die EU sollte sich dabei weiter offen zeigen für ein Modell mit möglichst enger wirtschaftlicher Bindung. Dabei muss klar sein: Für alle Teilnehmer des EU-Binnenmarktes müssen gleiche Spielregeln gelten, die auch durchsetzbar sind. Insellösungen können dieses Ziel nicht erreichen, sodass eine Paketlösung für die EU-Schweiz-Beziehungen unersetzbar bleibt. Eine Paketlösung darf eine angemessene Adressierung der institutionellen Kernfragen nicht außen vorlassen; Rechte und Pflichten beider Seiten

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Rangfolge der Handelspartner im Außenhande (deutsch)-2020 (destatis.de) Statistik des Aussenhandels der Schweiz 2020 | Bundesamt für Statistik (admin.ch) 3 What if there is no Institutional Framework Agreement (IFA)? - Publications Office of the EU (europa.eu) 4 Foreign Direct Investment stocks at the end of 2019 - Produkte Eurostat Aktuell - Eurostat (europa.eu) 5 What if there is no Institutional Framework Agreement (IFA)? - Publications Office of the EU (europa.eu) 2


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müssen sich zudem in einem angemessenen Verhältnis zueinander wiederfinden, um Stabilität zu gewährleisten. Auf beiden Seiten sollte Einigkeit bestehen, dass das bestehende Regelwerk (insb. die „Bilateralen I“) nicht zurückgebaut wird. Außerdem ist zu befürworten, dass die Schweiz die Zahlung der sog. „Kohäsionsmilliarde“ beschlossen hat. Dies sind hoffnungsvolle Zeichen politischer Verlässlichkeit. In den künftigen Gesprächen sind strategisch-politische Aspekte und technisch-operative Maßnahmen entlang der Interessen der Europäischen Union sauber abzuwägen. Das EU-Schweiz-Verhältnis sollte sich dabei am übergeordneten Ziel der EU als weltpolitischer Gestalter und am Grundsatz der Ausgewogenheit der gegenseitigen Beziehungen unter dem Leitmotiv der Offenen Strategischen Autonomie orientieren. Folglich wäre eine neue Schweiz-Strategie der EU entlang der Kernprioritäten der Europäischen Kommission auszurichten: Dazu zählen u.a. die doppelte - grüne und digitale - Transformation, die Organisation strategischer Abhängigkeiten der EU und die weltweite Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. Auf der anderen Seite wäre es wünschenswert, dass die Schweiz ihre mögliche Mitwirkung hierzu konkretisiert. Dabei kommt es darauf an, sowohl institutionelle als auch inhaltliche Fragen zu erörtern. Eine weitergehende Zusammenarbeit sollte sich dabei an folgenden Leitsätzen orientieren: Green Deal und Transformation der Wirtschaft Die Transformation zur Klimaneutralität der europäischen Industrie soll wettbewerbserhaltend organisiert werden. Dazu sind umfangreiche Investitionen notwendig, deren Abschreibungen jedoch eine immense wirtschaftliche Belastung für die Unternehmensbilanzen darstellen. Umso wichtiger ist daher eine effiziente Nutzung bereits bestehender Infrastrukturen auf dem Kontinent. Dazu sollten ▪

Energiepartnerschaften bspw. im Strombereich als Teil einer institutionellen Paketlösung vorhandene Markteffizienzpotentiale heben. Eine Einbindung der Schweiz könnte das Strommarktdesign optimieren.

bestehende Speicherkapazitäten der Schweiz in die EU-Infrastruktur optimal eingebunden werden. Dies ist von besonderer Bedeutung beim Erreichen einer CO2-neutralen Energieversorgung auf dem gesamten Kontinent.

Potenzielle Netzschwankungen oder Versorgungsengpässe durch einen regulatorischen Dialog minimiert werden. Ausfälle in der schweizerischen Energieversorgung würden in sehr kurzer Zeit zu Produktionsausfällen und damit zu unvorhersehbaren Störungen von Lieferketten mit deutscher und europäischer Beteiligung führen.

Planungen zum Infrastrukturausbau intensiviert werden, insbesondere in grenznahen Regionen.

nachhaltige Transportkorridore gestärkt werden. Insbesondere Deutschland sollte den Ausbau im Schienenverkehr über die Rheinschiene prioritär und rasch vorantreiben.

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Strategische Abhängigkeiten Europas in der Weltwirtschaft Die europäische Wirtschaft sieht sich erheblichen Herausforderungen durch Störungen globaler Lieferketten ausgesetzt. Nur wenn es Europa gelingt, seine Lieferketten zu stabilisieren, wird es gegenüber anderen Wirtschaftsräumen selbstbewusst auftreten können. Das Verhältnis der EU mit der Schweiz muss auch in Zukunft dem Anspruch der Verlässlichkeit gerecht werden. Daher sollte im Dialog mit der Schweiz sichergestellt werden, dass ▪

der Zollsicherheitsraum zwischen EU und Schweiz fortbesteht und beide Seiten gemeinsam sicherheitsrelevante Weiterentwicklungen implementieren (u.a. ICS2). Anderweitig droht ein Auseinanderfallen des Zollsicherheitsraumes durch Unterlassung und Nachlässigkeit. Der Zollsicherheitsraum ist dabei von Marktzugangsfragen abzugrenzen, die im Rahmen von klassischen Freihandelsgesprächen erörtert werden.

die forschungs- und innovationsstarke Schweiz ein wichtiger Partner für europäische Unternehmen bleibt. Die Forschungszusammenarbeit mit der Schweiz sollte einen Beitrag zur technologischen Souveränität und Offenen Strategischen Autonomie Europas leisten. Die Schweiz wird beim derzeit laufenden weltweit größten EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation Horizon Europe und damit verbundenen Programmen und Initiativen bis auf Weiteres als nicht-assoziierter Drittstaat behandelt, was negative Auswirkungen für die Wirtschaft hat. Die Schweiz und die EU verbindet eine langjährige und erfolgreiche Zusammenarbeit im Bereich Forschung und Innovation. Die Beteiligung der Schweiz an den EU-Rahmenprogrammen für Forschung und Innovation ist wichtig für deutsche Unternehmen und ein florierendes europäisches Innovations-Ökosystem. Eine vollständige Assoziierung der Schweiz an «Horizon Europe» sollte deshalb das Ziel für die Schweiz und die EU sein, damit die forschungs- und innovationsstarke Schweiz ein wichtiger Partner für europäische Unternehmen bleibt. Der Schweiz sollte deswegen unabhängig von den allgemeinen Beziehungen vergleichbare Möglichkeiten zur Partizipation offenstehen wie anderen Drittstaaten (bspw. Israel, Türkei, oder EWR-Staaten).

der Fortbestand des Abkommens über die technischen Handelshemmnisse Schweiz-EU (Mutual Recognition Agreement, MRA) sichergestellt wird. Das MRA leistet einen wichtigen Beitrag zum Abbau technischer Handelshemmnisse und sorgt für gleichwertige Marktzutrittsbedingungen in Schlüsselbranchen. Die absehbare weitere Erosion des MRA bedroht die Stabilität der Lieferketten und damit die strategische Autonomie der EU. Nutznießer einer solchen Entflechtung der Beziehungen Schweiz-EU wären konkurrierende Volkswirtschaften, was die strategische Autonomie der EU auf globaler Ebene weiter schwächen würde.

sich beide Parteien auf WTO-Ebene weiter für solide, innovationsfreundliche Regeln zum Schutze des geistigen Eigentums einsetzen.

Wettbewerbsfähigkeit und Industriepolitik Europäische und schweizerische Unternehmen sind enge Partner – das zeigt sich unter anderem in einem sehr ausgeprägten, wechselseitigen Warenaustausch. Angesichts der nunmehr erschwerten, politischen Rahmenbedingungen kommt es darauf an, den wirtschaftlichen Schaden möglichst gering zu halten. Dazu bedarf es ▪

der Fortführung einer effektiven Produktregulierung. Wie bereits erwähnt erfordert der Abbau technischer Handelsbarrieren und die Aufrechterhaltung der Systemkohärenz für das

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Inverkehrbringen von Produkten die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen. Bilaterale Gespräche sollten an der Präferenz des Multilateralismus in der Normungsarbeit als unabdingbare Grundlage zur wechselseitigen Anerkennung von Testergebnissen der Konformitätsbewertung und ggf. der ausgefertigten Zertifikate festhalten. Auf EU-Seite ist gesondert zu berücksichtigen, dass Produktions- und Lieferketten für Medizinprodukte kurzfristig aufrechterhalten werden müssen, um eine umfassende Patientenversorgung während und nach der Pandemie zu gewährleisten.

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einer verbesserten Transparenz bei staatlichen Beihilfen. Beide Seiten sind aufgefordert, Beihilfen mit negativen Auswirkungen auf den jeweils anderen Markt so transparent und gering wie möglich zu gestalten. In Ermangelung verbindlicher bzw. justiziabler bilateraler Übereinkünfte bieten sich jeweils einseitige, aber diplomatisch koordinierte Schritte an. Eine politische Lösung zu einem wechselseitig verbindlichen Verfahren in der Beihilfenpolitik kann damit erleichtert und sollte angestrebt werden.

eines Level Playing Field mit allen wichtigen Partnern der EU in Europa. Die Einführung und Ausgestaltung von LPF-Regeln sollten keine Widersprüche mit dem EU-UK TCA erzeugen. Bei der Ausgestaltung ist auf ein angemessenes Verhältnis von Rechten und Pflichten zu achten. Binnenmarktregeln müssen weiterhin vom EuGH ausgelegt werden.

einer Wiederherstellung der Börsenäquivalenz geknüpft an das Ziel, eine europaweit möglichst kongruente Finanzmarktregulierung zu stärken. Dadurch soll eine makroprudentielle Stabilität auch in Zukunft gewährleistet werden.

eine enge Zusammenarbeit beim Aufbau des Binnenmarktes für Daten – unter anderem durch einen Angemessenheitsbeschluss6, flankiert von einer robusten politischen Übereinkunft.

eines Rückbaus unfairer Hürden in der Dienstleistungsfreiheit durch unverhältnismäßige Lohnschutzregelungen oder vergleichbare bürokratische Erfordernisse, wie Vorlauffristen der Meldung bzw. begrenzte Einsatzkontingente. Dies trägt zu beidseitigen Effizienzgewinnen in grenzüberschreitenden Wertschöpfungsketten bei, da europäische Lieferanten schnellere Reaktionszeiten vorweisen können.

s. Art. 45 Verordnung (EU) 2016/679.

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Impressum Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) Breite Straße 29, 10178 Berlin www.bdi.eu T: +49 30 2028-0 Autoren Paul P. Maeser Senior Manager T: +49 30 2028-1545 p.maeser@bdi.eu

BDI Dokumentennummer: D1486

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