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10 Thesen des BDI Arbeitskreis Internet der Energie
Die BDIArbeitsgruppe Internet der Energie (BDI IdE) ist ein spartenübergreifend und interdisziplinär agierendes Expertengremium der deutschen Industrie und Wissenschaft, das sich seit 2007 mit der Verbindung der Informations und Kommunikationstechnologie (IKT) und dem Energiesystem beschäftigt.
These 1
Elektrische Energie ist ein Grundpfeiler des künftigen Energiesystems
Ein klimaneutrales Energiesystem wird grundsätzlich aus Erneuerbaren Energien gespeist werden. Wind- und Sonnenenergie sind nach heutigem Stand die wichtigsten und wirtschaftlichsten Formen der Erzeugung. Beide sind am effizientesten direkt in elektrische Energie umwandelbar. Wenn also elektrische Energie ein Grundpfeiler des Energiesystems werden wird, ist die direkte Elektrifizierung von Anwendungen, die heute fossile Energien nutzen (insbes. Wärme, Verkehr) ein wichtiger Entwicklungspfad. Dies gilt auch im Interesse der Vermeidung von Umwandlungsverlusten. Wenn jedoch eine direkte Elektrifizierung aus technischen oder ökonomischen Gründen nicht umsetzbar ist, müssen Alternativen gefunden werden. Elektrochemische Speichertechnologien sowie aus Erneuerbaren Energien gewonnene gasförmige oder flüssige Energieträger sind hierfür geeignete Lösungen.1
Fragen
Wie muss ein Marktdesign gestaltet sein, um Elektrifizierung zu fördern und die anderen Sektoren Wärme und Verkehr effektiv und systemstabilisierend zu verbinden? Wie muss dafür die Preis-, und Abgabengestaltung verändert werden? Welche Anreize müssen gesetzt werden, um die Bereiche Industrie, Gebäude und Transport zu elektrifizieren? Wie hoch ist der zusätzliche Bedarf an Grünstrom für die Bereitstellung klimaneutraler Energieträger im Gesamtsystem?
These 2
IKT und Energiesystem verschmelzen zu einem cyber-physischen Gesamtsystem
Das künftige cyber-physische Gesamtsystem wird komplexer und dynamischer sein als bisher. Darin geht es um Messen, Steuern und Regeln in Echtzeit, in Zeiteinheiten unterhalb einer Sekunde.
Künftig sind alle energietechnischen Anlagen, die als Erzeuger, Verbraucher oder Speicher physikalisch an künftig smarte Energienetze angeschlossen sind, in irgendeiner Form digitalisiert. Informations- und Kommunikationstechnologie und physikalisches Energiesystem dürfen nicht mehr als getrennte Einzelsysteme gedacht und verstanden werden. Sie bilden ein komplexes cyber-physisches Gesamtsystem mit vielen expliziten und impliziten Abhängigkeiten. Diese Abhängigkeiten bringen zugleich Chancen und Risiken mit sich.
Um dieses Gesamtsystem handhaben und betreiben zu können, müssen alle Teilkompetenzen gebündelt vorhanden sein. Die Abhängigkeiten und Rückkopplungen in diesem Gesamtsystem müssen erfasst und verstanden sein. Automatisierung wird bei dieser Aufgabe helfen. Schon heute sind automatisierte Aktorik2 und Sensorik in Verbindung mit lernenden neuronalen Netzen3 (KI) in der Lage, Energiebedarf und -angebot in Echtzeit aufeinander abzustimmen. Gleichzeitig kann falsch eingesetzte oder durch Angreifer böswillig korrumpierte Digitalisierung selbst kritische Systemzustände verursachen.4
Gleichwohl sind die durchgängige Digitalisierung und Automatisierung notwendige Voraussetzungen für eine stabile und beherrschbare Energieversorgung.
Fragen
Welche Standards und Kriterien müssen für die IKT gelten, dass sie mit dem komplexen Energiesystem zu einem sicheren cyber-physischen Gesamtkomplex verschmelzen? Wie stellen wir technische und semantische Interoperabilität5 sicher? Wo kommen die notwendigen Daten her und wem gehören sie? Wie lassen sich diese Prozesse gestalten und begleiten?
These 3
Bedarfsgerechte Energieverteilung erfordert intelligente Ansätze
Um elektrische Energie an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Stromnetz entnehmen zu können, muss zu diesem Zeitpunkt genau so viel elektrische Energie bereitgestellt werden wie verbraucht wird. In einem dezentral strukturierten Energiesystem mit hohem Anteil Erneuerbarer Erzeugung rückt die Überbrückung sowohl zeitlicher als auch räumlicher Distanzen in den Mittelpunkt. Die Dimension Zeit spielt aufgrund der fluktuierenden Stromerzeugung Erneuerbarer Energien eine zunehmend größere Rolle.6 Gleichzeitig wird aufgrund neuer verteilter Standorte Erneuerbarer Energien im Vergleich zu vorherigen Kraftwerksstandorten die räumliche Komponente an Bedeutung gewinnen. Beide Entwicklungen können Angebotsengpässe verursachen, die neben dem erforderlichen Netzausbau7 vor allem durch intelligente Flexibilitätsmechanismen reduziert oder idealerweise vollständig aufgelöst werden können.
Wesentliche Aspekte des Systems sind physikalisch durch die vorhandene Infrastruktur und den damit verbundenen Restriktionen vorgegeben. Dennoch ergeben sich durch die Flexibilität auf der Verbrauchsseite wichtige neue Optionen zum Ausgleich zwischen Erzeugung
2 Aktorik bezeichnet die Umsetzung von Signalen in physikalische oder technische Vorgänge. Beispielsweise regelt das Heizungsthermostat als Aktor die Heizleistung herunter, wenn die gewünschte Raumtemperatur erreicht ist.
3 Als Lernende neuronale Netze werden im Bereich der künstlichen Intelligenz mathematische Verfahren bezeichnet, die aus einer Vielzahl von Informationen über Wahrscheinlichkeiten künftige Zustände errechnen.
4 acatech (Hrsg.): Resilienz digitalisierter Energiesysteme. Blackout-Risiken verstehen, Stromversorgung sicher gestalten (acatech Stellungnahme). acatech Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, ISBN: 9783-8047-4224-6, Berlin, 05.02.2021 und Verbrauch. Die Sektorenkopplung8 und der veränderte Einsatz von Energieträgern sind wichtige neue Dimensionen. Sie machen es erforderlich, das Gesamtsystem neu zu denken. Die Flexibilitätsoptionen, die sich aus der Sektorenkopplung und den Speichertechnologien ergeben, bieten bislang ungenutzte Potenziale der zeitlichen Bilanzierung von Erzeugung und Verbrauch.9
5 Unter semantischer Interoperabilität versteht man die Fähigkeit unterschiedlicher Systemkomponenten die angelieferten Informationen korrekt und identisch zu interpretieren.
6 Durch Lastverschiebung und Speicher können Zeiträume überbrückt werden, durch Stromnetze und die räumliche Umorganisation von Erzeugung (Redispatch) können räumliche Distanzen überbrückt werden.
7 Netzausbau nach dem NOVA Prinzip gemäß Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) bedeutet, Netz-Optimierung vor -Netz.Verstärkung vor Netzausbau.
Digitalisierung und weitere intelligente neue Technologien tragen grundlegend zur Steuerung und zur Beherrschung der Komplexität des gesamten Energiesystems bei.
Fragen
Wie kann die Regulierung die benötigte Flexibilisierung auf der Nachfrageseite so anreizen, dass sie rechtzeitig im System verfügbar sein wird?10 Wie erhalten Prosumer und Flexumer mit ihrer Flexibilität einen Zugang zu den Energiemärkten?11 Wie kann Flexibilität energiewirtschaftlich und juristisch genauer definiert werden? Welche Unterschiede bestehen zwischen europäischer und deutscher Regulierung? Wie können internationale Energiemärkte integriert werden?
These 4
Effektive Preisbildung an den Strommärkten orientiert sich an Flexibilität und Klimaschutz im Energiesystem
Die Grenzkosten von Windkraft- und PV-Anlagen liegen nahe Null. Insofern beeinflussen die Grenzkosten in einem reinen Erneuerbaren Energiesystem die Preisbildung bei der Erzeugung nur noch bedingt.12 Die neue Optimierungsaufgabe an den Energiemärkten ist die Grenzkostenoptimierung der Flexibilitätsoptionen aller Energieträger und Akteure im Gesamtsystem. Gleichzeitig kommen den Infrastrukturkosten eine höhere Bedeutung im Preisgefüge zu. Würden Gebote im Großhandel und bei Ausschreibungen von Wind- und Solarenergieanlagen ausschließlich grenzkostenbasiert abgegeben, würde der Zubau neuer Erzeugungskapazität weiterhin nur über zusätzliche Anreize möglich sein. Um dem entgegenzuwirken, wird die Preisbildung in Zukunft deutlich stärker nachfrageorientiert als bisher. Hiermit eröffnet sich der Markteintritt von neuen Akteuren. Neue Produkttypen gewinnen an Bedeutung.13 Angebot, Nachfrage und Infrastrukturengpässe regeln lokal und in Echtzeit den Preis. Auf diese Preisvariationen wird die Nachfrageseite nach Möglichkeit durch Anpassung des Verbrauchsverhaltens reagieren.
IKT sowie Digitalisierung schaffen die nötigen Voraussetzungen hierfür. Die individuelle Flexibilität des einzelnen Kunden erhält einen eigenen Wert. Eine effiziente Markträumung14 wird durch Flexibilität aus den Sektoren Wärme und Verkehr ermöglicht. Um dies bestmöglich zu unterstützen, müssen Energiepreise auf verzerrende Elemente hin untersucht und um diese nötigenfalls bereinigt werden.15 Eine durchgängige Bepreisung von CO2-Emissionen ist ein zentrales Element eines solchen konsistenten Preissystems.
8 Die Sektorenkopplung beschreibt den Austausch und die gemeinsame Nutzung von Energie in den Sektoren Strom, Wärme und Verkehr.
9 Die Flexibilitätsoptionen werden von Energienutzern durch geeignete Anreize freiwillig angeboten. Künstliche Intelligenz, Digitalisierung und Netzautomatisierung helfen, Prognosen zu verbessern, Netzzustände besser vorauszusagen und auszusteuern (BDI IdE Positionspapier KI, 2017).
10 Infrastruktur bildet die Grundlage für die Märkte, gleichzeitig beeinflusst das Vorhandensein und die Gestaltung von Infrastruktur durch die Regulierung das Marktergebnis. Die heutigen Rollen des Netzbetreibers und des Stromvertriebs als Marktakteure stehen in Diskussion.
11 Parallel zum Begriff des „Prosumers“, des Konsumenten, der gleichzeitig selbst Strom erzeugt, ist ein „Flexumer“ ein Konsument, der in seiner Stromnachfrage flexibel ist, und diese Flexibilität auf dem Strommarkt anbieten möchte.
12 Die Grenzkosten zeigen an, wieviel die Produktion einer zusätzlichen Einheit eines Produktes kostet. Bei Energie ist diese Einheit eine Kilowattstunde [kWh]. Für fossile Erzeugungsanlagen sind dies maßgeblich die Kosten für Brennstoff und Emissionszertifikate. Die Grenzkosten regeln bisher den Kraftwerkseinsatz unter der Anforderung eines optimalen Ressourcen- und Primärenergieeinsatzes.
13 Neue Produkte wie beispielsweise Power-Purchase-Agreements (PPAs), die eine Liefervereinbarung direkt aus der Anlage des Erzeugers zum Endverbraucher regeln, Direktliefervereinbarungen, nationale Grünstromzertifikate oder Echtzeitgrünstromzertifikate adressieren und bepreisen zusätzliche Produkteigenschaften von Energien aus Erneuerbarer Erzeugung.
14 Der Markträumungspreis ist der Gleichgewichtspreis, zu dem die Nachfrage genau dem Angebot entspricht.
Fragen
Wie sind die Schnittstellen zwischen dem Strommarkt, den Regelenergiemärkten und den Flexibilitätsoptionen aller Sektoren zu organisieren? Wie entstehen transparente Preisbildungsmechanismen mit regionalen Preissignalen auf den verschiedenen Energiemärkten? Welche verzerrenden Preiselemente gibt es und wie können diese angepasst werden? Wie lassen sich konsistente und an den Zielen der Energiemarktentwicklung orientierte Preissignale bilden, die als wichtige Voraussetzung für ein integriertes Energiesystem gelten?
These 5 Versorgungsqualität wird zu einem Bestandteil des Leistungsversprechens
Die unterschiedlichen Dimensionen der Versorgungsqualität in der heutigen Stromversorgung sind garantierte Produkteigenschaften. Sie sind bislang mit Blick auf die Primärenergieversorgung außerhalb des elektrischen Systems durch die Verfügbarkeit der fossilen Brennstoffe sichergestellt. Die Versorgungszuverlässigkeit ist durch das gemeinsam genutzte Netz gesichert. Dieser Ansatz der garantierten Produkteigenschaften wurde bisher dadurch begünstigt, dass die Versorgung in einem ausreichend dimensionierten elektrischen System mit überwiegend steuerbaren Kraftwerken gewährleistet war.
Im heutigen Marktdesign können Akteure des Wettbewerbsmarkts darauf vertrauen, dass Ungleichgewichte, die auch nach dem erfolgten Handel am Strommarkt noch verbleiben, jederzeit durch Regelleistung und Ausgleichsenergie ausgesteuert werden. Dieser Mechanismus ist jedoch nur dafür gedacht, auf unvorhergesehene Ereignisse wie Kraftwerksausfälle schnell und zuverlässig reagieren zu können, um europaweit die Frequenz stabil zu halten sowie geplante Im- und Exporte zu gewährleisten.
15 Abgaben und Umlagen sind verzerrende Preiselemente, sie können zu unerwünschten Marktergebnissen führen. Die EEG-Umlage, Elemente der Netzentgelte sowie die Stromsteuer können verzerrende Preiselemente darstellen (s. a. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2020/2021, Ziffer 391ff, S. 237).
In einem künftigen System mit sehr hohem Anteil fluktuierender Einspeisung und zunehmender Dynamik auf der Lastseite ist die momentane Versorgungssicherheit jedoch eine Daueraufgabe, an der sich alle Marktakteure stärker als bisher beteiligen müssen. Zukünftig müssen Stromlieferanten hierfür auch verstärkt die Nachfrageseite miteinbeziehen. Beispielsweise können sie mit ihren Kunden Tarife vereinbaren, damit bestimmte Verbrauchsgeräte vorübergehend in ihrem Leistungsbezug reduziert oder zeitlich verschoben werden können (z.B. Wärmepumpen oder Ladevorgänge von Elektrofahrzeugen).16 Auch die Möglichkeit dem System Energie zu liefern (wie etwa Photovoltaik-Systeme und Batterien) kann so eingebunden werden. Um das zu erreichen, müssen Verbraucher durch geeignete Tarife profitieren können, wenn sie dem System Flexibilität bereitstellen. Die erschlossene Flexibilität könnte auch von Verteilnetzbetreibern genutzt werden, um lokale Netzengpässe zu beheben. Technisch ist das mittelfristig mit einer Smart-Meter-Infrastruktur realisierbar. Es würde zudem die heute unzureichenden Anreize für die Investition in Flexibilitätsmechanismen verstärken.
Fragen
Wie lassen sich netzspezifische Tarife in den Stromvertrieb integrieren? Welche Rolle spielt dabei die Regulierung und wie werden die Parameter gesetzt? Wie können transparente und individualisierbare Tarifsysteme in der Energieversorgung entstehen? Welche weiteren Kriterien sollen bei der Tariferstellung berücksichtigt werden?
These 6
Jeder wird am Energiemarkt teilnehmenaktiv oder passiv
Bereits 2021 leisteten über 2,4 Mio. private, gewerbliche oder genossenschaftliche Akteure mit Erneuerbare-Energien-Anlagen, Wärmepumpen, Haus- oder Quartiersspeichern einen aktiven Beitrag an der Energieversorgung. Die Verbreitung von Elektrofahrzeugen, Wärmepumpen und des „Internet der Dinge“ mit Milliarden digitalisierter Geräte verstärken diesen Trend. Jeder Verbraucher, jeder Prosumer oder Flexumer und selbst jedes einzelne Gerät, das Energie erzeugt, wandelt oder speichert, agiert potenziell direkt oder indirekt, passiv oder aktiv an den integrierten Energiemärkten.17
Die Stabilität des Energiesystems hängt zunehmend davon ab, ob sich diese neuen Marktakteure systemdienlich oder zumindest nicht systemschädlich verhalten. Dies gilt insbesondere für Gerätehersteller, Aggregatoren und Dienstleister, die Zugriff auf eine Vielzahl an Geräten oder Anlagen haben.
Fragen
Welche regulierenden oder steuernden Effekte kann ein Smart-Meter-Gateway auf die Systemstabilität haben? Wie sieht das richtige Anreizsystem aus, das eine marktlich orientierte Systemaussteuerung über alle Sektoren und Akteure hinweg ermöglicht und die Stabilisierung des Gesamtsystems fördert? Wie können geeignete Sanktionsmechanismen aussehen? Wieviel Souveränität und Eigenständigkeit soll und kann dem einzelnen Akteur zugestanden werden? Wie und von welcher Instanz werden die Grenzen der Autonomie und Souveränität der Marktakteure gesetzt? Muss eine Pflicht zur Systemstabilisierung eingeführt werden, und wie könnte diese ausgestaltet werden?18
17 Für kleine Verbraucher und Erzeuger wird die Marktteilnahme eher indirekt und mittelbar über einen Dienstleister (Aggregator) organisiert sein, der viele Tausend Anlagen in einem Bilanzkreis bündelt und damit am Markt agiert. Es bleibt jedoch eine marktliche Entscheidung am einzelnen Endgerät, z.B. über Tarifstrukturen, wie auf Angebot, Nachfrage und Preis reagiert wird.
18 Das heutige Niveau an Systemstabilität wird zukünftig dann aufrechterhalten, wenn den Marktakteuren nicht nur ein Bewusstsein und Verständnis für systemrelevantes Verhalten vermittelt wird, sondern auch auf Basis von Akzeptanz und Anreizen, ein systemdienliches Handeln bewirkt wird. Etwa analog zur Straßenverkehrsordnung, die klare Verhaltensregeln und Signale festlegt, um das Miteinander der Verkehrsteilnehmer weitgehend zu organisieren. Dazu gehören dann auch Sanktionsmaßnahmen bei Fehlverhalten.
These 7
Ein stabiler Netzbetrieb wird nicht trotz, sondern durch sektorengekoppelte Netzführung erreicht
Durch die Elektrifizierung der Sektoren Wärme und Verkehr werden neue Lasten mit neuen Gleichzeitigkeitsmustern in das Stromnetz integriert. Zudem kommen ausgleichende Speicher- und Trägheitspotenziale durch die Sektoren Wärme und Verkehr in das Stromsystem. Die ökonomischen Kosten für die Abfederung von Engpässen in einem flexiblen, sektorengekoppelten Stromsystem sind geringer als im jetzigen Energiesystem.19
Die Stabilisierung des Gesamtsystems kann durch Einbeziehung aller verfügbaren Speicher- und Trägheitspotenziale über die Sektorengrenzen hinweg optimiert werden. Die Digitalisierung bildet dabei einen zentralen Enabler. Diese Potenziale zu heben, umfasst sowohl ökonomisch-technische als auch regulatorische Aspekte. Eine sektorengekoppelte Netzführung kann also neue Handlungsspielräume schaffen und dabei ökologische Vorteile nutzen und wirtschaftliche Nachteile auf Basis stark erweiterter Steuerungs- und Regelfunktionen kompensieren. Dafür sind die entsprechenden effizienten Anreizsysteme zu schaffen.
19 Lastabwurf oder Redispatch (siehe auch Fußnote 19) als Notmaßnahmen sind ökonomisch teurer als ein, über flexible Tarife gesteuerter, kontinuierlicher Ausgleich. Stromnetzausbau als Engpassbeseitigung erhält damit ebenfalls eine kostendämpfende Komponente, da erst später eine Ausbaunotwendigkeit gegeben ist als in einem starren System ohne Nachfrageflexibilität.
Fragen
Welche Hürden stehen einer Sektorenkopplung entgegen? Wie gelingt die Transformation vom bestehenden Anreizsystem aus Redispatch20 und reinem Stromnetzausbau hin zu einer Belohnung von intelligenter Flexibilität in einem integrierten, sektorenübergreifenden Gesamtsystem? Welcher regulatorische Rahmen muss gebildet werden, um diese Entwicklung zu fördern? Wie können die Potenziale der Digitalisierung für diese Ziele noch besser eingesetzt werden? Welche Rolle kann (grüner) Wasserstoff in urbanen Zentren für die Strom- und Wärmeerzeugung in kombinierten kommunal-industriellen Ansätzen leisten?
20 Unter Redispatch versteht man Eingriffe in die Erzeugungsleistung von Kraftwerken, um Leitungsabschnitte vor einer Überlastung zu schützen. Droht an einer bestimmten Stelle im Netz ein Engpass, werden Kraftwerke diesseits des Engpasses angewiesen, ihre Einspeisung zu drosseln, während Anlagen jenseits des Engpasses ihre Einspeiseleistung erhöhen müssen. Auf diese Weise wird ein Lastfluss erzeugt, der dem Engpass entgegenwirkt.
These 8
Die Digitalisierung des Energiesystems steht noch am Anfang
Das Energiesystem ist wettbewerblich zu organisieren. Möglichst viele Leistungen zur Sicherstellung einer kostengünstigen und zuverlässigen Energieversorgung werden von Akteuren der beteiligten Märkte erbracht. In einem hochgradig dezentralen System werden solche Leistungen in der Regel durch das Zusammenspiel digitaler Endgeräte mit eher zentralen Serviceplattformen realisiert. Ein bereits heute existierendes Beispiel ist die Bereitstellung schneller Regelleistung durch virtuelle Kraftwerke.
Die digitale Infrastruktur des Energiesystems muss funktional erweiterbar sein. Leistungen, die heute noch nicht bekannt sind, die dafür Endgeräte mit heute noch nicht bekannter Funktionalität nutzen werden, sollen effizient und ohne nennenswerte Eintrittsbarrieren entstehen können. Die Digitalisierung des Energiesystems sollte nicht nur bereits heute bekannte Anwendungsfälle abdecken. Sie muss vielmehr künftige Entwicklungen konstruktiv in Hard-, Soft- und Firmware ermöglichen. Dabei muss die Digitalisierung in der Gestaltung von Standards und Regulierung offen für neue Anwendungen und Funktionen sein. Dafür wird eine sichere, möglichst universelle und generell verfügbare digitale Konnektivität benötigt, die auch europäisch und international Anwendung findet.21
Fragen
Wie grenzen wir künftig behördliche Zuständigkeiten und Instanzen zwischen digitaler Infrastruktur, Energiesystem sowie Soft- und Hardware ab? Wo steht der Regulierer und wie kann die Regulierung in die neue, dynamische Struktur geführt werden? Welche Resilienz-Anforderungen müssen wir an das IKT System als solches stellen? Wie sollten Standards und Normen ausgestaltet werden, damit sie sich mit der Zeit und den Anforderungen weiter entwickeln können?
These 9
Lokale Strukturen gewinnen weiter an Bedeutung und bieten Chancen
Nahezu alle Anlagen, die aus Erneuerbaren Energien Strom erzeugen, sind in der Verteilnetzebene angeschlossen. Bisher erfolgte die systemweite Abstimmung von Erzeugung und Verbrauch durch die Koordinierung der Kraftwerke auf der Übertragungsnetzebene.
Künftig umfasst die Lösung dieser Aufgabe das gesamte System bis hin zur lokalen Verteilnetzebene. In der Folge wächst die Zahl der zu koordinierenden Komponenten von wenigen Hundert auf mehrere Millionen. Damit gewinnt die lokale Verteilnetzebene weiter an Bedeutung. Hinzu kommt, dass die neuen Verbrau
Gleichzeitigkeitsfaktoren 22 in der Nutzung aufweisen und gesondert koordiniert werden müssen. Dies erhöht die Anzahl der zu koordinierenden Komponenten nochmals erheblich.
In der Folge müssen Prognosen zu Verbrauch und Erzeugung genauer, kurzfristiger und auf das lokale System gerichtet erstellt werden. Die Systemführung wird deutlich herausfordernder. Hierfür muss die Expertise der lokalen Akteure und der Verteilnetzbetreiber entsprechend weiterentwickelt werden. Um die wachsende Anzahl von Anlagen weiterhin sicher steuern zu können, ist es sinnvoll, Aggregationsstufen zu bilden. Diese Stufen könnten gemäß dem Subsidiaritätsprinzip23 ausgestaltet werden.
Eine lokale Komponente bei der Organisation der Energieerzeugung bietet eine Reihe von Chancen. Sind die lokalen Netzstrukturen intelligent gestaltet und mit steuerbaren Komponenten in Verbrauch, Erzeugung und Speicherung ausgestattet, besteht die Möglichkeit nach einem vollständigen Netzzusammenbruch, einzelne Netzbereiche 24 schneller wieder zu stabilisieren und Stück für Stück zu größeren Netzgebieten zusammenzuschalten.
Mit einer intelligenten Ausgestaltung der Netze können die Potenziale für Flexibilität25gehoben werden und letztlich auch die Klimaziele besser umgesetzt werden. Ein solches Modell bietet zusätzlich Möglichkeiten für Partizipation und kann aktive Bürger besser einbinden.
22 Der Gleichzeitigkeitsfaktor beschreibt bei der Netzplanung die Wahrscheinlichkeit, mit der die angeschlossene Leistung bestimmter Verbraucher an einem Netzanschluss zum selben Zeitpunkt mit voller Last abgerufen wird. Der Gleichzeitigkeitsfaktor für Beleuchtung ist beispielsweise höher als der für Haarföhns.
23 Subsidiarität entspricht dem Leitmotiv: Löse entstehende Netzprobleme lokal und delegiere die Problemlösung nur dann auf höhere Netzebenen des Energiesystems, wenn diese lokal nicht mehr effizient lösbar sind (BDI IdE 2013, Impulse für eine smarte Energiewende, S. 6).
24 Echte Inselnetze, die vollständig abgekoppelt vom übrigen Versorgungsnetz entstehen, sind sehr selten und ökonomisch wenig attraktiv. Sie bilden sich nur dann, wenn die Abgabenlast zusammen mit dem Netz-Strompreis höher liegt als die Eigenerzeugung, stabiler Inselnetzbetrieb mit Versorgungsbackup zusammen. Von schwarzstartfähigen Inselnetzen spricht man bei nachgelagerten Subnetzen, wenn in einem vom öffentlichen Netz abtrennbaren Bereich durch steuerbaren Verbrauch und Erzeugung die notwendige Spannung und Frequenz stabil wieder aufgebaut werden kann. Um dieses Subnetz mit dem Gesamtnetz wieder zu verbinden, ist eine Synchronisierung der Frequenzen erforderlich.
25 Die SINTEG-Marktplattformen haben Flexibilitäten erstmals für den Verteilnetzbetreiber sichtbar und nutzbar gemacht.
Fragen
Wie wird der Systembetrieb künftig organisiert? Welches Rollenverständnis zwischen den Akteuren Verteilnetzbetreiber (VNB) und Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) entwickelt sich? Benötigen wir künftig mit der Verantwortung für die Systemstabilität im Verteilnetz eine neue, eigenständige Rolle? Wie gehen wir netztechnisch und planerisch mit dem Unterschied von Erzeugungsregionen und verbrauchsdominierten Regionen um? Wie sind die No-Regret-Maßnahmen26 geregelt und wer führt sie aus? Wie sieht die Kommunikationsstruktur im grenzüberschreitenden Netzbetrieb aus?
These 10
Digitale Innovationszyklen dominieren die Entwicklung des Energiesystems
Die einzelnen Teilsysteme des Energiesystems entwickeln sich zunehmend in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Innovationen in Soft- und Hardware haben kürzere Lebenszyklen und höhere Innovationsfrequenzen als Transformatoren und Leiterseile. Diese Unterschiede müssen auf allen Ebenen antizipiert und in der Entwicklung des Gesamtsystems berücksichtigt werden. Dies geschieht am effizientesten über offene Systeme und Standards.
Vor vierzig Jahren entstand der energiewirtschaftliche Rahmen mit der wettbewerblichen Organisation des Energiemarktes und regulierten Gebietsmonopolen in der Infrastruktur. Die Märkte handeln seither unter dem Paradigma der Effizienz und unter der Annahme technisch ausgereifter und weitgehend fertig ausgebauter Energieversorgungssysteme. Dagegen funktionieren Anreize für Investitionen in Engpasskapazitäten nicht ausreichend. Bei den Netzen hat dieses Paradigma der Effizienz zum heutigen Regulierungsrahmen geführt. Er misst über die Qualitätsregulierung die Erbringung der erforderlichen Leistung und realisiert mit der Effizienzregulierung das kostengünstigste Angebot. In diesem System ohne Digitalisierung überwiegen lange Entwicklungszyklen.
Im Kontext der Energiewende trifft jedoch die Annahme eines technisch zu Ende entwickelten, eingeschwungenen27 Systems nicht mehr zu. Dies gilt auch für die kommenden zehn bis 20 Jahre. Die Verlagerung der weitaus überwiegenden Zahl der aktiven Elemente der elektrischen Energieversorgung auf die Verteilnetzebene erfordert eine gezielte, pro-aktive, funktionale Weiterentwicklung der Infrastruktur, unter anderem über eine durchgängige Digitalisierung.
Eine solche Weiterentwicklung wird nicht ausschließlich marktgetrieben stattfinden. Stattdessen muss der Regulierungsrahmen so erweitert werden, dass die relevanten Akteure (Infrastrukturbetreiber, Nutzer, Ausrüster) zusammen mit den Regulierungsinstitutionen die erforderlichen Entwicklungsschritte identifizieren und deren Umsetzung sicherstellen, ohne dabei Innovation zu unterbinden.28 Die Netzregulierung muss also die Digitalisierung deutlich in den Fokus stellen und dabei die Teilsysteme mit unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten zusammenfügen.
Fragen
Wie kann eine Regulierung gestaltet werden, die unterschiedliche Innovationsgeschwindigkeiten im Energiesystem berücksichtigt? Welche Standards können entwickelt werden und sich durchsetzen?
Wie schaffen wir die Europäisierung der Transformation der Energiesysteme, ohne die Besonderheiten nationaler Versorgung zu stark einzuschränken?29
27 Mit dem Begriff „eingeschwungen“ wird ein System bezeichnet, das in einem stabilisierten Zustand über längere Zeit ohne Veränderung läuft.
28 Ein Beispiel für einen solchen Ansatz bei einer anderen, sich funktional stetig weiterentwickelnden Infrastruktur, den Mobil funknetzen, ist die Definition der Generationen der Mobil funkstandards durch Regulierungsbehörden, Netzbetreiber und Technologieanbieter (ITU, 3GPP und GSMA).
29 Beispielsweise wird in Frankreich traditionell mit elektrischen Radiatoren geheizt, die im Winter zu sehr hohen Lasten führen, zudem wird Frankreich nicht zeitnah aus der Kernkraft aussteigen. Entsprechend ergeben sich in der internationalen Marktbetrachtung nationale Besonderheiten, die im Gesamtsystem antizipiert und aufgefangen werden müssen.
Schlussbemerkung
Mit den vorliegenden 10 Thesen richten die Mitglieder der BDI Arbeitsgruppe Internet der Energie (IdE) den Blick in die Zukunft. Bei der Erarbeitung der Thesen war den Autoren wichtig, Bestehendes in Frage zu stellen und Raum für Neues zu öffnen.
Bis zum Jahr 2045 soll das energiewirtschaftliche Gesamtsystem weltweit treibhausgasneutral sein. Es muss dabei eine starke inländische Industrie sicher und wirtschaftlich mit den erforderlichen Energiemengen versorgen. Mit der Veröffentlichung der Klimapfade 2017 und den Klimapfaden 2.0 vom November 2021 hat der BDI die Herausforderungen für das System benannt und Lösungspfade für die einzelnen Sektoren und Wirtschaftszweige aufgezeigt.
Auf Basis dieser Szenarien hat die Arbeitsgruppe IdE die Aufgaben beschrieben, die mit dem Umbau des Energiesystems auf die Akteure, Funktionen und Märkte zukommen werden. Damit wollen die Autoren einen ergebnisoffenen Diskussionsbeitrag leisten. Die 10 Thesen sind bewusst als Einladung zum Diskurs zu verstehen.
Den Autorinnen und Autoren geht es hierbei um die notwendige Veränderung in einem sinnvollen, aber auch machbaren Rahmen. Der Umbau des Energiesystems hat bereits begonnen und gewinnt zunehmend an Dynamik. Für eine breite Akzeptanz in der Gesellschaft bedürfen die dargestellten Lösungsansätze weiterer Diskussionen. Die Thesen greifen die Aspekte auf, erklären und liefern Vorschläge für mögliche Entwicklungspfade.
Die Thesen skizzieren den jeweiligen Gestaltungsspielraum. Die daran anschließenden Leitfragen sollen helfen, die Herausforderungen einzuordnen und den Aktionsraum aufzuspannen. Die Impulse aus diesen 10 Thesen für ein zukünftiges integriertes Energiesystem 2030 sollen nach der Überzeugung der Autoren den Diskurs an den richtigen, entscheidenden Stellen anregen und den Handlungsspielraum der Akteure in diesem System beschreiben.
Im Sinne der gemeinsamen Verantwortung stellen sich die Autorinnen und Autoren gerne den Fragen und Gesprächsrunden, um die Thesen im Dialog weiterzuentwickeln.
Wir freuen uns auf den Dialog mit Ihnen.