Beyond FTAs
Die Zukunft von Freihandel und Globalisierung
Executive Summary
Die aktuelle Weltlage erfordert von der Politik nicht nur neue strategische Ansätze, sondern auch konkrete Maßnahmen, damit Deutschland Industrieland, Exportland und Innovationsland bleibt Deutschland und Europa müssen aus einer Position der wirtschaftlichen Stärke heraus handeln können. Eine weitsichtige Wirtschaftspolitik und ein international wettbewerbsfähiger Europäischer Binnenmarkt sind dafür die Voraussetzung.
Die Zukunft von Freihandel und Globalisierung
Der freie, regelbasierte Welthandel ist die Grundlage für mehr Wirtschaftswachstum und Wohlstand
Die WTO bleibt für weltweit gleiche Wettbewerbsbedingungen unverzichtbar. Allerdings müssen angesichts des grassierenden Protektionismus, der staatlichen Interventionen und der nationalen Alleingänge neue Partner für mehr Freihandelsabkommen gefunden werden.
Die Verhandlungen für diese Freihandelsabkommen müssen angesichts der geopolitischen Veränderungen zügiger vorangehen Dies erfordert von der EU und ihren Mitgliedstaaten, vermehrt Anreize zu schaffen, um auf der Gegenseite den Wunsch nach weiterführenden Verhandlungen zu steigern, um Rumpfabkommen möglichst zu vermeiden Gleichzeitig müssen nationale Regierungen geostrategische und geoökonomische Implikationen gegenüber der Öffentlichkeit deutlicher herausstellen, um den Rückhalt in der europäischen Bevölkerung für mehr Freihandel zu sichern.
Zudem müssen potenzielle Partner für Handelsabkommen deutlich differenzierter behandelt werden Die EU-Kommission muss ihre Verhandlungspositionen stärker als bislang ins Licht der aktuellen geopolitischen Veränderungen stellen und einem Verhandlungsabschluss im Sinn der Europäischen Sicherheitsstrategie vereinzelt Vorrang geben.
Darüber hinaus müssen neue Formen des Engagements, wie zum Beispiel Clubmodelle, geschaffen werden, um freien und regelbasierten Handel attraktiver zu machen und niedrigschwelliger zu ermöglichen. Schließlich braucht es neuerdings vermehrt handelspolitische Schutzinstrumente und Screening-Mechanismen mit Maß und Ziel, um handelspolitisch wehrhaft zu bleiben.
Die Globalisierung im Umbruch
Die Globalisierung, die internationale Verflechtung von Märkten für Waren, Kapital und Dienstleistungen, ist die Grundlage für wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand. Die deutsche Industrie ist einer der Treiber der Globalisierung. Sie erweist sich außerdem seit Jahrzehnten als Jobmotor. Die Zahl der Industriearbeitsplätze ist in den letzten 15 Jahren nicht nur konstant hoch, sondern auch spürbar gestiegen.1 Der wirtschaftliche Erfolg der exportorientierten deutschen Industrie trägt auch wesentlich zu weiterhin steigenden Steuereinnahmen und damit zum gesamtgesellschaftlichen Wohlstand bei.2
Die Herausforderungen der deutschen Industrie sind sehr groß. Die aktuelle Lage ist besorgniserregend. Die gesamtwirtschaftlichen Rahmendaten für 2023 haben sich gegenüber den zu Beginn des Jahres formulierten Prognosen nochmals verschlechtert. Der Ausblick zum Jahreswechsel ist eher verhalten. In den Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes gehen die Auftragsbestände deutlich zurück. Die Industrieproduktion sank in der Zweimonatsbetrachtung August / September 2023 gegenüber dem Vorzeitraum um 0,9 Prozent und im Vergleich zum Vorjahreszeitraum sogar um minus zwei Prozent. Der BDI rechnet für das Jahr 2023 nunmehr mit einer stagnierenden Produktion.3 Diese schwierige wirtschaftliche Lage schlägt mittlerweile auch auf den bisher noch robusten Arbeitsmarkt durch. Wie dringlich es ist, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern, belegen die Daten zu den Direktinvestitionen: Im Jahr 2022 flossen rd. 125 Mrd. Euro mehr Direktinvestitionen aus Deutschland ab als im gleichen Zeitraum in Deutschland getätigt wurden. Das ist der höchste NettoKapitalabfluss, der jemals in Deutschland verzeichnet wurde.4 Gerade bei energieintensiven Branchen droht eine massive Abwanderung mit negativen Folgen für die Wertschöpfungsketten und die Gesamtwirtschaft.
Eine unverzichtbare Grundlage für den weltweiten Erfolg der Unternehmen in Deutschland und in Europa sind und bleiben hervorragende Standortbedingungen. Für die exportorientierte deutsche Industrie sind zudem europäische Handels- und Investitionsabkommen zur Schaffung bzw. Sicherung von adäquatem Marktzugang in Drittmärkten sowie die Vertretung europäischer Interessen in internationalen Gremien, bspw. auf Ebene der WTO oder der OECD, von enormer Bedeutung. Gleichzeitig können handelspolitische Schutzmaßnahmen im Rahmen der Vereinbarungen auf Ebene der WTO kurzfristig einen Beitrag zur Schaffung fairen Wettbewerbs leisten, müssen aber flankiert werden durch eine aktive Standortepolitik, die an den Ursachen ansetzt
Dieses Rahmenwerk stärkt die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen im globalen Wettbewerb, jedoch gerät es zunehmend unter Druck: Der geopolitische Wettbewerb nimmt zu, der Multilateralismus steckt in der Krise und der Missbrauch der Handelspolitik zur Durchsetzung einseitiger nationaler Interessen setzt sich vermehrt durch. Darüber hinaus steht die globale Gesellschaft vor der zivilisatorischen Herausforderung des sich beschleunigenden Klimawandels. Neben diesen enormen Herausforderungen erfordern wirtschaftlicher Gegenwind, Konkurrenz um Ressourcen, zunehmende
1 Statistisches Bundesamt, Erwerbstätige und Arbeitnehmer nach Wirtschaftsbereichen (Inlandskonzept) 1 000 Personen - Statistisches Bundesamt (destatis.de), abgerufen am 30 7.2023.
2 IW Köln, BDI, VCI, Die Steuerbelastung der Unternehmen in Deutschland, Vorschläge für ein wettbewerbsfähiges Steuerrecht 2020/21, S. 10.
3 BDI, Industriepolitik Dossier 11/2023, Publikation (bdi.eu) abgerufen am 1.12.2023
4 IW Köln, iwd, Direktinvestitionen 25.7.2023; Firmenkapital fließt aus Deutschland ab - iwd.de abgerufen am 1.8.2023.
staatliche Eingriffe und der Druck zur ungewollten wirtschaftlichen Entkopplung (De-coupling) politisches Handeln.
Die globale und politische Landschaft veränderte sich schrittweise aufgrund der globalen Finanzkrise nach 2007, der zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China und dem hohen Druck auf die globalen Lieferketten aufgrund der Covid-19-Pandemie. Darüber hinaus brachte der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine neben menschlichem Leid auch wirtschaftliche Komplikationen mit sich. Infolgedessen sind marktorientierte und regelbasierte Volkswirtschaften gezwungen, eine zunehmende Fragmentierung zu bekämpfen. Der BDI versucht, mit diesem Positionspapier, Antworten zu den beschriebenen Herausforderungen zu skizzieren.
Rechtliche Grundlagen des multilateralen Handels
Die Mitgliedschaft Deutschlands und anderer Länder in der Welthandelsorganisation (WTO) basiert auf spezifischen Übereinkommen und Abkommen der WTO Wesentlich zu erwähnen ist insbesondere das "Übereinkommen über die Gründung der Welthandelsorganisation" (Agreement Establishing the World Trade Organization), das sog. "Marrakesch-Abkommen" Dieses Abkommen wurde am 15. April 1994 in Marrakesch, Marokko, unterzeichnet und trat am 1. Januar 1995 in Kraft. Es bildet das Grundgerüst der WTO und enthält die Grundsätze und Regeln für den internationalen Handel. Ein wichtiger Bestandteil des Marrakesch-Abkommens ist das "Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen" (General Agreement on Tariffs and Trade, GATT), mit dem Handelsbarrieren abgebaut und der internationale Handel erleichtert werden konnte Daneben regelt das General Agreement on Trade in Services (GATS) den Handel mit Dienstleistungen und fördert die Liberalisierung dieses Sektors. Zudem legt das Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS) die Regeln für den Schutz geistigen Eigentums im internationalen Handel fest.
Die WTO stellt das multilaterale Handelssystem dar und legt grundlegende Regeln für den internationalen Handel fest. Alle Mitgliedsländer der WTO sind vertraglich zur Einhaltung dieser Regeln verpflichtet. Dies umfasst die Meistbegünstigungsregel, die Inländerbehandlung und die Transparenz bei Handelsregelungen. Die WTO-Mitgliedschaft bietet den Mitgliedern einen Rahmen für die Beilegung von Handelsstreitigkeiten und die Möglichkeit, Beschwerden gegen andere Mitglieder vorzubringen.
Freihandelsabkommen (Free Trade Agreements, FTAs) stehen in einem bestimmten rechtlichen Zusammenhang zur WTO-Mitgliedschaft Deutschlands und der EU. Die WTO und FTAs sind miteinander verknüpft, sie ergänzen sich aber auch. FTAs sind bilaterale oder multilaterale Abkommen zwischen Ländern oder Handelsblöcken, die den Handel und die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Parteien erleichtern. FTAs können Regeln für den Zugang zu den Märkten, die Senkung oder Beseitigung von Zöllen und Handelshemmnissen sowie die Zusammenarbeit in verschiedenen wirtschaftlichen Bereichen enthalten. Diese Abkommen können spezifische Regelungen enthalten, die über die allgemeinen WTO-Regeln hinausgehen.
Der rechtliche Zusammenhang zwischen FTAs, der WTO-Mitgliedschaft Deutschlands und der EU besteht darin, dass FTAs in der Regel so gestaltet sind, dass sie mit den Verpflichtungen der WTO im Einklang stehen. FTAs dürfen die grundlegenden WTO-Regeln nicht verletzen. Dies bedeutet, dass FTAs die WTO-Verpflichtungen ergänzen können, aber nicht widersprechen dürfen. Darüber hinaus können FTAs die speziellen Interessen und Bedürfnisse der beteiligten Länder oder Handelsblöcke berücksichtigen.
Die EU verhandelt FTAs im Namen aller ihrer Mitgliedstaaten.5 Diese FTAs werden so gestaltet, dass sie den EU-Rechtsrahmen und die WTO-Verpflichtungen respektieren. In vielen Fällen enthält ein FTA spezielle Bestimmungen, die den Handel zwischen der EU und einem Drittland erleichtern.
Die gemeinsame Handelspolitik der EU
Die gemeinsame Handelspolitik (Common Commercial Policy, CCP) der EU ist ein Bestandteil des AEUV und bildet die Grundlage für die Handelspolitik der EU. Sie regelt, wie die EU Handelsabkommen verhandelt und umsetzt, einschließlich FTAs. 6 Gemäß den EU-Verträgen müssen FTAs vom Europäischen Parlament und vom Rat der Europäischen Union, der die Mitgliedstaaten vertritt, ratifiziert werden. Dieses Zustimmungsverfahren stellt sicher, dass die FTAs im Einklang mit den EU-Verträgen stehen. Die CCP enthält Grundsätze und Ziele für die Verhandlung von FTAs, einschließlich der Förderung des freien Handels und der Einhaltung internationaler Normen und Standards.
Es gibt bestimmte Kapitel und Themen, die in den meisten Freihandelsabkommen (Free Trade Agreements, FTAs) enthalten sein und geregelt werden müssen, um den Handel zwischen den Vertragsparteien zu erleichtern und zu fördern. Diese umfassen z.B. Marktzugang für Waren, Investitionsschutz, Streitbeilegung, Zollabfertigung und Zollverfahren, Arbeit und Arbeitsstandards, Nachhaltige Entwicklung, Geistiges Eigentum, Handel mit Dienstleistungen, Wettbewerbsregeln, oder Handelserleichterung Diese rechtlichen Vorgaben und Abkommen gewährleisten die Kohärenz und Einhaltung der EUHandelspolitik, insbesondere bei der Gestaltung und Umsetzung von FTAs mit anderen Staaten. Es ist wichtig zu beachten, dass die genauen Bestimmungen in einzelnen FTAs variieren können, abhängig von den Verhandlungen und den Interessen der beteiligten Parteien.
5 Artikel 207 iVm Art. 218 AEUV
6 Publications Office of the European Union, Common commercial policy, EUR-Lex - a20000 - ENEUR-Lex (europa.eu); abgerufen am 9.11.2023.
Beyond FTAs: Die Zukunft von Freihandel und Globalisierung
Angesichts der beschriebenen Herausforderungen begrüßt die deutsche Industrie die im Sommer 2023 von der deutschen Bundesregierung und der Europäischen Kommission (EU-Kommission) vorgelegten Strategien zur integrierten Sicherheit für Deutschland7 und zur wirtschaftlichen Sicherheit Europas 8 Ausgehend von den darin enthaltenen Beschreibungen der aktuellen Weltlage müssen nun seitens der Bundesregierung und der EU-Kommission konkrete Maßnahmen folgen, um die Rolle Deutschlands und Europas in einem international hochdynamischen Umfeld dauerhaft zu stärken.
Strategischen Ansätzen müssen handels- und wirtschaftspolitische Maßnahmen folgen
Mit der Europäischen Economic Security Strategie betont die EU-Kommission den Einsatz von Handelskontrollinstrumenten zur Erhöhung der wirtschaftlichen Sicherheit. Dieser ist notwendig, weil Interdependenz in einer Welt globalisierter Handelsströme Verwundbarkeiten geschaffen hat. Gleichzeitig fehlt Europas Wirtschaftssicherheitsstrategie eine positive Handelsagenda. So braucht es klare Konzepte zur Öffnung relevanter Märkte und mehr Diversifizierung von Lieferketten. Die Strategie bleibt auch Vorschläge für attraktive Standortbedingungen bzw. eine zukunftsgewandte Industriepolitik sowie für Anreize zur wirtschaftlichen Kooperation schuldig.
Die 2023 veröffentlichten Strategien der Bundesregierung zur Erhöhung der Sicherheit und zum Umgang mit China gehen hier etwas weiter. In der China-Strategie der Bundesregierung, der die deutsche Sicherheitsstrategie zu Grunde liegt, legt die Bundesregierung einen deutlichen strategischen Fokus auf eine stärkere Diversifizierung von Absatz- und Beschaffungsmärkten 9 Insbesondere kritische Abhängigkeiten bei Rohstoffen oder Vorprodukten müssen angesichts wachsender geopolitischer Spannungen möglichst rasch reduziert werden. Gleichzeitig wird anerkannt, dass China weiterhin bedeutender Handelspartner bleiben wird. Deutschland und die EU brauchen eine umfassende und langfristig angelegte Strategie zur Diversifizierung. Dies kann nur in enger Partnerschaft von Politik und Industrie gelingen. In der Handelspolitik brauchen wir mehr Flexibilität und müssen stärker auf die Wünsche unserer Partner in Asien, Lateinamerika, Afrika und anderswo eingehen.
Ausgehend von diesen strategischen Konzepten müssen die Bundesregierung und die EU-Kommission die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Unternehmensstandorts in den Blick nehmen. Langfristig entscheidend im internationalen Wettbewerb ist, wie gut wir offensiv aufgestellt sind. Der Wirtschaftsstandort Europa muss nicht nur resilienter, er muss auch attraktiver für Investitionen und dynamischer werden. Nur als starker Binnenmarkt und globaler Innovationstreiber ist die EU in der Lage, selbstbestimmt mit konkurrierenden Industriestaaten umzugehen. Die Betonung des „de-risking“ anstatt eines „de-coupling“ ist deshalb richtig. Sie adressiert geopolitische Risiken, betont aber gleichzeitig Deutschlands Interesse an substanziellen Wirtschaftsbeziehungen und an Kooperationen, bspw. mit China zur Bewältigung globaler Herausforderungen.
De-Risking, das neue Paradigma der Globalisierung
Die Strategie des De-Risking scheint sich weltweit in der Handelspolitik durchzusetzen als Antwort auf die genannten geoökonomischen und -politischen Herausforderungen. Künftig sollten globale Wertschöpfungsketten nicht mehr nach Effizienz strukturiert sein, sondern stärker nach dem Kriterium der
7 Nationale Sicherheitsstrategie vorgestellt | Bundesregierung
8 An EU approach to enhance economic security (europa.eu)
9 Neuer Kompass: Die China-Strategie | Bundesregierung
Resilienz ausgerichtet werden. Damit sollen Lieferketten gestärkt und Anreize zur Risikominimierung gesetzt werden. Diese politische Vision in der Realität umzusetzen ist jedoch nicht trivial. Es erfordert vielfältiges Handeln und gleichzeitig eine deutlich differenziertere Herangehensweise in unterschiedlichen Bereichen entlang der gesamten industriellen Wertschöpfungskette
Zuvorderst muss der Handel nach WTO-Regularien für die EU und ihre Mitgliedstaaten grundlegendes Prinzip und Ziel bleiben, um Wirtschaftswachstum und Wohlstand sicherzustellen. Auch für die deutsche Industrie bleiben multilaterale Handelsabkommen der handelspolitische Maßstab. Zwar befindet sich die WTO derzeit in einer Krise, jedoch gibt es Handlungsspielraum. Die EU und Deutschland sollten Initiativen anführen und unterstützen, die sich auf plurilaterale Abkommen zwischen den Mitgliedern der WTO fokussieren, sich der Herausforderung handelsverzerrender Subventionen stellen und Lösungen im Zusammenhang mit dem Streitbeilegungsgremium gemeinsam mit den Vereinigten Staaten suchen
Zweitens kann mit der Umsetzung bestehender Abkommen und der Aushandlung neuer Freihandelsabkommen mehr Stabilität und Widerstandsfähigkeit erreicht werden. In diesem Sinn und auch mit Blick auf die aktuellen geoökonomischen und geostrategischen Entwicklungen ist die EU-Kommission gefordert, weitere tiefgreifende und umfassende („deep & comprehensive“) Freihandelsabkommen (FTA) abzuschließen. Der Abschluss von FTA ist jedoch kein Selbstzweck. Er hat einerseits zum Ziel, faire Rahmenbedingungen für Unternehmen und Investitionen auf beiden Seiten der Vertragspartner zu schaffen. Dies verspricht wechselseitige Gewinne. Auf der anderen Seite bleibt der Abschluss zusätzlicher FTA nicht einfach. Es müssen kooperationswillige Partner einzelne Staaten oder Wirtschaftsbündnisse gefunden werden, die für sich ebenfalls einen Vorteil erkennen wollen. Die EU und einige ihrer Mitgliedstaaten, wie bspw. Deutschland, haben zuletzt an Attraktivität als Handelspartner gegenüber anderen Weltregionen eingebüßt. Hohe Energiepreise, Bürokratie und Berichtspflichten sowie eine demografisch alternde Gesellschaft verhindern die Ansiedelung internationaler Investitionen.
Beyond FTAs setzt eine flexible Handelspolitik voraus
Der aktuelle Verlauf der verschiedenen FTA-Verhandlungen legt jedoch die praktischen Hindernisse einer schnellen Diversifizierung offen. Einige Staaten in aufstrebenden Wirtschaftsräumen, bzw. Länder des sog. Globalen Südens, zeigen sich zunehmend selbstbewusst. Nicht selten wird der EU-Kommission westlich kolonialistisches Verhalten vorgeworfen.10 Hohe europäische ESG-Standards haben ihre Berechtigung, werden jedoch in aktuellen Verhandlungen oft als Hindernis einer Einigung wahrgenommen. Dadurch gestalten sich die Verhandlungen selbst mit sog. Wertepartnern schwierig und Abschlüsse erscheinen nicht mehr selbstverständlich
Im Ergebnis scheint der Rückschluss naheliegend, vom Ansatz für „deep and comprehensive“ Handelsabkommen abzurücken und die Komplexität zu reduzieren. Im Einzelfall kann es sogar sinnvoll sein, sogenannte Rumpfabkommen abzuschließen und bspw. Nachhaltigkeitskapitel zu einem späteren Zeitpunkt abschließend zu verhandeln Ein modularer Ansatz kann jedoch nur im Ausnahmelfall eine sinnvolle Alternative darstellen, vorausgesetzt, beide Seiten haben weiterhin Anreize für Nachverhandlungen. Insofern ist insbesondere in der politischen Debatte im Inland eine differenzierte Betrachtung jedes einzelnen Abkommens notwendig
10 vgl. Freihandelsabkommen: Kommt der EU-Mercosur-Deal endlich 2023? (wiwo.de)
Die Trennung von Investitionsschutz und Freihandelsabkommen kann hier einen Beitrag leisten. Der Schutz europäischer Investitionen im Ausland ist wichtig. Die komplexen Verhandlungen zu Freihandelsabkommen scheitern jedoch oft an den gegenseitigen Anforderungen der Verhandlungspartner im Bereich des Investitionsschutzes. Zur Verringerung der Komplexität solcher Abkommen könnten diese Bereiche getrennt voneinander verhandelt werden
Darüber hinaus muss die Bundesregierung geostrategische und geoökonomische Implikationen gegenüber der Öffentlichkeit deutlich machen, um schlussendlich auch den demokratisch legitimierten Rückhalt für mehr Freihandel zu sichern. De-Risking gelingt nur, wenn neue Wertschöpfungsketten und Bezugsquellen durch Abkommen erschlossen werden können
Verhandlungspartner nach individuellen Kriterien betrachten
Insofern geht mit einer Handelspolitik „Beyond FTA“ das Ende der pauschalen politischen Vorgehensweise für neue Handelsverträge und Abkommen einher. EU-Kommission und Bundesregierung sind gefordert, jeden Verhandlungspartner nach individuellen Kriterien zu betrachten und nach spezifischen Anforderungen auf beiden Seiten zu behandeln. Das impliziert auch, dass die eigenen Verhandlungspositionen stärker als bislang im Licht der aktuellen geopolitischen Veränderungen gesehen werden müssen. In Einzelfällen muss ein schneller Verhandlungsabschluss im Sinn der Europäischen Sicherheitsstrategie Vorrang haben Die EU-Kommission darf im Rennen um die Erschließung neuer Märkte nicht zurückfallen.
Zusätzlich müssen andere Formen des Engagements gefunden und wichtige Beziehungen gestärkt werden. Der im Mai 2023 von der Business 7 im Rahmen des B7-Gipfels in Tokio vorgeschlagene „Free and Fair Trade and Investment Club" könnte eine Blaupause für die Schaffung von neuen Wachstumspolen sein.11 Der Club soll einen Rahmen für Handel und Investitionen schaffen, in dessen Mittelpunkt die G7-Mitglieder und die EU stehen.
Handelspolitische Wehrhaftigkeit mit Maß und Ziel
Schließlich sollte ein geopolitisches Europa auf der Wahrung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Sinne seiner offenen strategischen Autonomie bestehen. Handelspolitische Schutzinstrumente sind ein Bestandteil zur Durchsetzung seiner Interessen.12 Diese sollen nicht nur Fairness und Sicherheit, sondern auch Durchsetzungsfähigkeit gewährleisten.
Zur Öffnung von Auslandsmärkten für Investoren sind Investitionsschutz- und -förderverträge (IFV/BITs) sowie Freihandelsabkommen (FTA) die geeignetsten Instrumente. Auch muss der Dialog in der WTO und innerhalb der Formate der Global Governance wie G7 oder G20 für mehr Offenheit genutzt werden. Ausländische Unternehmenskäufe sollten in Einzelfällen mit dem Abbau von Investitionshindernissen im Land des ausländischen Investors verknüpft werden können. Bei ausländischen Investitionen in kritische Infrastruktur sollten Lokalisierungsanforderungen möglich sein, wenn dies sicherheitspolitisch sinnvoll ist (z. B. Datenspeicherung und dazu nötige technische Ausrüstung nur innerhalb der EU zulässig). Dabei ist strikt darauf zu achten, nicht in einen andauernden Investitionsprotektionismus zu verfallen.
11 vgl. B7 Tokyo Summit Joint Recommendation, S. 6, Article (bdi.eu), abgerufen am 29.8.2023
12 vgl. BDI, Handelspolitische Schutzmaßnahmen für einen fairen Wettbewerb, Artikel (bdi.eu), abgerufen am 29.8.2023.
Neben der Implantierung handelspolitischer Schutzinstrumente wird zunehmend auch die Ausweitung von Investitionskontrollen diskutiert und vorangebracht. Dabei spielt die Kontrolle von Investitionen im Ausland eine immer größere Rolle. Während die USA bereits eine Reihe von Regelungen erlassen haben, die bspw. Investitionen in China genauer in den Blick nehmen sollen,13 wird zum Ende des Jahres 2023 auch seitens der EU-Kommission ein Regulierungsvorschlag erwartet.
Die Einführung von staatlichen Kontrollen für Auslandsinvestitionen wäre ein erheblicher Eingriff in unternehmerische Entscheidungen und internationale Investitionsströme. Deutsche Unternehmen erschließen mit ihren ausländischen Direktinvestitionen weltweit neue Absatzmärkte. Auch dies stärkt die deutsche Wirtschaft, sichert Arbeitsplätze und fördert den Wohlstand. Der BDI lehnt die Einführung von staatlichen Kontrollen für Auslandsinvestitionen daher grundsätzlich ab. Zumindest aber muss berücksichtigt werden, dass gerade multinationale Unternehmen mit Tochterunternehmen zu verschiedenen Arbeitsfeldern in verschiedenen Ländern je nach Ausgestaltung des Instruments Gegenstand von Untersuchungen in mehreren Ländern werden könnten. Das lähmt die wirtschaftliche Dynamik signifikant und hat damit negative Einflüsse auf die Wettbewerbsfähigkeit.
Ein etwaiger Technologieabfluss in sicherheitskritischen Bereichen sollte effektiv durch das Instrument der Ausfuhrkontrolle verhindert werden, da schon bisherige Güterkontrollen Technologietransfers berücksichtigen können. Im Vergleich zur Kontrolle ganzer Investitionen wäre dies zudem ein weniger invasiver Eingriff in den Markt. Der BDI regt daher an, zunächst die bestehenden Mechanismen auf EU- und nationaler Ebene zu bewerten, bevor die Einführung strengerer Bedingungen zur Überprüfung von europäischen Investitionen im Ausland in Betracht gezogen wird.
Die bestehenden Instrumente sollten zuerst über einen gewissen Zeitraum implementiert sein, um gründlich angewendet und evaluiert zu werden. Wo bestehende Instrumente möglicherweise nicht ausreichen, sollte zunächst herausgearbeitet werden, warum diese nicht greifen. Nur in Ausnahmefällen, wenn ernsthafte Sicherheitsbedenken tatsächlich nachgewiesen werden, könnte ein staatlicher Kontrolleingriff ein letztes Mittel sein. Der Privatsektor sollte zumindest konsultiert werden, um sicherzustellen, dass die beschlossenen Maßnahmen wirksam sind und die Wettbewerbsfähigkeit so wenig wie möglich beeinträchtigen.
13 vgl. Executive Order on Addressing United States Investments in Certain National Security Technologies and Products in Countries of Concern | The White House vom 9. August 2023, abgerufen am 29.8.2023.
Impressum
Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI)
Breite Straße 29, 10178 Berlin www.bdi.eu
T: +49 30 2028-0
Lobbyregisternummer: R000534
Redaktion
Matthias Krämer
Abteilungsleiter Außenwirtschaftspolitik
T: +49 30 2028-1562
M.Kraemer@bdi.eu
Cedric von der Hellen
Referent Außenwirtschaftspolitik
T: +49 30 2028-1602
C.Hellen@bdi.eu
BDI-Dokumentennummer: D 1810