WTO-Reform dringend geboten

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POSITION | AUSSENWIRTSCHAFT | WELTHANDEL

WTO-Reform dringend geboten Welthandelsorganisation (WTO) stärken und das multilaterale Handelssystem wiederbeleben und neuausrichten

November 2021 Aktuelle Krise der WTO Die Welthandelsorganisation (WTO) ist die Hüterin des globalen Handels. Mitglieder können sich auf transparente und verlässliche Handelsregeln einigen und diese weltweit durchsetzen. Die WTO ist jedoch durch zunehmenden Protektionismus, Uneinigkeit über die Weiterentwicklung und Unzufriedenheit über ihre Wirksamkeit bedroht. Die Organisation muss dringend in allen drei Säulen reformiert werden, um einen Bedeutungsverlust abzuwenden. Die verschobene 12. Ministerkonferenz ist daher von zentraler Bedeutung, um wichtige multilaterale und plurilaterale Einigungen zu erzielen und zu zeigen, dass die WTO nach wie vor zuverlässig und funktionsfähig ist.

63 %

… der WTO-Mitglieder, die als am wenigsten entwickelte Länder (LDC) eingestuft sind, reichten in mehr als 50 % der Fälle Notifizierungen ein.

100 %

...der WTO-Mitglieder, die auch Mitglieder der OECD sind, reichten in mehr als 50 % der Fälle Notifizierungen ein.

Auf der Grundlage von WTO-Notifizierungen in den Bereichen Landwirtschaft, Covid-19, Umwelt, Einfuhrlizenzen, Subventionen und Ausgleichsmaß-nahmen, technische Handelshemmnisse, gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen sowie quantitative Beschränkungen.

Katherine Tepper | Abteilung Außenwirtschaftspolitik | T: +49 30 2028-1499 | k.tepper@bdi.eu | www.bdi.eu Matthias Krämer | Abteilung Außenwirtschaftspolitik | T: +49 30 2028-1562 | m.kraemer@bdi.eu | www.bdi.eu


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BDI-Empfehlungen: Das Multilaterale Handelssystem wieder ins Gleichgewicht bringen Bekämpfung der Wettbewerbsverzerrungen durch Subventionen und staatseigene Unternehmen (SOE) und Bekämpfung handelshemmender Praktiken zur Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen Das Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen (SCM-Abkommen) muss dringend reformiert werden. Die Begrifflichkeiten SOE, öffentliche Körperschaft (public body), staatlich kontrollierte Unternehmen und ernsthafter Schaden (serious prejudice) müssen in diesem Zusammenhang klar definiert werden. Die deutsche Industrie unterstützt die Vorschläge der bedingungslos verbotenen Subventionen (z.B. unbegrenzte Garantien und Subventionen für insolvente Unternehmen) und der nachteiligen Subventionen (z.B. solche, die „Zombie-Unternehmen“ stützen und massive Produktionskapazitäten schaffen) zu erweitern. Die Benchmarks müssen transparent und nachvollziehbar sein und Rechtssicherheit schaffen. Marktverzerrungen und Überkapazitäten durch staatliche Subventionierung sollten in jedem Fall vermieden werden. Das WTO-Sekretariat benötigt weitere Kapazitäten, um die relevanten Daten zu erfassen, gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit der OECD, und so ein klares Bild der wettbewerbsverzerrenden Subventionen innerhalb der WTO-Mitgliedschaft zu erhalten. Wirksame Regeln gegen erzwungenen Technologietransfer, Lokalisierungsanforderungen, cybergestützten Diebstahl und Joint-Venture-Anforderungen müssen eingeführt werden. Verbesserte Transparenz und Einhaltung der Notifizierungsvorschriften Die Durchsetzung von Notifizerungspflichten und die Rolle des WTO-Sekretariats bei der Behandlung von Versäumnissen der Mitglieder sowie von Diskrepanzen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern muss gestärkt werden. Hier sind wirksamere Unterstützungsprogramme, Prozesse und Anreize von entscheidender Bedeutung, einschließlich der Berichterstattung über Nichteinhaltung und Sanktionen (z.B. Naming and Shaming, Entzug von Mitgliedsrechten, zusätzliche Haushaltsbeiträge). Der BDI unterstützt den Vorschlag der EU, Japans und der USA aus dem Jahr 2018 zur Verschärfung der Notifizierungspflichten, insbesondere für Entwicklungsländer. Einführung eines neuen Konzepts für Flexibilität in WTO-Abkommen Mitglieder sollten ihrem Wirtschaftsgewicht, ihren Kapazitäten und ihrer Wettbewerbsfähigkeit entsprechend Verpflichtungen zustimmen. Der Status oder das Niveau der Verpflichtung des Mitglieds sollte regelmäßig nach objektiven Kriterien (z.B. Anteil am Welthandel, OECD-Mitgliedschaft, Output gemessen an der Wertschöpfung) überprüft werden. Mit Ausnahme der am wenigen entwickelten Länder sollte Flexibilität streng bedarfsorientiert zugelassen werden. Kernpunkte eines Abkommens sollten am Ende durch alle Unterzeichner angewandt werden.

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Flexibilität plurilateraler Abkommen nutzen und diese voranbringen Die deutsche Industrie unterstützt ausdrücklich die so genannten Joint Statement Initiatives (JSI) zu E-commerce, Investitionserleichterungen, KKMUs und innerstaatlicher Regulierung von Dienstleistungen. Sie befürwortet flexiblere Ansätze, einschließlich plurilateraler Initaitiven, um Fortschritte zu erzielen und die WTO im Hinblick auf eine moderne Regelsetzung in das 21. Jahrhundert zu bringen. Neben Artikel X:9 ist innerhalb der WTO ein klarer Rahmen erforderlich, um plurilaterale Abkommen zu integrieren und die Mitgliedschaft in diesen Abkommen zu fördern und zu erleichtern. Zudem müssen Entwicklungs- und Schwellenländer sowie China, Russland und Indien ermutigt werden, dem Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (GPA) beizutreten.

BDI-Empfehlungen: Im Vorfeld von MC12 (1) Das multilaterale Fischereiabkommen, der erste Konsens seit mehreren Jahren und ein wichtiger Beitrag zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung, (2) die JSI über die innerstaatliche Regulierung des Dienstleistungssektors, ein wichtiger Schritt zur Förderung des Dienstleistungshandels, und (3) die JSI zu E-Commerce sollten auf der Ministerkonferenz abgeschlossen werden. Das Moratorium für die Erhebung von Zöllen auf elektronische Übertragungen sollte auf unbegrenzte Zeit verlängert werden, da neue Handelshemmnisse und belastende Zölle negative Auswirkungen auf das weitere Wachstum des digitalen Handels hätten. Auf der Ministerkonferenz muss der festgefahrene Konflikt der Streitschlichtung gelöst werden, damit kritische Streitfälle wieder wirksam und schnell beigelegt werden können und die WTO über eine voll funktionsfähige zweite Instanz verfügt. Wenn nicht auf der MC12, so sollte spätestens kurz danach ein Arbeitsplan vereinbart werden, der sich mit den folgenden drei kritischen Punkten befasst: die langfristige Reform der Streitschlichtung, differenzierte Sonderbehandlung (SDT) und Industriesubventionen. Auf der MC12 sollte auf plurilateraler Ebene mit der Schaffung von Regeln zur Wettbewerbsneutralität begonnen werden, die eine SCM-Reform und die schrittweise Abschaffung stattlich veranlasster Wettbewerbsverzerrungen im internationalen Handel umfassen. Das TRIPS-System ist unsere beste Versicherung für schnelle Lösungsansätze im Falle künftiger Pandemien. Daher muss es jetzt im Rahmen von Handel und Gesundheit darum gehen, Handelsbarrieren abzubauen und die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Verfügbarkeit von Impfstoffen global deutlich verbessert wird, anstatt den Patentschutz zu schwächen.

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Streitschlichtung steht unter Druck WTO: Gesamtzahl an Klagen im Streitschlichtungsmechanism (1995 – Oktober 2021)

Diagrammtitel

60 50 40 30 20 10 0

Quelle: WTO, Chronological List of Dispute Cases, https://www.wto.org/english/tratop_e/dispu_e/dispu_status_e.htm; BDI-Analyse.

Das Streitschlichtungssystem der WTO stellt sicher, dass Streitigkeiten friedlich, strukturiert und, soweit möglich, unpolitisch gelöst werden können. Es ist der Schlüssel zur Durchsetzung der WTO-Regeln und der Verpflichtungen der Mitglieder. Die steigende Zahl an Handelskonflikten hat zu einem starken Anstieg der Streitschlichtungsfälle geführt. 2018 war das Jahr mit der höchsten Zahl neuer Beschwerden bei der WTO seit 1998. Diese Zahl ist jedoch seit der Lähmung des Berufungsgremiums zum Stillstand gekommen, so dass im Jahr 2020 nur noch fünf neue Fälle eingereicht wurden. Die Vereinigten Staaten blockieren seit Dezember 2019 die Benennung neuer Mitglieder des Berufungsgremiums und verhindern damit die Arbeit der wichtigen zweiten Instanz des Streitschlichtungssystems. Dies schadet der Glaubwürdigkeit des gesamten WTO-Systems. Reform des Streitschlichtungssystems Die Blockade des Berufungsgremiums sollte durch sofortige Verfahrungsänderungen aufgehoben werden, um die Bedenken der USA auszuräumen (Übergangsregeln für ausscheidende Mitglieder des Berufungsgremiums, Dauer des Verfahrens, Schwerpunkt der Feststellungen, Frage der Präzedenzfälle). Solange es keine Lösung für das Schiedsgericht gibt, sollte der von der EU angedachte Interim-Revisionsmechanismus (Multi-Party Interim Appeal Arbitration Arrangement, MPIA) Streitfälle so schnell wie möglich verhandeln. Das MPIA sollte unbedingt nur als vorübergehend betrachtet werden. Das Ziel muss eine funktionierende zweite Instanz im Rahmen des WTO-Streitschlichtungssystems sein. In einem zweiten Schritt sollten substanziellere Reformen des Streitschlichtungssystems eingeführt werden, z.B. um die Frage nach den Kompetenzen des Berufungsgremiums zu klären, effizientere Verfahren einzuführen und die Ressourcen des Streitschlichtungssystems zu erhöhen. Bei allen Reformbemühungen müssen die richterliche Unabhängigkeit, die Schiedsgerichtsbarkeit und die Verbindlichkeit der Urteile gewahrt bleiben.

Der BDI unterstützt die Modernisierungsvorschläge der EU für die WTO vom Februar 2021 (Überprüfung der EU-Handelspolitik) und September 2018 (Modernisierung der WTO) sowie die nachfolgenden Initiativen zur Transparenz und zur Reform des Streitbeilegungssystems, einschließlich der MPIA.

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Impressum Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) Breite Straße 29, 10178 Berlin www.bdi.eu T: +49 30 2028-0 Redaktion Katherine Tepper Referentin Außenwirtschaftspolitik T: +49 30 2028-1499 k.tepper@bdi.eu Matthias Krämer Abteilungsleiter Außenwirtschaftspolitik T: +49 30 2028-1562 m.kraemer@bdi.eu

BDI Dokumentennummer: D 1475

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