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5.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen

Robuste Lieferketten sind dabei von besonderer Bedeutung bei der Umsetzung der Energiewende. 22 Der Zugang zu kritischen Rohstoffen ist mitentscheidend für einen erfolgreichen Ausbau einer nachhaltigen Energieversorgung. Diesem Aspekt muss u. a. die europäische Handelspolitik und Rohstoffstrategie Rechnung tragen.

Systemwechsel im Energiemarkt

Zurzeit stehen die EU und Deutschland vor einer dreifachen Herausforderung: die geopolitische Krise mit Russland und die daraus resultierenden unmittelbare Energiekrise, die Bekämpfung der durch die COVID-19-Pandemie und der heranwachsenden globalen Klimakrise. 23 Daher ist ein funktionsfähiger und resilienter Energiesektor für die Aufrechterhaltung des Betriebs kritischer Infrastrukturen und für eine rechtzeitige wirtschaftliche Erholung unerlässlich. Allerdings ist er aufgrund der Marktliberalisierung und der Integration erneuerbarer Energien zunehmend komplexer geworden. Tatsächlich durchläuft der Energiesektor derzeit einen tiefgreifenden Wandel hin zur Dekarbonisierung der gesamten Wirtschaft, getragen von der Entwicklung variabler erneuerbarer Energiequellen wie Wind- und Solarenergie. Die bevorstehende Elektrifizierung ganzer Sektoren, wie z. B. des Straßenverkehrs, wird zudem die Schockanfälligkeit und Komplexität des europäischen Energiesystems erhöhen. 24 Daher ist es wichtig, die Digitalisierung und Dezentralisierung des Energiesystems zügig voranzutreiben und ein stabiles und grenzüberschreitendes Stromnetz in Europa aufzubauen. So wird der Ausbau des Hochspannungsnetzes in Deutschland und Europa als unbedingt notwendige Maßnahme angesehen, um die zukünftige Stromversorgung zu gewährleisten.25 Die Abkehr vom Erdgas wirft auch große Bedenken hinsichtlich der künftigen Deckung des saisonalen Wärmebedarfs und der Spitzenlastabdeckung in Stromsystemen auf. Bereiche, die auf Gas zum Heizen angewiesen sind, darunter auch Teile der Industrie, sind nicht ohne weiteres durch Elektrizität ersetzbar.

5.2 Erforderliche Maßnahmen und offene Fragestellungen

Prioritäten schaffen und die Abstimmung einer koordinierten EU-Energiepolitik

Angesichts der sich zuspitzenden Energienotlage müssen koordinierte Handlungsprioritäten auf EUEbene ergriffen werden. Die EU-Kommission präsentierte am 18. Mai 2022 ihre REPowerEU Initiative, welche kurzfristig die Abfederung hoher Energiepreise und die Gewährleistung der Versorgungssicherheit für den nächsten Winter vorbereiten soll. Langfristig setzt die EU auf eine Beendigung ihrer russischen Energieimportabhängigkeit. Zur Finanzierung des Pakets stellt die EU zusätzliche 210 Milliarden Euro für erstens einen beschleunigten EE-Ausbau, zweitens eine Diversifizierung der Energieimporte und drittens Energieeinsparungen zur Verfügung.

Zur Bewältigung der Notlage sollen Endkundenpreise gemildert und stark exponierte Unternehmen unterstützt werden. Dafür stünden Instrumente wie Preisregulierungs- und Transfermechanismen zum Schutz der Verbraucher und der Wirtschaft, vorübergehende Besteuerung von Zufallsgewinnen („windfall profits“) oder die Verwendung höherer Einnahmen aus dem Emissionshandel zur Entlastung privater Verbraucher zur Verfügung. Gleichzeitig müssen Vorkehrungen für eventuelle Gasknappheiten im kommenden Winter getroffen werden. Im Industriebereich sieht die EU ein enormes

23 Heffron, R. J., Körner, M. F., Schöpf, M., Wagner, J., & Weibelzahl, M. (2021). The role of flexibility in the light of the COVID-19 pandemic and beyond: Contributing to a sustainable and resilient energy future in Europe. Renewable and Sustainable Energy Reviews, 140, 110743. 24 Nolting L. (2021). Die Versorgungssicherheit mit Elektrizität im Kontext von Liberalisierung und Energiewende, Institute for Future Energy Consumer Needs and Behavior RWTH Aachen University. 25 Deutsche Energie-Agentur (dena) (2022). Abschlussbericht dena-Netzstudie_III. Januar. Berlin.

Gaseinsparungspotential von über 35 Milliarden m3, vor allem in den Bereichen nichtmetallische Mineralien, Zement, Glas und Keramik, Chemieproduktion und Raffinerien.

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Die Substitution von Kohle, Öl und Gas in industriellen Prozessen kann dazu beitragen, die Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen zu verringern und gleichzeitig den Übergang zu saubereren Energiequellen in die Wege zu leiten. Kurzfristig zeigt sich allerdings, dass das Substitutionspotenzial von Erdgas in der deutschen Industrie begrenzt ist. Für die nächsten Winter kommt für Unternehmen vor allem leichtes Heizöl als Substitutionsprodukt von Erdgas in Frage. Zur Umstellung auf klimafreundliche Energieträger wie Strom, Wasserstoff oder Biomasse benötigen Unternehmen längere Vorlaufzeiten. 27 Bis zur vollständigen Versorgung mit erneuerbaren Energien kann die Energieversorgungssicherheit also nur durch einen intelligenten Mix verschiedener Energiequellen erreicht werden.

Daher bleibt die Frage, welche Beschaffungspartner für Primärenergieträger wie Öl und Gas in Betracht kommen sollten. 28 Flüssigerdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) spielt eine entscheidende Rolle beim Ersatz von russischem Erdgas, da es aus weit entfernten Regionen der Welt kommen kann und keine unflexible Infrastruktur wie Pipelines benötigt. Dennoch muss die Importinfrastruktur für LNG (z. B. LNG-Terminals) in der EU und insbesondere in Deutschland ausgebaut werden. Diese Infrastruktur können gegebenenfalls als Einspeisepunkt für importierten Wasserstoff genutzt werden.

Die Chance der Energiewende für die Energieversorgungssicherheit

Die Beschleunigung des EE-Ausbaus im Rahmen des REPowerEU-Pakets und des Green New Deals trägt sowohl zur Verringerung der Emissionen als auch zur Reduzierung der einseitigen Importabhängigkeit der Mitgliedstaaten von fossilen Brennstoffen bei. Die aktuelle Energiekrise ist daher auch eine Chance, die Versorgungssicherheit Europas neu zu positionieren. Da alternative Energien fast überall auf der Welt produziert werden können, ergeben sich Diversifizierungsmöglichkeiten. Die Umsetzung der Energiewende heißt jedoch nicht, dass die EU künftig energieautark sein wird. Sie wird weiterhin auf Energieimporte aus Drittländern angewiesen sein, insbesondere bei grünen Molekülen. Daher gilt es nun, strategische und geopolitische Diversifizierungspläne zu entwickeln, die den kurz- und langfristigen Zielsetzungen der EU entsprechen. Dabei ist es besonders wichtig, dass bei internationalen Energiepartnerschaften sowohl wirtschaftliche Kriterien als auch politische Risiken berücksichtigt werden, um die Anfälligkeit des europäischen Energiesystems gegenüber den geopolitischen Machtverhältnissen autokratischer Regime zu minimieren. Das grundleitende Prinzip sollte jeweils sein, dass kein Land als einziger Bezugspartner bei Energie, Vorprodukten und Rohstoffen auftritt, wie es heute zum Beispiel bei China im Bereich der Solarzellen der Fall ist.29 Ebenfalls müssen politische und gesellschaftliche Themen wie Menschenrechte und Umweltschutzkriterien mit in die Entscheidungsprozesse aufgenommen werden. Allgemein sollten vorbeugende Maßnahmen und Absicherungsmechanismen für den Fall zukünftiger wirtschaftlicher, technischer oder politischer Krisen auf europäischer Ebene getroffen werden.

Zur langfristigen Substitution von russischem Erdgas durch erneuerbare Energien kommen insbesondere Wasserstoff und Biomethan in Frage. Wasserstoff wird vor allem in der Industrie eine große Rolle spielen müssen, insbesondere in den sogenannten „hard-to-abate“-Sektoren, wo die direkte

26 Europäische Kommission. (2022). REPowerEU: erschwingliche, sichere und nachhaltige Energie für Europa. Brüssel. 27 BDI Erdgas-Umfrage (2022). Abteilung Klima- und Energiepolitk (unveröffentlichte Umfrage). Juni. Berlin. 28 Lang, J., & Hohaus, P. (2017). Europäische Energiesicherheit–Politische Rahmenbedingungen | Industrielle Energiestrategie (pp. 19-34). Springer Gabler, Wiesbaden. 29 Manuel, A., Singh, P., & Paine, T. (2019). Compete, Contest and Collaborate: How to Win the Technology Race with China. The Technology and Public Policy Project. Freeman Spogli Institute for International Relations at Stanford University. Stanford. California.

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