»DEIN TÄNZER IST DER TOD«
DAS BERLINER THEATER DES VOLKES IM NATIONALSOZIALISMUS
ZUR GESCHICHTE DES FRIEDRICHSTADT-PALASTES
Dieses Buch ist Teil I der Reihe »Zur Geschichte des Friedrichstadt-Palastes«. Die Edition basiert auf Forschungsaufträgen, die anlässlich des Bühnenjubiläums »Ein Jahrhundert Palast 1919–2019« vergeben wurden. Als Kurator der Jubiläumsspielzeit 2019/20 übernimmt Guido Herrmann im Auftrag der FriedrichstadtPalast Betriebsgesellschaft mbH auch die Funktion und Aufgabe des Herausgebers für diese und nachfolgende Publikationen der Edition.
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Berlin, 2023
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Schriften: Stone Serif, Bernina Sans
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ISBN 978-3-8148-0262-6
www.bebraverlag.de
DAS THEATER DES VOLKES 1934–1936
DAS THEATER DES VOLKES 1936–1939
EINE OPERETTENBÜHNE ALS KÜNSTLERISCHES
DAS THEATER DES VOLKES 1939–1944 EINE »REPRÄSENTATIVE« OPERETTENBÜHNE
Vorwort
Der Vorhang unserer Bühnengeschichte hebt sich vor über 100 Jahren. Es ist der 29. November 1919, wir haben jüdische Wurzeln, Professor Max Reinhardt ist der Gründer des Großen Schauspielhauses. Schon deswegen ändern die Nationalsozialisten 1934 den Namen in Theater des Volkes. In der Sowjetischen Besatzungszone gelegen, trägt das Haus ab 1947 den Namen Friedrichstadt-Palast. Nur 174 Meter vom alten Standort entfernt wird 1984 das heutige Theatergebäude als letzter großer Repräsentationsbau der DDR eröffnet.
»Ein Jahrhundert Palast« lautet die Überschrift der Spielzeit 2019/20. Aber das Jubiläum kann kein Jubeljahr werden. Zu dicht liegen in unserer Geschichte Licht und Abgründe beieinander. Aufgrund seines fundierten historischen Interesses bitte ich Guido Herrmann, den Verwaltungsdirektor und Stellvertreter des Intendanten, das Bühnenjubiläum zu kuratieren. Meine einzige Vorgabe: dass wir die Rolle des Palastes von 1933 bis 1945 aufarbeiten lassen und das Jubiläum bescheiden begehen.
Die schonungslose Ausleuchtung der NS-Zeit durch die Historikerin Sabine Schneller erweitert Guido Herrmann um Forschungsaufträge zur deutsch-deutschen »Zwischenzeit« von Kriegsende bis Mauerbau 1961 sowie um eine Betrachtung des Palastes in der westwärts eingemauerten DDR. Pandemiebedingt mit etwas Verzögerung blickt die Trilogie Buch für Buch schließlich auf 57 wechselvolle Jahre unserer Historie.
Dass das Naziregime für Menschen, die durch das ideologische Raster fallen, bedrohlich bis lebensgefährlich ist, ist Allgemeinwissen schon zu Hitlers Zeiten. Was im Rückblick, auch in Theaterkreisen, gerne ausgeblendet wird: Für Bühnen und Kulturschaffende, die hingegen ins Raster passen oder sich passend machen, ist es oft ein Schlaraffenland. Im Vergleich zur Kaiserzeit und Weimarer Republik steigen die staatlichen Subventionen enorm und in der Folge die Größe der Ensembles, die Ausstattung und bisweilen auch die Qualität der Aufführungen sowie die Zahl der Gäste. Selbst im Krieg steigen noch die Kulturausgaben, ein Teufelspakt im Gegenzug für Wohlverhalten
und zur Schau gestellte Zuversicht. »In Zeiten, die von so starken Spannungen erfüllt sind, muß ich in der Kunst für Entspannung sorgen«,* meint unser damaliger politischer Grundherr, Reichsminister Joseph Goebbels. Bis er schließlich, kurz nach seiner Ernennung zum »Generalbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz« durch Hitler, im Spätsommer 1944 doch alle Bühnen im Reich schließen lässt und die letzte kulturelle Maskierung des Terrorregimes fällt.
Theaterschaffende haben das Kriegsende im Rückblick gerne als »Zäsur« dargestellt, und die Schönfärberei schreckt auch nicht vor ihrer Rolle im Dritten Reich zurück. Sie hätten doch lange vor der Machtergreifung der Nazis schon Shakespeare, Schiller und Wagner gespielt und dann auch während der Nazizeit und danach ebenso. Ihre Spielpläne seien also gänzlich unpolitisch gewesen und hätten inmitten der allgegenwärtigen Barbarei gar unverzagt den Humanismus der Klassiker hochgehalten. Dieses heuchlerische Theater wirkt nicht selten bis heute nach.
Die offizielle Rolle der Kulturschaffenden im NS-Regime und ihre Wortmeldungen, nicht zuletzt in den Programmheften, entlarven solche Behauptungen als Legenden. Die Wahrheit ist: Deutsche Bühnen stärkten durch ihre Aufführungen die Moral an Front und Heimatfront, wir waren kriegswichtig.
Auch von einer Zäsur, einem Bruch mit der Vergangenheit, kann 1945, vor allem in Westdeutschland, kaum die Rede sein. Zwar wird fortan auf völkisch-nationalistische Dramatik verzichtet, aber es gibt eine frappierende Nahtlosigkeit in den radikal konservativen Spielplänen und Inszenierungen und ebenso in Theaterleitungen, Schauspiel- und Orchesterensembles sowie Kulturreferaten. Selbst in Zeitungen und Rundfunk werden die meisten Kulturredakteure nicht entlassen und dürfen, höchstens unterbrochen durch eine Kriegsgefangenschaft, ihre Sichtweisen vor und nach 1945 verbreiten. Es liegt auf der Hand, dass eine haltbare Auseinandersetzung mit der NS-Zeit so nicht stattfinden kann.
Wenigstens hier geht unser Haus für kurze Zeit einen anderen Weg. Sein letzter, noch direkt von Goebbels eingesetzter Intendant verschwindet im Nebel der Geschichte und Marion Spadoni, eine Frau mit italienischen Wurzeln und dem Segen des sowjetischen Stadtkommandanten, macht ab Spätsommer 1945 etwas anderes als Operette. Sie nennt das Haus nun PALAST und im Untertitel, aufgrund der ungefähren Anzahl an Sitzplätzen, »Varieté der 3000«. Bis
dann 1947 die Vorläufer der späteren DDR die Riesenbühne doch lieber selbst unter ihre Fittiche nehmen.
Als Intendant entschuldige ich mich dafür, dass es fast acht Jahrzehnte gedauert hat, bis wir unsere Rolle und Verantwortung in der NS-Zeit wissenschaftlich aufarbeiten ließen. Mit der künstlerischen Doppelunterstellung unter Joseph Goebbels’ Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda sowie Robert Leys nationalsozialistisches Freizeitwerk »Kraft durch Freude« (KdF) waren wir als Kultureinrichtung in die Diktatur besonders tief verstrickt. Als größtes Theater des Reiches haben wir unseren Beitrag dazu geleistet, die Verbrecher und ihre Verbrechen künstlerisch zu bemänteln und zu stützen. Wer mitspielt, ist mitschuldig.
Daraus ziehe ich die einzige wegweisende Lehre, die der Nationalsozialismus zu bieten hat: selbst das Richtige zu tun und sich Feinden der Vielfalt, Freiheit und Demokratie rechtzeitig (!) entgegenzustellen.
Einleitung
Zur über 100-jährigen Bühnengeschichte des Großen Schauspielhauses und späteren Friedrichstadt-Palastes gehört auch das nahezu vergessene Kapitel des Theaters des Volkes. Schon früh hatten die Nationalsozialisten keinen Zweifel daran gelassen, was ihre Auffassung von der Rolle des Theaters war. Adolf Hitler formulierte 1933 zur »Erneuerung des deutschen Theaters« eine offene Drohung an alle Künstler:innen einschließlich der Bühnenbeschäftigten, die sich nicht den Zielen des Regimes unterordnen wollten:
»Natürlich muß sich auch das Theater erneuern. Aber die Erneuerung muß von innen her kommen. Und die Leute, die glauben, wenn sie jetzt überlaufen, könnten sie unter neuer Maske die alten Dinge weiter treiben, irren sich ganz gewaltig. Sie werden von Grund auf umlernen müssen. Wer nicht umlernen will, vernichtet sich selbst, ohne daß wir dazu einen Finger zu rühren brauchen. Ich lasse mich nicht bestechen. Was ich tun kann, Mittelmäßigkeit und Verlogenheit auszurotten, das geschieht. Wer wirklich etwas kann, der braucht noch lange nicht davor Heil zu rufen. Der echte Künstler kommt von selbst zu uns, weil wir aufbauen. Jede wirkliche Kunst ist aufbauend, und daher findet der Künstler nur bei uns seine verlorene Kraft wieder.«*
Nach der Machtübernahme brachte die »Deutsche Arbeitsfront« (DAF) das Große Schauspielhaus in ihren Besitz. Gemeinsam mit dem Reichspropagandaministerium betrieb die Freizeitorganisation der DAF »Kraft durch Freude« das Theater und stellte es in den Dienst der NS-Propaganda.
Noch bevor sich Anfang September 1944 der Vorhang für fast alle Bühnen im sogenannten Dritten Reich endgültig senkte, beendete ein Luftangriff im Juni des Jahres die Ära des Theaters des Volkes. Dann stand das Theater leer, mit zerstörtem Bühnenhaus und ohne jedes Ensemble, bis die Artistin Marion Spadoni sich im Juni 1945 vom südlichen Stadtteil Steglitz aus zu Fuß ins alte Zentrum BerlinMitte aufmachte, um dem Haus neues Leben einzuhauchen.
Das Vorherige geriet damit schnell in Vergessenheit, viel absoluter
als bei den meisten anderen Bühnen. Zu radikal war schon der Bruch mit der Zeit von Reinhardt, Charell und Poelzig gewesen, zu vernichtend in jeder Hinsicht die Zeit des Nationalsozialismus. So »befreite« sich die Stadtgesellschaft von diesem Kapitel der Theatergeschichte, das fortan für Jahrzehnte auch im toten Winkel der Forschung verschwand.
Im Vorfeld des 100-jährigen Jubiläums unserer Bühne ahnten wir: Wir können nur Fenster in die Geschichte öffnen, nie alles aufarbeiten. Dennoch ist aus einem ursprünglich als Forschungsauftrag gedachten Projekt nun ein Buch entstanden, das diesen Baustein deutscher Theatergeschichte wieder ins Gesamtmosaik einfügt.
Entstanden ist ein Bild der Zeit und der Menschen, das, entgegen zumindest meinen persönlichen Erwartungen, im ersten Moment manchmal fast schon banal alltäglich wirkt. In der Gesamtheit betrachtet aber machte das zunächst Verführerische das zugleich Vernichtende wohl erst aus.
Zum Schluss hatten die Bühnen sogar noch regen Zulauf, nicht nur, weil das Regime den Durchhaltewillen der Bevölkerung stärken wollte – die meisten waren für jede Art der Zerstreuung aufgeschlossen, auch oder gerade weil Bombenkrater und Leichen zum Alltag gehörten.
Bedanken möchte ich mich bei Sabine Schneller, die in mühevoller Kleinstarbeit, dazu vielfach vor pandemiebedingt geschlossenen Archiven stehend, diese Geschichte rekonstruiert hat. Bei Gero Konietzko für die Bildrecherchen und bei Nora Förster für die ruhige Gesamtkoordination. Vor allem aber bei Dr. Berndt Schmidt, ohne dessen Weitsicht die Geschichte unserer Bühne wohl immer noch fragmentarisch dargestellt wäre.
Die Geschichte des Theaters des Volkes ist auch eine Flucht- und Verfolgungsgeschichte. Stellvertretend für diejenigen, die bitteres Leid ertragen mussten seien hier genannt: der große Bühnenbildner Ernst Stern, die Diva Fritzi Massary und der Komiker Ernst Pallenberg. Gitta Alpar, der Star des »Ball im Savoy«, Siegfried Arno aus dem »Weißen Rössl«. Von den Spielplänen verbannt werden die Operetten Ralph Benatzkys und Paul Abrahams. Die Comedian Harmonists erhalten Auftrittsverbot an Deutschlands Bühnen. Paul Morgan und Joseph Schmidt bezahlen die Verfolgung mit ihrem Leben. Nicht nur durch ihren Weggang, ihre Vertreibung, ihren Tod, verlor das einst so strahlende Große Schauspielhaus sein Gesicht.
Mit dem Theater des Volkes war die Bühnengeschichte des Hauses nicht beendet. Ebenso wenig, das ist heute sicher, eher allgemeiner Konsens als noch vor wenigen Jahrzehnten, kann man diese Jahre einfach als »Unglücksfall« abtun, um danach zu einer fiktiven »Stunde null« überzugehen. Das gilt nicht nur für das Theater des Volkes.
Schon deshalb bleibt das letzte Wort in diesem Kapitel und am Ende dieses Buches der Kunst überlassen, in diesem Fall dem großartigen Max Frisch – seine Mahnung untermauernd, dass dieser Epilog nicht wieder zu einem Prolog werden möge.
Guido Herrmann HerausgeberDie verleugnete Tradition
Ein kurzer Rückblick auf die Epoche des Großen Schauspielhauses
Als die Nationalsozialisten 1934 das Theater des Volkes eröffneten, war nicht einmal der Name ihre eigene Erfindung. Das Haus, das sie okkupierten, war von anderen als großes, preiswertes Volkstheater geschaffen und als Vergnügungspalast mit Leben gefüllt worden. Viele von ihnen wurden nach 1933 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft oder ihrer politischen Einstellung ausgegrenzt, ihrer Existenz beraubt und verfolgt. Ihre künstlerischen Leistungen wurden missachtet und als »entartet« verfemt. Die neuen Betreiber des Theaters eigneten sich also keineswegs nur eine leere Hülle an. Dieses Haus war ein Ort, den Künstler:innen wie Besucher:innen mit besonderen Erfahrungen verbanden. Es war ein Ort, der die kulturelle Landschaft der Metropole Berlin und auch das kulturelle Gedächtnis einer Generation mitgeprägt hatte. Deshalb soll ein kurzer Rückblick auf die Frühzeit des Hauses zeigen, wie sich die Nationalsozialisten diese Theatertradition aneigneten und was dabei verloren ging.
Das Vorspiel: Von der Markthalle zum Zirkus Manches kommt ganz anders, als es einmal gedacht war. Viele Geschichten, die das Leben schreibt, könnten so beginnen. Dass das nicht einmal schlecht sein muss, zeigt die Entstehungsgeschichte des späteren Friedrichstadt-Palastes, die mit einer Fehlinvestition ihren Anfang nahm. Das ursprüngliche Domizil des Theaters lag jenseits der Friedrichstraße nahe der Spree und in direkter Nachbarschaft des Theaters am Schiffbauerdamm, des heutigen Berliner Ensembles. Hier wurde nach zweijähriger Bauzeit am 29. September 1867 die erste Markthalle Berlins eröffnet, nach Pariser Vorbild und hochmodern. Die anspruchsvolle Eisenkonstruktion des Stararchitekten Friedrich Hitzig stand auf schwierigem Baugrund. Mit Bedacht hatte man den Zufluss eines Pankearms zur Spree gewählt, denn das Fluss-
Friedrich Hitzigs
aquarellierte Tuschzeichnung der Markthalle am Schiffbauerdamm zeigt die eiserne Konstruktion in Zentralperspektive.
wasser sollte – mitten durch die Halle geleitet – Lebensmittel und Blumen frisch halten und den Verkauf lebender Fische erlauben. Auf einer Grundfläche von 84 mal 64 Metern waren deshalb gut 800 Holzpfähle in den Sumpf gerammt worden. Das hauptsächlich vom »Eisenbahnkönig« Henry Strousberg finanzierte Projekt geriet wirtschaftlich indes schnell ins Aus. Bereits Mitte April 1868 musste die Markthalle endgültig schließen, weil sie von der Kundschaft nicht angenommen wurde.
Nach einer Zwischennutzung als Lagerhalle entdeckte Albert Salamonsky das Potential des Riesengebäudes für die Unterhaltungskultur. Der wagemutige Zirkusunternehmer war Spezialist für Pferdedressur und hatte sein Metier bei dem direkt gegenüber an der Spree liegenden Konkurrenten Circus Renz gelernt. Mit großem Aufwand wurde nun wieder umgebaut – zu einem Zirkus von gigantischen Ausmaßen. Als der »Markthallen-Zirkus« am ersten Weihnachtstag 1873 eröffnet wurde, konnten mindestens 4600, vielleicht auch über 5000 Zuschauer:innen dabei sein. Die historischen Angaben zur Platzzahl
schwanken hier. 1879 zog es Salamonsky nach Moskau weiter, wo er erfolgreich einen Zirkus im eigenen Domizil betrieb, aus dem 1919 nach der Verstaatlichung durch das revolutionäre Russland der erste Staatszirkus der Welt hervorgehen sollte. Er besteht noch heute unter dem Namen Nikulin-Zirkus. In die ehemalige Berliner Markthalle zog nun die Konkurrenz von der anderen Spreeseite ein. Ab 1879 betrieb Ernst Renz hier seinen Circus Renz, da er den bisherigen Standort wegen der Errichtung des Bahnhofs Friedrichstraße hatte aufgeben müssen. Das beliebte Programm zeigte Pferdedressuren, Kunstreiten, Clowns und Akrobaten sowie Zirkuspantomimen als riesige Ausstattungsstücke mit bis zu mehreren Hundert Mitwirkenden. Renz konnte sich über ein Jahrzehnt als erstes Haus am Platz behaupten und ein erneuter Umbau im Jahr 1888 steigerte die Zahl die Plätze auf 5600. Nach dem Tod von Ernst Renz 1892 stellten sich allerdings finanzielle Schwierigkeiten ein, denn man hatte die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Der Publikumsgeschmack wandelte sich, frecher Witz und mondäner Chic galten nun mehr als schiere Ausstattungspracht. Die Konkurrenz im Berliner Unterhaltungsgewerbe wuchs. In der Nähe des Hackeschen Marktes hatte inzwischen der Circus Busch seine Pforten geöffnet und in der direkten Umgebung der Friedrichstraße als neue Amüsiermeile der Stadt konkurrierte man nun mit dem Apollo-Theater, dem Metropol-Theater und dem Wintergarten. Ende Juli 1897 musste Franz Renz, der Sohn des Gründers, seinen Zirkusbetrieb aufgeben.
Als Nachfolger gingen Bolossy Kiralfy und Hermann Haller mit ihrem Projekt des Neuen Olympia-Riesen-Theaters an den Start. Dafür waren wieder einmal Umbaumaßnahmen erforderlich. Das Gebäude bekam ein Bühnenhaus und eine neue 44 Meter breite Bühne. Vier der acht Säulen, auf denen die achteckige Kuppel des Zirkus bisher ruhte, fielen dem Umbau zum Opfer. Noch einmal sollten pompöse, aber inhaltlich wenig anspruchsvolle Ausstattungspantomimen mit bis zu tausend Statisten die Massen in die Arena locken. Im Gastspielbetrieb während der Berliner Gewerbeausstellung 1896 hatte dies glänzend funktioniert. Im festen Theaterbetrieb indes erwies sich das Konzept als nicht tragfähig. Das Publikum strömte lieber in die Unterhaltungsstätten der Nachbarschaft. Diese boten mehr Zeitgeist, meist
Renz konnte sich über ein Jahrzehnt als erstes Haus am Platz behaupten.
mehr Niveau und vor allem die in Berlin gerade erst angekommene Operette. Nach nicht einmal zwei Jahren endete das Zwischenspiel des Riesentheaters im März 1899. Hermann Haller wandte sich nach dieser Erfahrung ebenfalls der Operette zu und betrieb Spielstätten in Hamburg, Leipzig und Berlin. Von 1923 bis 1930 sollte er im Berliner Admiralspalast ein Revuetheater aufziehen und ebenso Ansporn wie wichtigster Konkurrent Erik Charells am Großen Schauspielhaus werden.
Nach dem Auszug des Olympia-Riesen-Theaters stand das Haus nicht lange leer. Zu attraktiv war seine Lage, bahnhofsnah und inmitten des Berliner Unterhaltungszentrums. Albert Schumann, ein alter Konkurrent von Renz, zog am 28. Oktober 1899 wieder mit einem Zirkus ein. Schumann galt als führender »Pädagoge der Pferdebeeinflussung«. Seine zauberhaften Pferdedressuren erreichten ein bisher nicht gekanntes Niveau und rissen die Zuschauer von den Sitzen. Aber der Circus Schumann bot der Unterhaltungslust seiner Besucher:innen noch vieles mehr: Beliebte Hausclowns sorgten für ausgelassene Heiterkeit und berühmte Radsportstars lieferten sich in der Arena dramatische Rennen. Außerdem setzte Schumann wieder auf Ausstattungspantomimen, allerdings mit spektakulären Effekten, die auch den anspruchsvollen Hauptstädtern imponieren sollten. Dafür galt es, die Bühne 1901 auf 800 Quadratmeter zu erweitern und für viel Geld eine Drehbühne sowie verstellbare Podien einzubauen. Trotz eines schwieriger werdenden Umfeldes – andere zeigten inzwischen Raubtierdressuren – behauptete sich der Zirkus bis zum Ersten Weltkrieg am Berliner Vergnügungsmarkt. Der Tiefschlag kam nach Kriegsbeginn am
1. August 1914, als die wertvollen Pferde für die Kavallerie requiriert wurden. Es gelang Schumann trotz drückender Steuerlasten und der immer größeren wirtschaftlichen Not, den Vorstellungsbetrieb noch unter Mühen bis Ende März 1918 aufrechtzuerhalten. Dann gingen die Lichter endgültig aus.
Max Reinhardt und seine Großtheaterexperimente Und wieder bot das definitive Ende einer Nutzungsform Raum für Neues. Noch in den letzten Kriegsmonaten begann die eigentliche Epoche des Großen Schauspielhauses, denn nun kam der Spielort in die Hände Max Reinhardts, eines herausragenden Regisseurs und vor allem eines theaterbesessenen und wagemutigen Impresarios.
Aber auch hier gibt es eine nicht ganz unwichtige Vorgeschichte: Reinhardt wurde am 9. September 1873 im niederösterreichischen Baden als Max Goldmann in eine jüdische Kaufmannsfamilie hin-
eingeboren. Später nahm er seinen Künstlernamen an. 1894 hatte ihn Otto Brahm, der neue Leiter des Deutschen Theaters, nach Berlin an sein Haus geholt. Diese Bühne gehörte zu den ersten Adressen des deutschen Sprechtheaters und Reinhardt nutzte die Chance, in zahlreichen Charakterrollen seine Darstellungskunst zu verfeinern. Zu jener Zeit war der Naturalismus en vogue, eine Kunstströmung, die dem meist bürgerlichen Theaterpublikum mit sozialkritischen Dramen ein ungeschöntes Abbild der Lebensumstände der Unterprivilegierten vermitteln wollte. Gerhart Hauptmann gehörte deshalb zu den meistgespielten Autor:innen am Deutschen Theater. Um die Jahrhundertwende jedoch hatte sich diese prosaische Theaterform überlebt. Reinhardt begann nach neuen, sinnlicheren Ausdrucksformen zu suchen: »Was mir vorschwebt, ist ein Theater, das den Menschen wieder Freude gibt. Das sie aus der grauen Alltagsmisere über sich selbst hinausführt in eine heitere und reine Luft der Schönheit.«1
Dafür beschritt er bald eigene Wege. Er erfand sich neu als Regisseur und setzte dem spröden naturalistischen Stil phantastisch-sinnliche Gesamtkunstwerke entgegen, in denen Bühnenbild, Sprache, Musik und Tanz zu einer Einheit zusammenflossen. Die Zeitgenossen bewunderten ihn dafür als wegweisenden »Theatermagier«. Immens war Reinhardts Einfluss auch als Theaterleiter. 1901 beteiligte er sich an der Gründung des Kabaretts Schall und Rauch in Berlin, das er ab 1902 als Kleines Theater weiterführte. Erste Erfolge ermutigten ihn zur Expansion: 1903 bis 1906 leitete er das Neue Theater am Schiffbauerdamm, in dem später das Berliner Ensemble seine Spielstätte finden sollte. 1905 kehrte er als neuer Eigentümer ans Deutsche Theater zurück, wo er die Kammerspiele ins Leben rief und die erste Schauspielschule Deutschlands gründete. 1911 fasste er die Häuser in dem privat geführten Theaterkonzern der Reinhardt-Bühnen zusammen.
Gleichzeitig wandte er sich neuartigen Großrauminszenierungen nach dem Vorbild des griechischen Arenatheaters zu. Sein »Thea-
ter der 5000« sollte Schauspielkunst für alle bieten, und das zu erschwinglichen Preisen, denn im Kaiserreich konnte sich grundsätzlich nur das wohlhabende Publikum einen Theaterbesuch leisten. So war es kein Zufall, dass Reinhardt den Circus Schumann 1910 als Aufführungsort für seinen »König Oedipus« wählte, die erste Theaterproduktion der Neuzeit, die sich an ein Massenpublikum richtete. Reinhardt setzte auf eine moderne Fassung des Stücks von Hugo von Hofmannsthal, die die Zuschauer der Gegenwart erreichen sollte, und engagierte Schauspielstars wie Tilla Durieux und Paul Wegener für die Hauptrollen. Seine völlig neue Regiesprache sprengte die bekannten Schauspielkonventionen. Mit raffinierter Lichtführung, exotischen Klängen und perfekt choreographierten Massenszenen mit Hunderten Darstellern adaptierte er die Szenerie für die Riesenbühne und überwältigte sein Publikum. Gastspiele in Deutschland und halb Europa sowie Zweitinszenierungen in Budapest und London begründeten den internationalen Ruhm dieser bahnbrechenden Arenaaufführung. Am 1. Dezember 1911 folgte ebenfalls im Circus Schumann die Uraufführung von Hofmannsthals Mysterienspiel »Jedermann«, das noch heute fester Programmpunkt der Salzburger Festspiele ist. 1912 feierte Reinhardt auf einer USA-Tournee mit Karl Gustav Vollmoellers Musikpantomime »Das Mirakel« Triumphe. Auch wirtschaftlich gesehen war dieses Tourneegeschäft ein voller Erfolg. Erst hier schuf sich Reinhardt die materielle Basis für den späteren Ausbau seines Theaterkonzerns.
Während des Ersten Weltkriegs war an Großspektakel und Auslandsgastspiele nicht mehr zu denken. In dieser schwierigen Zeit leitete Reinhardt – neben seinen anderen Theatern – von 1915 bis 1918 auch die kurz zuvor erbaute, 2000 Zuschauer fassende Berliner Volksbühne. Dieses Haus war einzigartig in Deutschland, denn es gehörte den beiden Berliner Volksbühnenvereinen, den größten von der Arbeiterbewegung getragenen Besucherorganisationen der Zeit. Unter dem Wahlspruch »Die Kunst dem Volke!« hatten sie sich zwei Zielen verschrieben: dem sozialen, mit bezahlbaren Theaterkarten auch breiteren Bevölkerungsschichten den Zugang zur Kultur zu öffnen; und dem politischen, auch Stücke zu zeigen, die der staatlichen Theaterzensur ein Dorn im Auge waren.2 Als Reinhardt die Volksbühne
»Was mir vorschwebt, ist ein Theater, das den Menschen wieder Freude gibt.«
übernahm, kam er als Retter in der Krise. Zu Kriegsbeginn litt man unter stagnierenden Besucher- und schrumpfenden Mitgliederzahlen. Als Reinhardt das Haus 1918 verließ, hatten sich die Zahl der Mitglieder und der Kartenabsatz verdoppelt.
Eine Architekturikone entsteht
Auch dieser Erfolg gab Reinhardt Zuversicht für sein Sehnsuchtsprojekt – ein eigenes großes Arenatheater, ein »Theater der 5000«. Er war nicht der Einzige, den diese Idee bewegte, aber er war derjenige, der die Mittel und den Mut hatte, sie auch zu verwirklichen. Dafür hatte er bereits 1913 erste Verhandlungen zur Übernahme des Circus Schumann begonnen. Mit dem Ende des Vorstellungsbetriebs bot sich im Frühjahr 1918 eine hervorragende Gelegenheit, den Plan zu verwirklichen, mitten in der deutschen Hauptstadt, gewissermaßen am kulturellen Puls der Nation. Im Juli 1917 war die »Deutsches Nationaltheater AG« gegründet worden, eine Kapitalgesellschaft zur Errichtung und zum Betrieb des neuen Theaters. Am Stammkapital von 1,6 Mio. Mark beteiligte sich Reinhardt selbst mit 500.000 Mark. Die restliche Summe wurde von mehreren wohlhabenden Unternehmern aufgebracht. Die Geschäftsführung übernahm Max Reinhardts Bruder Edmund, der als graue Eminenz im Hintergrund schon lange alle geschäftlichen Belange des Reinhardt’schen Theaterimperiums regelte.
Am 1. April 1918 wechselte der Markthallenzirkus den Besitzer und noch während des Krieges begannen die Bauarbeiten.
Aber der ehrgeizige Plan, in der alten Eisenkonstruktion das mo-
dernste Theater Europas unterzubringen, hatte gewaltige Tücken. Im Mai 1918 stürzte das alte Bühnenhaus ein und gleich mehrere Architekten scheiterten. Erst der 1919 engagierte Hans Poelzig bewältigte die technisch schwierige Aufgabe. Dieser vielseitige Baumeister war als Filmarchitekt, Maler, Bühnenbildner und Hochschullehrer gleich mit mehreren Künsten vertraut. Bis zum Ende der Weimarer Republik sollte er sich zu einer der Schlüsselfiguren des Neuen Bauens in Deutschland entwickeln. Das IG-Farben-Haus in Frankfurt und das Haus des Rundfunks in Berlin sind sein Werk und gelten heute als Ikonen der modernen Architektur. Und genau deshalb haben die Nationalsozialisten 1933 Hans Poelzig sofort aus seinen Ämtern vertrieben. 1919 aber zündete sein origineller Entwurf für das Große Schauspielhaus, den er im Café für Max Reinhardt auf einer Serviette skizzierte. Für Reinhardt riss Poelzig ein Viertel des Plans heraus. Der Rest befindet sich heute – gewissermaßen als baukünstlerische Gründungsurkunde – im Besitz des Friedrichstadt-Palastes.
Im Herbst 1919 war das Theater der Superlative fertiggestellt. Mit einer 30 Meter breiten Bühne mit integrierter Drehbühne, bewegli-
Serviettenzeichnung mit den ersten Fassadenentwürfen Hans Poelzigs für das Große Schauspielhaus. Das fehlende Viertel riss Poelzig für Max Reinhardt heraus – es gilt heute als verschollen.
Innenansicht des Großen Schauspielhauses mit zentraler Arenabühne unter Hans Poelzigs Tropfsteinkuppel.
chen Treppen und drei weit in den Zuschauerraum ragenden, verschieb- und höhenverstellbaren Vorbühnen konnte allen inszenatorischen Wünschen Reinhardts entsprochen werden. Dafür musste ca. ein Drittel der 5000 Zirkussitzplätze weichen. Die Zeitgenossen faszinierte der Bau Poelzigs aber vor allem durch seine expressionistische, revolutionär anmutende Formensprache. Außen verkündete der Riesenklotz mit roter Fassade den Aufbruch in eine neue Zeit. Innen empfing die Besucher eine farbintensive Grottenwelt, erleuchtet vom indirekten Licht exotischer Palmensäulen, bevor sie das strahlende Riesenrund des Zuschauerraums betraten. Insbesondere die vom Berliner Volksmund als »Tropfsteinhöhle« titulierte Stalaktitendecke über der Theaterarena machte international Furore. Bei Dunkelheit schufen dort Hunderte kleiner Lampen die Illusion eines südlichen Freilufttheaters unter dem Sternenhimmel. Dabei hatte die futuris-
tische Gestaltung in erster Linie einen praktischen Sinn. Reinhardts Wunsch, den Zuschauerraum mit einer Kuppel zu überwölben, widersprach allen Gesetzen der Akustik. Um das Unmögliche möglich zu machen und den Schall einigermaßen zu zähmen, erfand Poelzig die hängenden Gipszapfen, die er sich sogar patentieren ließ. Maßgeblich an der Innengestaltung beteiligt war die Bildhauerin und spätere Ehefrau Poelzigs Marlene Moeschke.
Max Reinhardts Arenatheater
Zur Eröffnung des Großen Schauspielhauses am 28. November 1919 zeigte Reinhardt die »Orestie« des Aischylos. Mit der Wahl dieses Premierenstücks knüpfte der neue Hausherr gezielt an das historische Vorbild des griechischen Amphitheaters an. Nach der Katastrophe des
Ersten Weltkriegs hielt die antike Tragödie zudem eine Botschaft für die Gegenwart bereit, erzählte sie doch vom Ende einer blutigen Rachefehde durch die Herrschaft des Rechts. Die moderne Bearbeitung stammte von Karl Vollmoeller, der Max Reinhardt maßgeblich für die Idee des Arenatheaters begeistert hatte. Bei dieser Inszenierung scheute man keine Kosten. In den Hauptrollen waren Spitzendarsteller:innen zu sehen: Alexander Moissi spielte den Orest, Werner Krauß den Agamemnon und Agnes Straub trat als Klytämnestra auf. Chöre mit bis zu tausend Statisten wogten in sensationellen Massenszenen durch den Riesenraum. Die archaisch-monumentale Ausstattung kreierte Ernst Stern, der kongeniale Chefbühnenbildner Reinhardts vom Deutschen Theater. Zahlreiche Pressestimmen begeisterten sich für
die theatralische Wucht der Inszenierung und lobten die neue Nähe zum Bühnengeschehen mitten im Zuschauerraum. Große Anerkennung fand Reinhardts innovatives Konzept eines Volkstheaters, das sich jeder leisten konnte. Hauptstar des Abends aber waren das neue Haus selbst und seine Schöpfer, Max Reinhardt und Hans Poelzig, sie wurden frenetisch gefeiert.
Nur wenige Tage nach Eröffnung der Hauptbühne begründete Reinhardt auch die Tradition der Kleinkunstbühne im Kel-
Programm der Eröffnungsvorstellung des »Großen Schauspielhauses« am 28. November 1919 mit der »Orestie des Aischylos«.
Titelblatt des ersten Programms des Kabaretts Schall und Rauch vom Dezember
ler des großen Hauses. In dem ehemaligen Tunnelrestaurant des Zirkus eröffnete am 8. Dezember 1919 eine Neuauflage des Kabaretts Schall und Rauch. Dieses erste literarisch-politische Kabarett Berlins nach dem Ersten Weltkrieg hatte seine Blütezeit in den so aufwühlenden wie krisenhaften Anfangsjahren der Republik. Klabund, Walter Mehring, Kurt Tucholsky, Friedrich Hollaender, Joachim Ringelnatz, Gussy Holl und Blandine Ebinger gehörten zu seinen prägenden Künstler:innen. Der Keller war im Künstlermilieu so angesagt, dass er auch für den Namen der kurzlebigen Zeitschrift »Schall und Rauch«
Pate stand, die von 1919 bis 1921 Arbeiten avantgardistischer Dadakünstler:innen wie Richard Huelsenbeck und Hannah Höch vorstellte. Aber bereits nach zwei Jahren war die aufregendste Zeit im Kel-
lerkabarett vorbei und die kritischen Talente zogen weiter. Begleitet von mehreren Direktionswechseln entwickelte es sich dann bis Mitte der 1920er Jahre zu einem konventionellen Amüsierbetrieb.
Am Premierenabend hatte das Große Schauspielhaus seine erste Bewährungsprobe bestanden. Nachdem jedoch die Wirkung der überwältigenden Sensation nachgelassen hatte, kamen die Mühen der Ebene in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit. Reinhardt bestückte seine neue Riesenbühne mit dem Erfolgsrepertoire des Deutschen Theaters aus der Zeit des Kaiserreichs, das er nun auch dem ganz großen Publikum zugänglich machen wollte. Oft führte er selbst Regie, unter anderem bei »Hamlet«, »Julius Cäsar«, dem »Kaufmann von Venedig« und dem »Sommernachtstraum« von Shakespeare, einer Wiederaufnahme des »Oedipus« und der antiken Komödie »Lysistrata«. Zwei Stücke zur Französischen Revolution, »Danton« von Romain Rolland und »Dantons Tod« von Georg Büchner, boten nicht nur verschiedene Blickwinkel auf denselben historischen Stoff, sondern sollten auch zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit den jüngsten revolutionären Umwälzungen im eigenen Land anregen. Außerdem inszenierte Karlheinz Martin, der auch im Avantgardetheater und im Film zu Hause war, die Schillerdramen »Die Räuber«
Werbeplakat für die Premiere der »Weber« am 20. Juni 1921 im Großen Schauspielhaus.
und »Götz von Berlichingen« sowie mehrere Stücke Gerhart Hauptmanns. Triumphal gelang 1921 seine Aufführung von Hauptmanns »Die Weber«.
In seinem neuen Haus bot Reinhardt hervorragende Schauspieler auf. Neben bekannte Bühnenstars des Deutschen Theaters wie Paul Wegener und Alexander Moissi traten neue, erst seit kurzem im Rampenlicht glänzende Darsteller:innen wie Ernst Deutsch, Emil Jannings, Werner Kraus, Agnes Straub und auch Heinrich George. Ernst Stern entwarf die Ausstattung, Klaus Pringsheim, der musikalische Leiter der Reinhardt-Bühnen, sorgte in der Anfangsphase für den richtigen Ton.
Dennoch wollte sich ein nachhaltiger Erfolg nicht einstellen und bald erwies sich das Haus sogar als Verlustgeschäft. Auch der phänomenale Stamm von 130.000 Abonnent:innen, den Reinhardt dank seiner guten Beziehungen zu den gewerkschaftlichen Besucherorganisationen hatte rekrutieren können, half da nicht weiter. Denn schnell waren die Stärken und Schwächen der neuen Großbühne sichtbar geworden. Der Riesenraum erwies sich dabei als das Hauptproblem. Er bot stimmgewaltigen Künstler:innen mit außergewöhnlicher Bühnenpräsenz einen ausgezeichneten Rahmen. Intimes, differenziertes Spiel ging dagegen in den Chormassen unter oder verlor sich auf der großen Fläche. Außerdem funktionierte die arenaförmige Anordnung der Zuschauerränge für einen erheblichen Teil des Publikums nur auf der Vorbühne, wenn inmitten des Zuschauerraums gespielt wurde, was häufig nicht der Fall war. Für einen erheblichen Teil des an den Seiten sitzenden Publikums erwiesen sich die Sichtverhältnisse und die Akustik der als Guckkastenbühne gestalteten Hauptbühne als unbefriedigend.
Auch wenn Reinhardt immer wieder einzelne beeindruckende Momente gelangen, ein passendes Regiekonzept für diese Probleme fand er letzten Endes nicht. Selbst im Rückblick revolutionär erscheinende Ideen verfehlten ihre dramatische Wirkung. Um die Intensität der Tribunalszene des »Danton« zu steigern und die Trennung zwischen Spiel und Realität aufzuheben, setzte Reinhardt beispielsweise Hunderte Akteur:innen ins Publikum, die das Geschehen auf der Bühne
Selbst im Rückblick revolutionär erscheinende Ideen verfehlten ihre dramatische Wirkung.