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Jรถrg Sundermeier
Die Sonnenallee
Berliner Orte
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Für Kristine.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.
© be.bra verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2016 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Lektorat: Robert Zagolla, Berlin Umschlag und Titelfoto: Manja Hellpap, Berlin Satz: typegerecht, Berlin Schrift: Stempel Garamond 10/14 pt Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978 -3 -89809 -132-9 www.bebraverlag.de
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Inhalt
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Gestern StraĂ&#x;e
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Bus
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Sitzreise
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Durst
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Unsichtbare
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Sträflinge
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Schwimmfaschisten
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Geschichtsausflug
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Aufwertung
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Massenverteiler
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Burg
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Schokolade
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Schlangen
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Welthauptstadtzubringer
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Abgrund
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Automensch
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Ostberlin
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Alles
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Der Autor
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Gestern Man muss, will man Neukölln kennenlernen, einzig die Sonnenallee kennenlernen. Dann hat man alles. Das jedenfalls behauptete vor vielen Jahren in größerer Runde eine mir nicht weiter bekannte Frau. Ich glaubte ihr das nicht. Ich war gerade frisch nach Neukölln gezogen, Anfang des neuen Jahrtausends, zuvor hatte ich in Charlottenburg und Prenzlauer Berg gewohnt. Nun wohnte ich zwischen Hermannstraße und Karl-Marx-Straße, unweit des S-Bahnhofs Neukölln, und die Gegend erfüllte alle Neukölln-Klischees, die man je vernommen hatte. Es gab in Laufweite so gut wie keine Einzelhändler mehr, auch machten sich Restaurants recht rar. Dafür gab es mehrere streng religiös geführte Treffpunkte, in denen Langbartmänner saßen und mit finsteren Blicken Shisha rauchten. Es gab Spielhallen, die oft keine Hallen, ja nicht mal größere Geschäfte waren, und diese dominierten gemeinsam mit den Wettbüros das Weichbild der Straßen. Die verranzten Kneipen, die
man vorfinden konnte, waren entweder sehr deutschnational, was meistens damit einherging, dass viel gepöbelt wurde, oder sie schlossen um spätestens einundzwanzig Uhr, weil der Wirt schon seit fünfzehn Uhr mit seinen besten Gästen mitgetrunken hatte. Oder aber sie waren pseudoluxuriöse Gangsterbars, in denen nahezu alles ein Plastikimitat war: die Kunstledersessel, die Tische, die Wandbilder, die Colagläser, die Haare der Bedienung. 7
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Die Herrentoilette der Kneipe, die sich in meinem Haus eingemietet hatte, konnte man schon von draußen riechen. Daneben war ein Puff. Unter oder über meiner Wohnung war wohl auch ein Etablissement, manche Freier jedenfalls waren ganz verstört, als sie zu später Stunde vor meiner Tür standen und erfahren mussten, dass ich nicht im Geringsten wusste, wer Analita ist. Da meine Tür nicht immer geschlossen blieb, wenn man nicht abschloss, stand einer sogar einmal in meiner Wohnung. Dass das Licht aus und ich im Bett war, hatte ihn nicht weiter irritiert. Der Spätkauf um die Ecke, der den ganzen Tag über aufhatte, versorgte den nichtreligiösen Teil der Bevölkerung mit dem Nötigsten, er war der Tante-Emma-Laden der Straße, hier wurde auch der meiste Klatsch ausgetauscht. Tagelang konnte es dabei nur darum gehen, wer wieder wen verprügelt hatte. Dass der nächstliegende Lebensmitteldiscounter schloss, empfand man allgemein als Katastrophe, der nächste Discounter, der vielleicht vierhundert Meter weiter entfernt lag, wurde als zu abgelegen wahrgenommen. Meine Nachbarn gingen also ausschließlich zum Späti und beschwerten sich dort über die hohen Bierpreise. Und die Politiker. Und überhaupt. Der nahe gelegene, sehr schön gestaltete Körnerpark wurde zwar auf eine beinahe romantische Weise geliebt, doch niemand schien so recht zu wissen, wofür es ihn eigentlich gab. Daher diente er vornehmlich dazu, dass Kinder ballspielen und Hunde kacken konnten. Neukölln erschien mir fast exakt so zu sein, wie es der Journalist Thomas Blum im »Neuköllnbuch« beschrieben hatte. »Die Kneipen heißen dort ›Zur Tankstelle‹, ›Die Gießkanne‹ oder ›Bei Mama‹, und in jeder von ihnen läuft immer zur selben Uhrzeit ›La Isla Bonita‹ von Madonna. Es sieht in ihnen für gewöhnlich so aus, als wollten die Neuköllner Wirte den Preis
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für die abstoßendste Inneneinrichtung Deutschlands gewinnen. (…) Um sich ihrer Existenz zu versichern, führen viele Neuköllner Hunde mit sich. (…) Beliebt sind insbesondere riesenhafte, beißwütige Köter, die viel Krach schlagen und erbarmungslos alles vollscheißen, was sie sehen. Halb Neukölln besteht aus Discountern für Unterhaltungselektronik und Mobiltelefone. Die andere Hälfte besteht aus Imbissbuden, die etwas verkaufen, das wie Klärschlamm aussieht und auch so schmeckt.« So sah mein neuer Kiez also aus, und ich konnte und wollte damals nicht verstehen, warum ich mir nun auch noch die Sonnenallee anschauen sollte. Die Straße war lang, ja. Es gab diesen Kinofilm, ja. Aber der Film spielte im früheren Osten, wir waren hier jedoch im früheren Westen. Und Neukölln war, so glaubte ich, überall in Neukölln sichtbar. Ich ahnte nicht, wie sehr ich mich irrte. Um das Jahr 2005 herum konnte man als Zugezogener vielleicht noch nicht so recht vorhersehen, was sich in Nordneukölln verändern würde. Ich war zwar schon früher oft dort gewesen, ein sehr guter Freund wohnte in der Ossastraße. Daher war ich, aus Charlottenburg kommend, am U-Bahnhof Hermannplatz ausgestiegen und die Weserstraße hochgelaufen, bis ich zu seiner Straße kam, oder ich hatte die Sonnenallee gekreuzt auf meinem Gang durch die Fuldastraße, an Dönerläden vorbei und dunklen Kneipen. Manche mochten dieses Kaputte, doch mir war das ganze Neukölln suspekt. Wer in den Neunzigern aus Westdeutschland nach Berlin zog, der war in Charlottenburg, Wilmersdorf oder Schöneberg gut aufgehoben, in diesen Stadtteilen konnte man einiges aus der Heimat wiedererkennen, zudem lebten viele Westdeutsche dort und kultivierten an Stammtischen ihr Schwabentum oder ihre Herkunft aus Ostwestfalen. Der Ostteil der Stadt machte es 9
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Traditionslokal
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einem wesentlich schwerer, dort war alles im Umbruch, junge Hausbesetzerinnen oder Raver trafen auf alteingesessene Ostberliner, die sich erst einmal daran gewöhnen mussten, dass ihnen die Partei keine Leitlinie mehr vorgab. Neukölln war irgendwo dazwischen hängen geblieben, nicht ganz westlich war es, nicht östlich, und doch hatte es von beiden Teilen etwas. Das lag nicht an den Menschen mit Migrationshintergrund, die hier wohnten, diese Menschen gab es auch in Schöneberg, Kreuzberg, Spandau oder Reinickendorf, selbst wenn das die Sarrazins, Höckes und von Storchs heutiger Tage gern ignorieren und ein prosperierendes Deutschendeutschland herbeireden, das sie nie mit eigenen Augen gesehen haben können – da es nicht einmal in der Kleingartenkolonie Vaterland oder in der Kneipe »Deutsches Eck« anzutreffen war. Nein, Neukölln lag nicht nur örtlich, sondern auch zeitlich irgendwie dazwischen, es lebte in Agonie. Die kleine Einkaufsmeile in der Karl-Marx-Straße versprühte noch den Charme der siebziger Jahre, das schnarrend berlinerte »Hamwa nich« an der Ladenkasse war noch freundlich gemeint und irgendwo hinten, Richtung »Drüben«, stand vermutlich noch die Mauer. Zwar wussten die meisten, die ihre wache Lebenszeit nicht ausschließlich in Kneipen wie dem »Bierbaum 3«, dem »Zum Donnerwetter« oder dem »Komma Safari« zubrachten, dass die Grenze geöffnet und die Mauer weitgehend abgetragen war, doch obschon es noch keine Mauerwege und keine Pflastersteinlinien in den Straßen gab, die den Mauerverlauf anzeigten, wusste man ganz genau, wo drüben war und ging nicht dahin – nicht in das kürzere Ende der Wildenbruchstraße, nicht in das kürzere Ende der Sonnenallee und auch nicht in das längere Ende der Elsenstraße. Die Partei war in Neukölln die SPD, das Bier war Berliner Kindl, der Berliner Westen galt als arrogant und der Osten per 11
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se für bescheuert. Man pflegte auch keinen ausgeprägten Lokalpatriotismus, man liebte ein bisschen Heimatgefühl, doch nicht zuviel. Der Lokalhistoriker Uli Hannemann weiß über spröde Atlneuköllner, die sich zu ihrer Heimat äußern sollten, Folgendes zu sagen: »Freilich fällt die Liebeserklärung selbst ein wenig spröde aus. Es ist eher ein von Herzen kommendes ›Geht das nicht in deinen dämlichen kleinen Schädel: Ich lieb dich doch, du blöde Kuh!‹« Man lebte in und mit der blöden Kuh Neukölln, weil man hier geboren war oder weil man in Moabit oder in Tempelhof keine Wohnung gefunden hatte. Die Verkehrsanbindung war gut, der Britzer Garten schön, die Proteste blieben in Kreuzberg und die Sanierer in Mitte. Und das war auch gut so. Die meisten Neuköllner waren nicht neugierig und nicht politisch aktiv, sie gingen ihrer Arbeit nach, schimpften auf »die da oben«, kümmerten sich um ihre Familien, pflegten ihren Garten in der Hufeisensiedlung oder ihren Balkon am Landwehrkanal, sie kannten einige Nachbarn noch persönlich und scherten sich ansonsten um niemanden. Sie klagten gern und fanden reichlich Anlass dazu. Veränderungen wurden durchweg passiv erlebt. Die Bevölkerung im nahen Treptow verhielt sich größtenteils genauso, obschon die Umbrüche, die in den Neunzigern stattfanden, für sie viel verheerender waren. Doch auch hier sah man eher zu, was passierte, staunte vielleicht, schaute auch mal, aber dann blieb man wieder da, wo man hingehörte. Und ging nicht gern nach drüben. Kurzum: Für Neukölln und für Treptow war keine große Veränderung in Sicht. Und daher schien es so, als sei die Zeit rechts und links der Sonnenallee stehen geblieben. Was sollte ich dort, fragte ich mich, ich hatte ja schon genug gesehen. 12
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Veränderungen
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Was ich nicht wahrnahm – die Sonnenallee stand zu dieser Zeit schon über hundert Jahre für Neuköllner Verhältnisse, sie hatte alles mitgemacht, Umbenennungen von Plätzen und Städten, Monarchie, Republik und Diktatur, Bombardement und In-
sellage, sie war geliebt und gehasst worden, galt mal als schön, mal als hässlich, und bildete alle Umbrüche und Verletzungen in sich ab.
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Straße Die Sonnenallee war stets Kind ihrer Zeit, wie ein historischer Rückblick bestätigt. Begründet wurde die heute knapp fünf Kilometer lange Straße bereits um 1880. Zuvor gab es hier nur unbefestigte, nicht ausgewiesene, wilde Wege. Zunächst hieß die Allee schlicht, wie üblich, nach einer Nummer im Verwaltungsplan: »Straße 84«. Sie war eine kleine Straße in der damals noch selbstständigen Stadt Rixdorf am Rande Berlins – und diese Stadt lebte sehr gut von der unmittelbaren Nähe zur Hauptstadt des jungen Kaiser-
reiches. Es zeichnete sich schon bald ab, dass man mit der »Straße 84« Größeres vorhatte. Dabei maß sie vom Verkehrsknotenpunkt Hermannplatz aus, der erst kurz zuvor von »Platz 1« umbenannt worden war, gerade mal dreihundert Meter. Dennoch wurde sie 1893 auf den Namen des fünf Jahre zuvor gestorbenen Monarchen getauft und hieß seither Kaiser-Friedrich-Straße. Und einen geliebten Monarchen ehrt man nicht mit einer kleinen Stichstraße! Folglich wurde mit dieser Umbenennung das Schicksal der Straße besiegelt. Sie sollte mehr sein. Sie wurde mehr. Das Sträßchen, das zuvor an der Reuterstraße zu Ende gewesen war, wurde also hin zur heutigen Kreuzung mit Wildenbruchstraße und Erkstraße um achthundert Meter verlängert. Die Gebäude, die ihren Verlauf säumten, wurden von Handwer15
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kern und kleinen Beamten bewohnt, es gab kleinere Fabriken, die stetig wuchsen, eine Schule und selbstverständlich mehrere Gasthäuser. Die Gründerzeit sorgte hier nicht etwa für städtebaulichen Wildwuchs, die Stadtverordneten wussten vielmehr sehr genau, was die Kaiser-Friedrich-Straße werden sollte und verfolgten ihren Plan mit Präzision. Die Geschwindigkeit, in der sich dieser Fahrweg knapp außerhalb Berlins wandelte, zeigt, mit welcher ungeheuren Dynamik sich die Hauptstadt damals entwickelte. Kaum war aus einem matschigen Weg eine Straße entstanden, gruppierten sich kleine Häuser um sie herum, die oft nach nur wenigen Jahren durch größere Bauten ersetzt wurden. Der Wohnungsbedarf dieser Jahre war enorm, die Industriestadt Berlin brauchte Arbeiterinnen und Arbeiter, die mit ihren Kindern oft in klitzekleinen Wohnungen in dunklen Hinterhöfen hausen mussten. Wie die damaligen Adressbücher belegen, stiegen die Mieterzahlen mit jeder Hausnummer stetig an. 1905 ging es dann weiter gen Süden, man erweiterte die Straße bis zur Ringbahn und zur Ringbahnstraße, hier ging es nun schon deutlich industrieller zu. An der Ringbahn brauchte man wegen des großen Verkehrsaufkommens eine neue Station, 1912 wurde daher der Bahnhof Kaiser-Friedrich-Straße eröffnet. Damals verliefen Straße und Bahn noch auf gleicher Höhe. Auf der Straße selbst verkehrten zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren auch elektrisch betriebene Straßenbahnen, die die ursprünglich eingerichteten Pferdebahnen abgelöst hatten. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges errichtete man die KaiserFriedrich-Straßenbrücke und ermöglichte damit die Fortsetzung der Straße über den Neuköllner Schifffahrtskanal hinaus. Eine bis dato existierende namenlose Trasse auf der südlichen Seite des Kanals wurde somit durch feste Strukturen ersetzt. Die Stra16
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Kaiser-Friedrich-Straße um 1910 , Wohnungsbau-Verein Neukölln
ße führte nun aus dem Zentrum Neuköllns, wie sich die Stadt Rixdorf inzwischen nannte, an die Köllnische Heide heran, der zugehörige S-Bahnhof feierte im August 1920 seine Eröffnung. Kurz nach dieser Einweihung wurde Neukölln per Gesetz in die Stadt Groß-Berlin eingemeindet und verlor seine Eigenständigkeit. Doch bereits zuvor, im April 1920, hatten die Stadtverordneten Neuköllns den südlichen Teil der Kaiser-Friedrich-Straße in Sonnenallee umbenannt, nach dem Sturz der Monarchie musste der Kaiservater ja nicht mehr so geehrt werden. Und diese neu benannte Verlängerung wurde schließlich bis 1928 bis zur Baumschulenstraße in Treptow vorangetrieben, der Name Sonnen allee blieb dabei für alle neuen Bauabschnitte erhalten. Nur der nordwestliche Teil der Straße hörte weiterhin auf den Namen des einstigen Monarchen.
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Fünf Jahre später hatte ein wesentlich aggressiverer Alleinherrscher die Macht, wie seine Lakaien es nannten, »ergriffen«. Das sich nun als deutsches begreifende Volk jubelte ihm auch im vermeintlich »roten« Arbeiterbezirk Neukölln mehrheitlich zu (bei den Wahlen 1933 war hier die NSDAP zur stärksten Kraft geworden). Dieser allgemeinen Freude musste selbstverständlich Rechnung getragen werden, daher fasste man im Mai 1938 die Kaiser-Friedrich-Straße und die Sonnenallee erstmals auf der gesamten Länge zu einer Straße zusammen und nannte sie jetzt nach dem Geburtstort Adolf Hitlers und ihm zu Ehren Braunauer Straße. Dieses Geschenk machten die Berliner – unter anderem – ihrem geliebten »Führer« zum 50. Geburtstag. Nachdem Mitte der vierziger Jahre der Krieg dahin zurückgekehrt war, wo man ihn begonnen hatte, und Berlin in Schutt und Asche lag, wollten die neuen Demokraten im Berliner Magistrat nicht mehr so öffentlich an Hitler erinnern. Daher wurde im Juli 1947 die gesamte Straße in Sonnenallee umbenannt, dies sogar über die verschiedenen Besatzungszonen hinweg. Erst seither heißen alle fünf Kilometer der Straße nach dem politisch neutralen Fixstern, dessen Licht in diesem Universum alles Leben spendet. Dass die Straßenbahn die Sonnenallee bis in die sechziger Jahre auf ganzer Länge durchfuhr, lässt sich heute nur noch zwischen Hermannplatz und der Kreuzung mit der Treptower Straße erahnen, dort trennen auf einem Mittelstreifen Grüninseln und Parkplätze die Fahrbahnen, wo früher die Schienen lagen. Dass der Hermannplatz in ein paar Jahren wieder an das Straßenbahnnetz von Berlin angeschlossen werden soll, ist zwar vom Senat festgelegt, doch für die nähere Zukunft der Sonnenallee ohne jede Bedeutung. Die Straßenbahn hat in diesem Teil des Berliner Westens ihre Zeit gehabt. Ein anderes Gefährt ist längst an ihre Stelle getreten: der Bus M41.
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Bus Die Buslinie M41 ist eine geradezu sagenumwobene Metrobusstrecke. Seit ihrer Einrichtung im Jahre 2004 hat sie erhebliches Aufsehen erregt, sie wurde oft beschrieben und besungen. Und das liegt nicht etwa an ihrem Startpunkt in der Mitte der Stadt, sondern vor allem an ihrem südöstlichen Verlauf und den letzten fünfzehn Haltestellen auf der Sonnenallee. Der M41er beginnt seinen Weg am Hauptbahnhof, an einem provisorisch errichteten Busbahnsteig, der seit Jahren verfällt. Rundherum wächst das neue Bahnhofsviertel mit seinen Sandsteinfassaden und den darin wie Schießscharten eingelassenen sehr schmalen Fenstern – die Bauten sehen, so unterschiedlich die Bauherren auch sind, merkwürdigerweise immer gleich aus, immer wirken sie kalt und von stumpfen Technokraten ein bisschen lieblos entworfen. Ganz ohne Liebe dagegen wurde der Busbahnsteig gebaut; hässlich war er immer, nun knicken ihm die Bordsteine weg und der ihn bedeckende Teer bröselt allent-
halben. Dennoch sehen alle, die dort warten, geduldig zu dem Bus hin, der am hinteren Ende des Busbahnsteigs ruht. Vor seinen geöffneten Türen steht eine Fahrerin in Uniform, die Weste ein wenig gelockert, und raucht. Alle, selbst Menschen, die erstmals Berlin besuchen, wissen offenkundig bereits an diesem Punkt, dass man sich beim M41er in Demut üben muss. Der Bus ver19
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langt es, jeder spürt es. Niemand versucht daher, die Fahrerin zu bedrängen, damit er jetzt schon einsteigen darf, selbst bei übelster Hitze oder schlimmster Kälte nicht. Nein, die Dame macht Pause, der Bus ruht, und man selbst wartet brav, denn man ahnt, es kann vielleicht noch schlimmer kommen. Und die, die die Strecke kennen, wissen es – ja, es kommt noch schlimmer. Nehmen wir an, es ist Frühabend. In diesem Fall verläuft die Fahrt mit großer Sicherheit so: Hat die Busfahrerin endlich den Bus gestartet und ist mit diesem die paar Meter, die zwischen Pause und Dienstbeginn liegen, nach vorn gerollt, so nimmt sie nun leicht genervt die Versuche der Hereindrängenden zur Kenntnis, ihren Fahrschein vorzuzeigen. Braucht jemand zu lang, sagt sie, ohne ihn anzuschauen: »Weitergehen!« Hat sie einen guten Tag, hängt sie das Wörtchen »Bitte« an. Doch mit guten Tagen sollte man bei ihr und ihren Kollegen nicht rechnen. Am besten ist es, man zeigt schnell sein Ticket und zwängt sich in den Bus hinein. Sodann rauscht die Dame los und durcheilt mit ihrer Lebendfracht den Tiergartentunnel, passiert den Potsdamer Platz, an dem noch mehr Touristen hereindrängen, und dann das Abgeordnetenhaus und den Gropiusbau. Auch hier steigen Menschen, den Reiseführer in der Hand, ein. Auf der Strecke zwischen Anhalter Bahnhof und Hallesches Tor genießt unsere Fahrerin noch ein bisschen die Ruhe vor dem Sturm. Der Bus ist gut gefüllt, Gepäck versperrt manchen Weg, aber noch sind alle gelassen und freundlich. Weiter geht es, auf die Urbanstraße zu. Die Hälfte der Koffer, die der Bus am Bahnhof eingesammelt hat, verlassen dort mitsamt ihren rucksackbefrachteten Besitzern das Gefährt, nun strömt vor allem einheimisches Volk herein, Jüngste und Älteste, die Gepäckstücke haben Platz gemacht, doch dieser wird sofort 20
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Warten auf den M41er
voll besetzt. Es schiebt sich manchmal arg ineinander, manchmal drängelt jemand, doch immer noch ist das Miteinander organisierbar. Dann hält der Bus kurz vor dem Hermannplatz, neben dem Karstadtgebäude. Ab hier heißt es sich rüsten. Letzte Kofferbesitzer steigen aus, gepflegte Jungs mit Hornbrille und Vollbart oder mit frischem Kurzhaarschnitt und in Parfümwolken gehüllt steigen zu, junge Frauen mit und ohne Kopftuch, auch sie alle sehr gepflegt, verteilen sich rasch, denn gleich beginnt das Schauspiel. Die Busfahrerin atmet noch einmal durch, dann fährt sie an. Bereits die nächste Haltestelle, rund zweihundert Meter weiter, die erste in der Sonnenallee, ist eine Herausforderung. Hier wurde dem M41er eine eigene Haltestelle geschaffen, unweit der Haltestelle für alle anderen Linien. Das war bitter nötig, denn 21
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Aussteigen gilt nicht
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stets drückt sich eine träge Masse in das Fahrzeug hinein, Arbeiterinnen, die aus der U-Bahn in den Bus wechseln, Alkoholiker, die schon jetzt abgespeist sind, Sportlerinnen, die es in die Turnhallen zieht, und Familienväter, die den schweren Einkauf heimbringen wollen. Alle wollen, alle müssen hinein, sie drängen schon, bevor einige Leute überhaupt aussteigen können – in Berlin hat man die Logik des Aussteigenlassens nicht internalisiert, man will alle im Bus haben und sich selbst auch. Aussteigen gilt nicht. Nun wird ein jeder Fleck, auf dem noch ein Fuß halt finden könnte, besetzt. Nur Minuten später haben sich spätestens an der Haltestelle Fuldastraße so viele Leute in den Bus gestaucht, dass jene, die hier aussteigen wollten, bis zur nächsten Station mitfahren müssen, denn sie kommen nicht mehr rechtzeitig heraus, und die Busfahrerin schließt die Tür, wann es eben geht. Auf Proteste reagiert sie nicht, ab jetzt schaut sie bis zur Endhaltestelle nur nach vorn. Die Türen werden per Kopfdruck geschlossen, keine Rücksicht auf Verluste. Wenn es denn geht. Doch zumeist drängen sich so viele Leute im Bus zusammen, dass sie in die Lichtschrankenbereiche an den Türen gedrückt werden, sodass die Tür nicht geschlossen werden kann. Zunächst versucht es die Busfahrerin dann mit einer Durchsage – sie dreht sich dafür nicht um. Sie sagt, nein, bellt in ihr Mikrophon: »Bitte hinten Tür freimachen!« Ein klarer, leicht verständlicher Satz. Doch dieser kann nicht gehört werden, weil die Pubertierenden Tyson und Jean-Claude laut kichernd über das plappern müssen, was sie für Sexualität halten, dieweil Ada ihren Freund am Smartphone zusammenbrüllt und der angetrunkene Walter wild schreit, weil der Bus nicht weiterfährt. Jetzt verstehen die Fahrgäste, die noch nicht resigniert haben, die Zusammenhänge und versuchen beruhigend auf die einzuwirken, die denken, dass die 23
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Parkraumbewirtschaftung
Ausländer an allem schuld sind, obschon sich nur Biodeutsche in der Lichtschranke aufhalten und aufgrund ihrer fortgeschrittenen Mobiltelefonitis nichts von der Welt um sich herum mit-
bekommen. Ich habe erlebt, wie in einer solchen Situation ein Familienvater der Meinung war, sein Kinderwagen müsse noch in den überfüllten M41er hinein, obwohl der Bus bereits zwei Kinderwagen plus Mütter und rund hundert weitere Fahrgäste in sich trug, sodass der dritte Kinderwagen bei allem physischen Aufwand nicht einmal zur Hälfte hineingepresst werden konnte. Der Vater erregte sich sehr, die Fahrgäste schrien ihn an, doch der Busfahrer, der damals den Bus fuhr, machte einfach den Motor aus. »Macht, was ihr wollt«, sagt er mit göttlicher Gleichmut in die Sprechanlage. »Ick hab meene Stulle mit und meen Kaffee, ick hab Zeit.« Dann öffnete er ruhig seine Lunchbox. Es gab sponta24
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nen Szenenapplaus. Interessanterweise konnte das Problem nach dieser Ansage sofort gelöst werden. Während der Busfahrer aus dem Fenster schaute und an seinem Käsebrot kaute, einigten sich die Fahrgäste ohne Schlägerei, ja plötzlich sogar ganz ohne Wortgefechte darauf, wer wann mit welchem Bus fahren durfte. Der Vater zog seinen Kinderwagen zurück, ganz ohne Gebrüll. Schließlich konnte der Busfahrer weiterfahren, und alle Fahrgäste hatten an diesem Tag ihre gute Tat geleistet. Sie lächelten wie Mutter Theresa beim Anblick von Geheilten. Auch die jetzige Busfahrerin hat Nerven wie Drahtseile, sie kommentiert nicht, sie stöhnt nicht bei ihren Durchsagen, sie bleibt neutral. Sachverhalte erläutert sie knapp, und wie jede gute Hirtin weiß sie, dass sie mit ihren Schäfchen nicht diskutieren kann, die Herde braucht klare Grenzen. Sie verlässt sich dabei ganz auf die Entstehung von Vernunft in Krisensituationen, sie hat die Menschheit noch nicht völlig aufgegeben. Tatsächlich kommt sie auf diese Weise einigermaßen voran, der Mob hat die Platzverteilung im Bus bislang noch immer halbwegs selbst organisieren können. Im Menschenknäuel wird das soziale Mitein ander ausgehandelt. Anders der Mob auf der Straße. In gewissen Teilen der Sonnenallee hat der junge Großverdiener seinen Mercedes oder seinen BMW offenkundig nicht ausreichend präsentiert, wenn er ihn nur ganz profan auf einem ausgewiesenen Parkplatz abstellt. Deswegen parkt er lieber in der zweiten Reihe, selbst dann, wenn noch einige Parkplätze frei sind, was selten genug vorkommt. Vor oder nach dem teuren Schlitten halten Zulieferer, die tatsächlich nirgends einen Parkplatz finden können, und entladen hastig ihre LKW. Drumherum strampeln Radfahrer, die die fehlenden Radwege an der Sonnenallee derart kopflos machen, dass sie die Lebensgefährlichkeit ihres Tuns einfach vergessen, 25
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weswegen sie mitten auf der Straße fahren, abbiegen, ohne dies anzukündigen, und sich selbstredend auch bei Nacht ohne Licht fortbewegen – unsere Busfahrerin weiß das, und sie nimmt diese Schrecken mit Geduld. Die Verkehrsverhältnisse lassen den Bus jedoch nur noch über die Fahrbahn schleichen. Ungefähr Höhe Geygerstraße gehen die letzten gepflegten jungen Frauen und Männer als Passagiere verloren, nun ist allein die zerarbeitetete Bevölkerung im Bus, die nur noch heim will, nichts als heim. Der Bus entleert sich an der S-Bahnstation Sonnenallee fast vollständig, nimmt allerdings ebenso viele Menschen wieder auf. Eine andere Ada streitet nun lauthals mit ihrem Freund, ein anderer Tyson giggelt, niemand achtet auf Durchsagen. Am S-Bahnhof Köllnische Heide noch einmal fast das gleiche Bild, wieder großer Austausch, doch es gibt jetzt kein Gedränge mehr im Wagen, alle finden einen Platz, und es wollen ab jetzt auch nie mehr als zwei Kinderwagen untergebracht werden. Am Schulenburgpark ist der Bus noch gut gefüllt, in der HighDeck-Siedlung steigen noch einmal viele aus, an der Endstation schließlich kaum noch jemand. Der Bus ist leer, niemand kam zu Schaden, die Busfahrerin hat sich nach einer Dreiviertelstunde ihre Rauchpause redlich verdient. Seit wir an der Pannierstraße gehalten haben, sind unserem Bus übrigens in engem Abstand zwei weitere M41-Busse gefolgt, der erste halbleer, der zweite führt kaum noch menschliches Leben mit sich. Diese so genannte Rudelbildung der Busse wird immer wieder thematisiert, von Zeitungen und von der Politik, vor allem aber von den Fahrgästen, sie kann jedoch offenkundig nicht vermieden werden, da es immer Zweite-Reihe-Parker, kopflose Radfahrer und gehetzte Eltern mit Kinderwagen geben wird, deren Verkehrsverhalten nicht planbar ist. Weitere Bus26
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Ein Busrudel formiert sich
spuren würden wahrscheinlich sofort mit neuen BMWs zugeparkt, auf mehr Platz für Kinderwagen und Rollstühle würde sicher mit größeren Kinderwagen reagiert werden, und dass Radfahrer einen vorhandenen Radweg nicht unbedingt nutzen, zeigen sie tagtäglich in der Urbanstraße. Vielleicht handelt es sich bei der Rudelbildung aber auch um ein soziokulturelles Phänomen: Immer wieder behaupten die Boulevardpresse und ein ehemaliger Bürgermeister, dass Neukölln von teuflischen Jugendbanden durchdrungen sei, die rechtschaffenen Bürgern die Bratwurst aus der Hand reißen würden. Tatsächlich kann ab und an auch wirklich von echten Jugendbanden berichtet werden, die den von ihnen Bedrängten Geld und Mobiltelefon abnehmen. Die Bande gehört also zu Neukölln. Und Kultur entsteht bekanntlich durch Nachahmung. Daher ist zu fragen: Passen sich die Busse mit der Rudel27
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bildung vielleicht ihrem sozialen Milieu an? Bilden Busse Banden? Glauben sie, dass sie erst in einer Gruppe von drei oder vier Motorisierten wirklich ernst genommen werden in Neukölln? Auffällig ist in jedem Fall das Folgende: Zum Fahrtbeginn an der Haltestelle Baumschulenstraße sind keine Rudel auszumachen, im späteren Fahrtverlauf dann sehr oft. Wechseln die M41-Rudel jedoch in den Bezirk Kreuzberg, verändert sich ihr Verhalten erneut. Am Halleschen Tor wurden bislang beispielsweise nur sehr selten Busrudel gesichtet, nach Unfällen etwa. Der Berliner Rudelbus hat folglich in der Sonnenallee sein einziges Revier. Absolut unerklärlich ist allerdings, warum alle Fahrgäste immer in den ersten Bus drängen müssen, obwohl der folgende Bus bereits hinter diesem wartet und die genervten Fahrer unermüdlich darauf aufmerksam machen. Haben sie keine Erfahrungen mit der Buslinie gemacht? Vielleicht geht es ja wirklich um die knapp fünfundvierzig Sekunden Vorsprung, die man im ersten Bus schlussendlich haben könnte. Andererseits wissen die, die oft fahren, dass der dritte Bus im Rudel oft weniger belebte Stationen überspringt, wenn niemand aussteigen will, und die anderen Busse somit manchmal überholt. Geht es den Neuköllner Rudelbusfahrgästen also in ihrem Einstiegsverhalten darum, die Busse möglichst effizient zu füllen? Geht es darum, die Busfahrer einer Belastungsprobe auszusetzen? Will man die Rudelbildung ignorieren, weil man von Banden eh die Schnauze voll hat? Oder will man auf der ehemaligen Braunauer Straße nun einmal partout im Führerbus mitfahren? Diese Fragen müssen auch nach intensiver Recherche unbeantwortet bleiben. So wie oben beschrieben verläuft also eine normale Fahrt mit dem M41er. Doch ist das, was für unsere Busfahrerin und für viele Stammkunden nichts als Alltag ist, für andere entweder ärgerlich, obskur oder niedlich. Die Buslinie M41 jedenfalls 28
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ist immer wieder Gegenstand von parlamentarischen Anfragen, dutzende Zeitungsartikel widmen sich ihr, es gibt Filmchen, sie wird in eigenen Facebookgruppen diskutiert und es gibt sogar ein Lied über sie, vorgetragen von einer Band, die sich eigens für den M41er gegründet hat. Diese Band heißt »Die wartenden Fahrgäste«, sie setzt sich aus der Autorin Michaela Maria Müller, der Sängerin Sophia Scalpel und dem Musiker Moritz R. zusammen, letzterer ist mit seiner Band »Der Plan« in der Neuen Deutschen Welle Anfang der achtziger Jahre zu einiger Berühmtheit gekommen. Der Song »M41« wurde 2014 auf Vinyl gepresst, die Produktion wurde mithilfe eines Crowdfundings finanziert, heute lässt sich das Lied beispielsweise auf Youtube finden. Auch spielten viele lokale Radiosender den Song, in dem es zu schönschräger Musik heißt: »M 41, du kommst nie allein, / meistens zu zweit oder zu drein. / Manchmal kommst du einfach zu viert, / und dann, dann bin ich zutiefst gerührt. / Du tickst wie du tickst, / ich hab’ es kapiert.« Vielleicht ist dies die beste Haltung, die sich zu der Buslinie entwickeln lässt. Man wartet und man liebt sie. Protest wird nichts ändern, Verzweiflung oder Wut erst recht nicht. Der M41er tickt, wie er tickt. Zeit und Geduld braucht es, Gewaltakte kann man versuchen, sind aber zwecklos, all das haben Busfahrer und Fahrgäste verinnerlicht. Und hat man diesen Grad der Demut erst einmal erlangt, dann kommt man wie »Die wartenden Fahrgäste« zu einer höheren Stufe der Erkenntnis: »Linie M41, du kommst aus Neukölln und riechst würzig. / Linie M 41, wer dich nicht lieb hat, der irrt sich.« Besser lässt es sich nicht sagen.
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