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VERSPIELTE ALTERNATIVEN
Die Hohenzollern
Die preußische Königs- und deutsche Kaiserdynastie war nicht das erste Herrscherhaus, dessen exponierter Repräsentant im November 1918 den revolutionären Umwälzungen in Deutschland zum Opfer fiel. Kurz vor dem vielbeschriebenen Kaisersturz1 waren bereits zwei andere der insgesamt 19 damals noch amtierenden deutschen Bundesfürsten ihrer Herrschaft verlustig gegangen. Beide hatten erst fünf Jahre zuvor nahezu zeitgleich die Regierung in ihren Ländern angetreten: der König von Bayern, Ludwig III., resignierte am 7. November 1918, der Herzog von Braunschweig, Ernst August, folgte am 8. November 1918. Doch das Zurückweichen der beiden vor der anbrandenden Revolutionswelle hätte noch nicht den Sturz aller anderen landesstaatlichen Monarchien nach sich ziehen müssen. Erst der unrühmliche Abgang Wilhelms II. (1859–1941), seit 1888 König von Preußen und Deutscher Kaiser, letzter souveräner Repräsentant einer europäischen Herrscherfamilie, die seit 1415 in ununterbrochener Folge die Regenten des Kurfürstentums Brandenburg (und ab 1618 auch Preußens) stellte und seit 1871 das Amt des Reichsoberhaupts innehatte,2 wirkte als eine Art Initialzündung. In deren Folge verzichteten bis zum Jahresende 1918 sämtliche noch regierenden deutschen Monarchen auf ihre Herrschaftsrechte – mit einer einzigen Ausnahme, dem Fürsten von Waldeck.
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Wilhelm II. hatte durch seine Abreise aus Berlin ins Große Hauptquartier der Obersten Heeresleitung ins belgische Spa bereits am 29. Oktober 1918 die Chance vertan, auf die von verschiedenen Seiten vorgetragenen Pläne, Vorschläge und Forderungen zur Rettung der existentiell bedrohten Monarchie angemessen reagieren zu kön-
nen. Solche Überlegungen zielten allesamt darauf ab, den in seiner Reputation stark angeschlagenen Kaiser und seinen gleichfalls wenig geschätzten Sohn, den preußisch-deutschen Kronprinzen Wilhelm (1882–1951), zum freiwilligen Thronverzicht zu bewegen und stattdessen eine Regentschaft bzw. Reichsverweserschaft für den ältesten Kaiserenkel, den 1906 geborenen Prinzen Wilhelm, zu etablieren. Prinz Wilhelm wäre nach Erreichen der Volljährigkeit im Jahr 1924 Deutscher Kaiser und König von Preußen geworden. Ob auch er sich in dieser Stellung im Januar 1933 – wie später die Unheilsgestalt Paul von Hindenburg – dazu hergegeben hätte, Adolf Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, mag – mit Blick auf seinen Lebensweg – einigermaßen bezweifelt werden. Jedenfalls schob sein kaiserlicher Großvater unter dem verhängnisvollen Einfluss seiner militärischen Umgebung, namentlich des Generalquartiermeisters Wilhelm Groener, den Entschluss zur Abdankung auch nach Ausbruch der revolutionären Unruhen in Berlin am 9. November immer wieder hinaus, bis es für eine Rettung der Monarchie zu spät war. Auf Druck Hindenburgs überquerte Wilhelm II. am Morgen des Folgetages die Grenze vom besetzten Belgien in die neutralen Niederlande.
Mit diesem von den allermeisten Zeitgenossen als Flucht empfundenen Abgang des Obersten Kriegsherrn war der Mythos des preußischen Königtums und seiner Dynastie für immer dahin.3 Selbst konservative Beobachter – etwa der vielgelesene und entschieden kaiserfreundliche Historiker Johannes Haller (1865–1947) – haben den 10. November 1918 als einen »Abschied auf Nimmerwiedersehen«4 interpretiert und jede Möglichkeit einer zukünftigen monarchischen Restauration ausgeschlossen. Der gestürzte Monarch unterzeichnete am 28. November 1918 in seinem niederländischen Zufluchtsort Amerongen eine Abdankungserklärung. Sein Sohn, Kronprinz Wilhelm, verzichtete am 1. Dezember 1918 auf alle seine Rechte an der preußischen Krone und am deutschen Kaisertum. Er hatte, zwei Tage nach seinem Vater, ebenfalls die niederländische Grenze überschritten und lebte in den nächsten Jahren auf der Zuidersee-Insel Wieringen. Dort verfasste er in rascher Folge mehrere umfängliche Memoirenbände
Kaiser und Kronprinz fliehen in die Niederlande, November 1918
und Rechtfertigungsschriften.5 Als »Ghostwriter« bediente er sich dabei der Hilfe mehrerer Publizisten, allen voran des österreichischen Schriftstellers und Journalisten Karl Rosner (1873–1951), der von 1915 bis 1918 als Kriegsberichterstatter im Hauptquartier des Kronprinzen gearbeitet hatte und seitdem mit ihm befreundet war.
Anders als die meisten 1918 entthronten deutschen Bundesfürsten hat Wilhelm II. den Boden seiner Heimat niemals wieder betreten. Im Frühjahr 1920 übersiedelte er nach Doorn, wo er die ihm noch verbleibenden 21 Jahre seines Lebens in weitgehender Gleichförmigkeit, ja Monotonie, verbringen sollte. Hier widmete er sich seinen gärtnerischen Hobbys und seinen intellektuellen, vor allem kulturgeschichtlichen Interessen und veröffentlichte – neben zwei Memoirenbänden6 – zahlreiche Abhandlungen in renommierten deutschen Verlagshäusern mit durchaus wissenschaftlichem Anspruch, wenngleich teilweise etwas verschroben anmutenden Fragestellungen.7 Einen institutionellen Rahmen für derartige Unternehmungen bildete die »Doorner Arbeitsgemeinschaft«, die zwischen 1927 und 1938 in
Buchveröffentlichungen Wilhelms II.: »Die chinesische Monade« (1934) und »Studien zur Gorgo« (1936)
Form von Jahrestagungen religionshistorische, ethnologische und mythengeschichtliche Probleme diskutierte. Zu den regelmäßigen Teilnehmern dieser Zusammenkünfte zählten durchweg prominente Repräsentanten ihrer Fächer, etwa die Ethnologen Leo Frobenius8 und Adolf Ellegard Jensen, der Islamforscher Friedrich Sarre oder die Altphilologen Karl Reinhardt und Walter F. Otto.
Von der politischen Entwicklung in Deutschland blieb Wilhelm II. im Exil weitgehend abgeschnitten. Seine Hoffnungen auf eine Wiedereinführung der Hohenzollernmonarchie hat er dennoch niemals aufgegeben und pflegte rege Kontakte zu monarchietreuen Verbänden, Vereinen und Persönlichkeiten im Reich. Welch starke Sympathien das entthronte Königshaus, besonders aber die frühere Kaiserin Auguste Viktoria (1858–1921) in großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit weiterhin genoss, hatte sich bereits im April 1921, anlässlich der Überführung nach Deutschland erwiesen. Die äußerst populäre Ehefrau des Monarchen9 war zuvor in Doorn verstorben, ihre sterbli-
Beisetzung Kaiserin Auguste Viktorias, April 1921
chen Überreste wurden in Potsdam beigesetzt. Dort begleiteten etwa 100 000 Anhänger der Monarchie den Trauerzug – eine eindrucksvolle Demonstration gegen die durchaus nicht allseits gewünschte republikanische Staatsform.
Auch der Kaiser selbst hätte wohl unter gewissen Umständen als Privatmann nach Deutschland zurückkehren können. Dem Kronprinzen Wilhelm hatte Reichskanzler Gustav Stresemann schon 1923 die Einreise nach Deutschland ermöglicht. 1926 war dem exilierten Monarchen Wohnrecht in Schloss Homburg vor der Höhe eingeräumt worden, das ihm während seiner Regierungszeit als Sommerresidenz gedient hatte. Die Gewährung des Wohnrechts erfolgte damals im Zusammenhang mit einer vertraglichen Einigung zwischen dem Freistaat Preußen und dem Haus Hohenzollern über die Aufteilung des im Gefolge der Revolution zunächst beschlagnahmten hohenzollernschen Gesamtvermögens. Ein vom Preußischen Landtag mit den Stimmen der SPD verabschiedetes Gesetz sprach der Familie 1926
insgesamt 30 Millionen Reichsmark, zahlreiche Grundstücke, Güter und Forsten sowie das Eigentum an über 20 Schlössern, Villen, Burgen, Denkmälern, Kirchen, Mietshäusern und zahlreichen Kunstgegenständen zu.10 Die meisten von ihnen – so das 1959 abgerissene Schloss Monbijou oder die Schlösser Rheinsberg und Cecilienhof – lagen auf dem Territorium der späteren Sowjetischen Besatzungszone und wurden zwischen 1945 und 1948 mitsamt den darin befindlichen Möbeln und Kunstgegenständen entschädigungslos enteignet. Die darüber geführten Auseinandersetzungen dauern bis heute an. Kunsthistorisch bedeutende Gebäude – wie die Burg Hohenzollern, Schloss Rheinsberg, das an der Oder gelegene Schloss Schwedt, das Palais Kaiser Wilhelms I. in Berlin oder die antike Villa Sarabodis neben der Erlöserkirche in Gerolstein – wurden vorrangig museal genutzt und waren für die Öffentlichkeit zugänglich. Ein großer Teil der Kunstsammlungen verblieb zwar im Eigentum des ehemaligen Königshauses, darunter das in Schloss Monbijou untergebrachte Hohenzollernmuseum oder die Bestände der Königlichen Hausbibliothek. Unter der Maßgabe, sie öffentlich zu präsentieren und zugänglich zu machen, wurden sie jedoch hinfort vom Staat betreut. Die Bestände des bedeutenden Brandenburgisch-Preußischen Hausarchivs wurden ab 1926 von beiden Seiten gemeinsam verwaltet.
Die sozialdemokratisch geführte preußische Regierung hatte mit alledem Versöhnlichkeit und Verständigungswillen gegenüber dem ehemaligen preußisch-deutschen Herrscherhaus offenbart und seinen Mitgliedern eine Integration in den demokratischen Staat von Weimar ermöglichen wollen. Doch namentlich Wilhelm II. war zu einem solchen Schritt weder fähig noch willens. Er wollte nur als Kaiser nach Deutschland zurückkehren. Gerade diese Haltung jedoch entzog allen Restaurationsbestrebungen im Reich das Fundament. Wenn überhaupt, dann war eine Monarchie in Deutschland nach 1918 nur auf parlamentarischer Grundlage, etwa nach britischem Vorbild, denkbar. Wilhelm II. indes erging sich in seinen Doorner Verlautbarungen in ungebrochener Geringschätzung des parlamentarischen Systems. Andererseits war er nicht bereit, den Thronanspruch zugunsten jüngerer