Ritter Runkel in seiner Zeit

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 Wolfgang Eric Wagner (Hrsg.)

Ritter Runkel in seiner Zeit  Mittelalter und Zeitgeschichte im Spiegel eines Geschichtscomics

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © be.bra wissenschaft verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2017 KulturBrauerei Haus 2 Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin post@bebraverlag.de Lektorat: Matthias Zimmermann, Berlin Umschlag: typegerecht, Berlin Satz: typegerecht, Berlin Schrift: Minion, Meta Druck und Bindung: Finidr, Český Těšín ISBN 978-3-95410-095-8 www.bebra-wissenschaft.de

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Inhalt

Wolfg a ng Eric Wagner

Zur Einführung

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Historische Wissensinhalte, Geschichtsdeutungen und Geschichtsbilder Erns t Münch

Historische Realität zwischen Ausblendung und Anachronismus Zum Mittelalterbild der Runkelserie im MOSAIK von Hannes Hegen

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Wolfg a ng Huschner

Genua – Pisa – Venedig Ritter Heino Runkel von Rübenstein und die Digedags zwischen den rivalisierenden Handelsmetropolen

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Mich a el Grünba rt

Reisen bildet und verbildet mit den Digedags ans Goldene Horn

45

Rol a nd Scheel

Die Quellen und der Mythos »Waräger« in der Runkelserie des MOSAIK von Hannes Hegen

67

Wolf r a m Drews

Zwischen »Türkenschreck« und türkischem Honig Zum Orientbild in der Runkelserie

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Authentizitätsbeteuerungen und Wege der Vermittlung Bernd Lindner

Der Familienritter oder die Geburt des Ritter Runkel aus dem Geist der Künstlerfamilie Hegenbarth

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T hom a s K r a mer

Bild- und Textquellen der Runkelserie als Stilensemble

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Wolfg a ng Eric Wagner

Hadubrand der Verkalkte trifft Admiral Totalo Flauti im Kastell Peripheria Das Spiel mit fiktiven Personen-, Tier- und Ortsnamen in der Runkelserie

143

Reiner Grünberg

Auf den Spuren Ritter Runkels in Venedig

167

S ven H a rt ig

»Wenn wir euch Rübensteiner auch verflachsen, ihr seid uns doch ans Herz gewachsen!« Ritter Runkel und die Digedags im Geschichtsunterricht

173

Historische Rahmenbedingungen und Entstehungskontext M a rio Niem a nn

»Mittel zur Zerstörung der nationalen Kultur« Der Kampf gegen die »Schmutz- und Schund-Literatur« in der DDR in den 1950er-Jahren

183

Mich a el F. Schol z

Wissensvermittlung – »und nicht so viel Klamauk« – oder sechs Gründe für die Selbstbehauptung des MOSAIK von Hannes Hegen

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Die Autoren Abbildungsnachweis

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Wolfgang Eric Wagner

Zur Einführung

»Comics sind Produkte und somit Spiegel der Gesellschaft«1, hat Michael Scholz bereits 1990 formuliert. Die Einstellung zu und der Umgang mit dieser speziellen Form des »Erzählprinzips Bildergeschichte«2 offenbart etwas über die Kultur einer Gesellschaft, insbesondere auf den Ebenen von Literatur, Politik, Bildung und Medien. Und Comics gewähren wertvolle Einblicke in die Geschichtskultur einer Gesellschaft.3 In den 1950er- und 1960er-Jahren wurde der Comic von Pädagogen, Wissenschaftlern und Kulturpolitikern in beiden Teilen Deutschlands als »Schundliteratur« verachtet. Insbesondere für Kinder und Jugendliche sei er schädlich, hieß es, weil er Kriminalität und Gewalt verherrliche und seine verkürzte Ausdrucksweise in Sprechblasen zur Verkümmerung des Sprach- und des Denkvermögens führe. Erst in den 1980er-Jahren war der Comic in der Bundesrepublik soweit salonfähig geworden, dass er im Bereich der Didaktik zum Gegenstand fachlicher Debatten über den Einsatz im Geschichtsunterricht werden konnte. Schon Mitte der 1990er-Jahre konstatierte man aber in der Zeitschrift »Geschichte lernen. Geschichtsunterricht heute«, dass Comics »als geistreiche Unterhaltungsliteratur durchaus zur Bildung von Geschichtsbewußtsein beitragen«4. Und wiederum nur wenige Jahre später, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wagten es dann auch Fachhistoriker, öffentlich einzugestehen, dass sie, was einen bestimmten historischen Comic anbelangte, lange Zeit ein »Doppelleben« geführt hatten. Namhafte Althistoriker räumten zuerst ein, was eine Generation zuvor in Gegenwart von Fachkollegen noch undenkbar gewesen wäre, nämlich dass sie sich mit Asterix-Comics beschäftigt, ja diese vielmehr noch mit Gewinn gelesen hätten!5 Mittlerweile werden Projekte zur wissenschaftlichen Erforschung des Comics sogar vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Die Rede ist von "CLOSURE", dem »Kieler e-Journal für Comic-Forschung«, dessen erstes Heft 2014 erschienen ist. Der Geschichtscomic »MOSAIK von Hannes Hegen«, der zwischen 1955 und 1975 vorwiegend in deutscher Sprache, aber auch auf Finnisch, Englisch, Holländisch, Serbokroatisch, Albanisch und Ungarisch erschien, ist zwar in den letzten 20 Jahren bereits mehrfach zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht worden. Doch ging es dabei in erster Linie um den historischen Entstehungskontext dieses Geschichtscomics,6 die Wechselbeziehung seiner Zeichner und Texter mit der politischen Geschichte der DDR7 und um den Einfluss von Bild- und Textvorlagen auf seine inhaltliche Gestaltung.8 Der Versuch, Zur Einf ührung

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das MOSAIK von Hannes Hegen selbst als historische Quelle für die Vermittlung von Geschichtsbildern und die Prägung von Geschichtsbewusstsein zu betrachten,9 ist hingegen bislang nur sporadisch unternommen worden.10 Das gilt insbesondere für die Serie über Ritter Runkel innerhalb des MOSAIK von Hannes Hegen. Möglicherweise liegt das an einer gewissen Zurückhaltung der zuständigen Fachhistoriker, der Mediävisten, die zumindest in wissenschaftlicher Hinsicht eher den Umgang mit anderen Quellengattungen gewohnt sind. Fasst man »Geschichtsbewusstsein« mit Hans-Jürgen Pandel als »psychische(n) Verarbeitungsmodus historischen Wissens«11 oder als eine auf Erfahrung aufbauende »individuelle mentale Struktur«12, die aus verschiedenen Kategorien und Dimensionen besteht, so erscheint indes gerade der Geschichtscomic mit seinen hohen Auflagenzahlen geeignet, um dem Zeitgeist, den Meinungen, Verhaltensregeln, Selbstdarstellungen und Deutungen von historischen Ereigniszusammenhängen durch die Leser auf die Spur zu kommen.13 Genau darauf – auf das Deutungsangebot, das die Runkelserie unterbreitet – zielen die Beiträge in diesem Band ab. Sie stammen überwiegend von Autoren, die das MOSAIK von Hannes Hegen in ihrer Jugend selbst gelesen hatten und nun unter diesem Aspekt aus der Perspektive des Fachwissenschaftlers einer erneuten Lektüre unterzogen haben. Ihre Überlegungen dazu haben sie auf der Tagung »Ritter Runkel in seiner Zeit. Mittelalter und Zeitgeschichte im Spiegel eines Geschichtscomics« am 28./29. Mai 2015 in Münster vorgetragen. Drei Autoren, Bernd Lindner, Roland Scheel und Sven Hartig, steuerten freundlicher Weise im Nachhinein weitere Texte zum Thema bei. Die Runkelserie erschien von Mai 1964 bis Juni 1969 in der DDR als fünfte Hauptserie der Zeitschrift »MOSAIK von Hannes Hegen«.14 Erzählt wird die Geschichte eines verspäteten Kreuzfahrers, der um 1284 auf seinem treuen Ross »Türkenschreck«, begleitet von seinen beiden Knappen Dig und Dag, in den Orient reist, um dort einen Schatz zu finden, den einst sein Vater, Kunibert II. von Rübenstein, und dessen Freund, der alte Möhrenfelder, auf der Flucht vor den Türken versteckt hatten zurücklassen müssen. Von Deutschland aus führt die Reise zunächst nach Venedig und Genua. Ab Venedig geht es mit dem Schiff über die Adria nach Dalmatien und Konstantinopel, dann weiter durch Kleinasien an den Euphrat bis zum Persischen Golf. Von dort führt der Weg schließlich zurück zur Heimatburg des Ritters: Rübenstein. Während der Reise erleben die drei Protagonisten zahlreiche Abenteuer. Sie werden von Seeräubern gefangen, organisieren die Hochzeit des Kaisers in Byzanz und tauchen im Persischen Golf nach Perlen. Unterwegs stoßen Dig und Dag immer wieder auf Spuren ihres verschollenen Gefährten Digedag, dem sie in Ormuz endlich begegnen. Auch der gesuchte Schatz wird schließlich entdeckt, enttäuscht aber die hohen Erwartungen. Mit der goldenen Rüstung Alexanders des Großen findet Runkel jedoch einen würdigen Ersatz. Wieder daheim, erhält der Rübensteiner zu guter Letzt die Hand der Dame seines Herzens, Adelaides von Möhrenfeld, und wird obendrein in den Grafenstand erhoben. Obwohl Ritter Runkel und die Digedags »nur« Comic-Figuren sind, war ihr Name in der DDR nahezu für jedermann ein Begriff. Er stand für anspruchsvolle Unterhaltung im Comic-Format. Das MOSAIK wurde im Jahr 1955 von Johannes Hegenbarth al. »Hannes

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Hegen«, dem »Vater der Digedags«, erdacht und ins Leben gerufen. Johannes Hegenbarth, geboren am 16. Mai 1925 in Böhmisch Kamnitz, heutiges Tschechien, wäre im Jahr 2015 90 Jahre alt geworden. Die Tagung hätte also eine Geburtstags-Hommage zu Ehren des Meisters werden können. Er ist jedoch am 8. November 2014 in Berlin verstorben. Das MOSAIK von Hannes Hegen erschien bis 1975 in insgesamt 223 Heften mit einer Auflage von bis zu 660.000 Exemplaren pro Heft und genoss generationenübergreifend Popularität. Die Hefte galten als »Bückware«, lagen also nach ihrem Erscheinen nur für kurze Zeit unter statt auf dem Ladentisch und wurden vorwiegend an Stammkunden verkauft. Einmal ergattert, wurden sie gehütet, von Generation an Generation weitergegeben oder zu begehrten Tauschobjekten, und das nicht nur gegeneinander. Einer beliebten Anekdote zufolge soll einmal eine komplette Sammlung gegen ein neues Auto, einen Trabant 601, getauscht worden sein. Mag diese Fama auch übertrieben erscheinen und eher in den Bereich der urbanen Mythen gehören, so kann allein die Tatsache, dass sie schmunzelnd weitererzählt wurde, als Beleg für die starke Faszination gelten, die von den Bildergeschichten ausging. Die dort dargestellten Abenteuer fesselten nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch viele Erwachsene. Mit Dig, Dag und Digedag konnten ihre DDR-Leser wenigstens gedanklich und in vergangenen Epochen nach Amerika, in die Südsee oder eben in den Orient reisen, berühmten Erfindern begegnen oder gar den Weltraum erobern. Die enorme Begehrtheit der Hefte also in erster Linie auf ihre Eigenschaft als Mangelware zurückzuführen, wäre daher verfehlt. MOSAIK-Lizenzen wurden zudem nicht nur an die »sozialistischen Bruderländer« der DDR verkauft, sondern auch in das »kapitalistische Ausland«, z. B. nach Österreich, in die Bundesrepublik, nach Finnland und Indien. Wohl weil das MOSAIK von Hannes Hegen auf diese Weise dringend benötigte Devisen einbrachte, konnte es eine Ausnahmestellung in der streng beaufsichtigten Presselandschaft der DDR beanspruchen und diese auch wahren. Obwohl die im September 1955 erlassene »Verordnung zum Schutze der Jugend« den Besitz, die Verbreitung und Aufbewahrung vermeintlicher »Schund- und Schmutzerzeugnisse« und damit auch von Comics unter Strafe stellte, um »schädliche Einflüsse« von der Jugend fernzuhalten, durfte das MOSAIK von Hannes Hegen innerhalb der sozialistischen Ökonomie eine kleine Oase der Privatwirtschaft bleiben und konnte gegenüber den ideologischen Vorgaben und Disziplinierungsversuchen vonseiten der SED-Kulturfunktionäre lange Zeit seine Unabhängigkeit und Eigenbestimmtheit in Fragen des Inhalts wahren. Die Bildgeschichten, so heißt es im Museumsmagazin der Stiftung Haus der Geschichte, vermittelten »spannende, weitgehend unpolitische Unterhaltung und sorgfältig recherchiertes Wissen über Kultur, Geschichte, Naturwissenschaft und Technik, das Generationen Ostdeutscher bis heute prägt«15. Diese letzte Aussage nehmen die geschichtswissenschaftlichen Beiträge zum Ausgangspunkt, um den historischen Rahmen, in den die Reisegeschichte von Ritter Runkel und den Digedags erzählerisch eingebettet ist, fachwissenschaftlich zu prüfen. Beginnend mit nur auf den ersten Blick banal erscheinenden Fragen wie: »Sah Venedig um 1280 tatsächlich so aus, wie im Comic dargestellt?«, »Wie gestaltete sich das höfische Leben in Byzanz?« oder »Sind die Schilderungen der ›Türken‹ und der Assassinen zutreffend?« versuchen Historiker, Zur Einf ührung

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Mediävisten, Skandinavisten und Byzantinisten, sich in einem ersten Schritt sowohl den konkreten historischen Wissensinhalten als auch den daran geknüpften Geschichtsdeutungen und Geschichtsbildern (A) zu nähern, die von der Runkelserie transportiert werden. Wie werden z. B. soziale Gruppen, also Ritter, Bürger, Frauen, Orientalen, dargestellt oder Einzelpersonen, etwa der Doge von Venedig oder der Kaiser in Konstantinopel, charakterisiert? Auf welche Weise werden konkrete historische Formen der Vergesellschaftung wie das ritterliche Turnierwesen, das Lehnswesen, der byzantinische Hofstaat und das Kaisertum einbezogen und beschrieben? Diese Fragen berühren den Umgang des Comics mit der historischen Realität. Denn wie nahezu jede andere Form der Geschichtsschreibung erhebt auch der historische Comic den Anspruch, die Wahrheit über historisches Geschehen zu vermitteln. Um diesen Wahrheitsanspruch zu stützen, muss der historische Comic hierzu ebenso wie die Geschichtsschreibung Belege für Authentizität liefern. Stützen für derartige Realitätsbehauptungen können sein: die Namen historisch belegter Personen und Orte, Zitate aus historischen Texten, Beschreibungen von historischen Reisewegen, die Präsentation von historischen Ortsansichten, Stadtplänen oder Karten, Rückgriffe auf die zeitgenössische materielle Kultur (historische Kleidung, Arbeitsinstrumente, Haushaltsgegenstände, Waffen, Kunstwerke, Architektur). In einem zweiten Schritt sind daher diese »Authentizitätsbeteuerungen«16 in den Blick zu nehmen. Es geht darum, die Art und Weise zu analysieren, mit der mittelalterliche Geschichte durch den historischen Comic vermittelt wird: Welche Wege der Vermittlung (B) sind durch die narrative Logik des Comics (Bilder, Sequenzen, Blocktexte) vorgegeben und werden verwendet, und welche rhetorischen Mittel und Strategien werden darüber hinaus eingesetzt? Besondere Aufmerksamkeit wird hierbei intermedialen Grenzüberschreitungen gewidmet, den Einflüssen von Malerei, Film und Literatur auf den Comic. Zugleich geht es um ideologische Konzessionen, die bei der Vermittlung historischer Wissensinhalte gemacht oder eben bewusst nicht gemacht wurden. Schließlich wird die Wirkungsweise der fiktiven, aber doch historisches Flair verbreitenden und sprachlich Authentizität vermittelnden Personen-, Tier- und Ortsnamen analysiert. Bei diesem Vorgehen ist selbstverständlich in Rechnung zu stellen, dass die Texter und Zeichner des MOSAIK von Hannes Hegen nur mit den Wissensbeständen ihrer Zeit operieren konnten. Insofern ist es nötig, noch eine zweite historische Zeitebene zu berücksichtigen: die Zeit, in der der Comic entstand. Die ersten beiden Untersuchungsaspekte, historisches Wissen und dessen Vermittlungsweisen, müssen folglich in einem dritten Schritt mit dem historischen Entstehungskontext der Runkelserie (C), den politischen und kulturellen Rahmenbedingungen der 1960er-Jahre (»Kalter Krieg«; DDR-Kulturpolitik), in Beziehung gesetzt werden, wobei auch deren Wandel im Erscheinungszeitraum zwischen 1964 und 1969 zu beachten ist. So ist trotz der bisher erschienen Studien dazu die Gründung des MOSAIK von Hannes Hegen und seine Weiterexistenz gerade während der Phase der Kampagne gegen die »Schund- und Schmutzliteratur« in der 1950er-Jahren in der DDR noch nicht befriedigend geklärt. Fast gar nicht sind zudem bislang die MOSAIK-Rezipienten und ihre Leseerfahrungen untersucht worden.

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Mit dem Titel des Bandes – »Ritter Runkel in seiner Zeit« – sind also mindestens zwei Zeitebenen angesprochen: das Mittelalter und die Zeitgeschichte. Das Anliegen des Vorhabens besteht mithin keineswegs in der Pflege von Ritter-Romantik oder DDR-Nostalgie und soll sich auch nicht in der Betrachtung des Geschichtscomics als Lieferant oder Vermittler historischer Sachinformationen erschöpfen. Vielmehr geht es darum, den potenziellen Beitrag der Runkelserie im MOSAIK von Hannes Hegen zur Ausprägung des Geschichtsbewusstseins mehrerer Generationen vorwiegend Ost-, aber auch Westdeutscher auszuloten und kritisch zu hinterfragen. Denn die Runkelserie wurde und wird auch nach der Wende, zunächst im Buchverlag Junge Welt bis 1991 und seit 2006 im Tessloff Verlag Nürnberg, weiterhin gedruckt. Die Analyse von historischen Wissensinhalten, Geschichtsdeutungen und Geschichtsbildern (A) beginnt mit einem Beitrag von Ernst Münch, der das Wechselverhältnis von Widerspiegelung der historischen Realität, Ausblendung und Anachronismen in der Runkelserie erörtert und sich dabei räumlich vor allem auf die nordalpinen, deutschen Gebiete des römisch-deutschen Reiches bezieht. Er konstatiert, dass einige Charakteristika der mittelalterlichen Gesellschaft, die auch nach marxistischer Geschichtstheorie den »ersten Abschnitt der Gesamtepoche des Feudalismus« kennzeichneten, nicht nur fehlen, sondern offenbar bewusst weggelassen wurden. Das betrifft überraschenderweise nicht nur die katholische Kirche, mithin einen bedeutenden Teil der im Feudalismus herrschenden Klasse, sondern die christliche Religion überhaupt. Des Weiteren weist Münch darauf hin, dass der Tod, der durch Hungersnöte, Seuchen und Naturkatastrophen im Mittelalter ein alltäglicher Begleiter war, kaum Berücksichtigung findet und fast nirgends Blut fließt. Ebenso werden Geschlechtsliebe und Sexualität nicht thematisiert. Andererseits begegnen häufig Anachronismen, am markantesten wohl der Anbau von Runkelrüben und Möhren in Monokultur. Insgesamt bietet die Runkelserie Münch zufolge einerseits Aspekte, die der historischen Realität des Mittelalters mehr oder weniger entsprechen, andererseits auch offenkundige Verzerrungen, die sich insbesondere durch das Ausblenden einiger wichtiger Aspekte sowie sehr viele zeitliche Widersprüche ergeben. Für das Weglassen ganzer Bereiche des mittelalterlichen Lebens spielten seines Erachtens politische Überlegungen und Rücksichten eine Rolle. Der häufige Einbau von Anachronismen erfolgte vor allem aus humoristischen Gründen, diente dem Karikieren von Personen, Verhältnissen und Vorgängen, um sie dem ins Auge gefassten Lesepublikum aus Kindern und Heranwachsenden leichter verständlich zu machen. Ausgehend von den Zielen, die Johannes Hegenbarth und Lothar Dräger im Frühjahr 1963 dem »Verlag Junge Welt« gegenüber für die »Bilderzeitschrift Mosaik« formuliert hatten, analysiert Wolfgang Huschner deren inhaltliche Umsetzung anhand der Episoden, die in den rivalisierenden italienischen Stadtrepubliken Venedig, Genua und Pisa des späten 13. Jahrhunderts spielen. Um den inhaltlichen Anspruch zu realisieren, demzufolge die Reisen der Digedags eine historisch, völkerkundlich und geografisch belegbare Grundlage besitzen sollten, konsultierten die MOSAIK-Gestalter spezielle Fachliteratur. Obwohl die Zur Einf ührung

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Geschichte der unterdrückten Volksmassen den konzeptionellen politisch-ideologischen und erzieherischen Vorgaben der zentralen SED-Parteileitung des Verlags gemäß in den Vordergrund und die der Herrschenden in den Hintergrund zu rücken war, wählten sie keinen Bauern oder Handwerker als Protagonisten, sondern mit Ritter Runkel von Rübenstein einen Adeligen, der nach marxistischer Auffassung zur herrschenden Klasse der Feudalherren gehörte. Huschner verdeutlicht, dass die Angehörigen der sozialen Führungsgruppen in den Erzählungen teilweise so dargestellt werden, als seien sie den Anforderungen, die man an ihre Person oder ihre soziale Position stellte, nicht gewachsen. So erscheinen die Stadtoberen als eigensüchtig, hinterlistig, korrupt und verschlagen. Einige Führungspersonen versah man aber auch mit positiven und negativen Charaktereigenschaften oder einer ambivalenten Amtsführung und Leistungsbilanz. Angehörigen mittlerer und unterer sozialer Gruppen wie den Fischern von Villamare verliehen die MOSAIK-Gestalter hingegen meist sympathische Charakterzüge und ließen sie häufig auch gute Taten vollbringen. Mit dem oströmischen Reich oder Byzanz nimmt Michael Grünbart einen weiteren historischen Ereignisraum, der für einen umfangreichen Geschichtenkomplex innerhalb der Runkelserie den Handlungsrahmen bildet,17 unter die fachwissenschaftliche Lupe. Nachdem er die institutionellen Rahmenbedingungen des Faches Byzantinistik und dessen Forschungsfragen in den 1950er- und 1960er-Jahren im deutschsprachigen Raum vorgestellt hat, geht Grünbart auf die Forschungen des österreichischen Byzantinisten Herbert Hunger (1914–2000) zur Rezeption des Byzantinismus durch die Moderne ein, insbesondere auf dessen Interesse an vermeintlichen Adaptionen des Kaiserzeremoniells in den sozialistischen Ländern, etwa dem Personenkult um die Parteiführer und den gestelzten Metaphern in ihren Ansprachen, auf Spruchbändern und in den akklamierenden Sprechchören bei organisierten Massenaufmärschen. Von hier aus spannt er den Bogen zu ähnlichen Elementen, die dem byzantinischen Kaiser zur Stabilisierung seiner Herrschaft in der Runkelserie dienen sollten, etwa den verherrlichenden Anreden oder den Akklamationen und Jubelgesängen des »Chores der Schmeichler«. Durch diese und zahlreiche andere mehr oder weniger kritische Anspielungen auf ihre realsozialistische Lebenswelt konnten sich die MOSAIK-Leser auch in der fernen, exotisch anmutenden, fantasievoll gestalteten, aber akribisch aus Spezialliteratur recherchierten historischen Landschaft am Bosporus ein bisschen wie zu Hause fühlen. Den modernen Forschungsmythos von der »Warägergarde« konfrontiert Roland Scheel mit der Darstellung der Waräger im MOSAIK von Hannes Hegen. In nahezu allen einschlägigen Nachschlagewerken und Handbüchern seit den 1970er-Jahren herrscht die Ansicht vor, dass am byzantinischen Kaiserhof in Konstantinopel um das Jahr 1000 eine Warägergarde eingerichtet worden sei, die im 11. Jahrhundert den Höhepunkt ihrer Bedeutung erreicht habe und 1204 de facto untergegangen sei. Irritierend wirkt deshalb, dass in der Runkelserie die Warägergarde auch noch nach 1284 existiert. Denn das steht zwar im Gegensatz zur herrschenden Forschungsmeinung, entspricht aber durchaus der Quellenlage, wie Scheel belegen kann. Deshalb fragt er danach, welche historischen bildlichen und beschreibenden Darstellungen von Warägern den Machern der Runkelserie, auch durch wissenschaftliche Literatur und Quellenübersetzungen vermittelt, zur Verfügung standen. Schritt für Schritt

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kann er so die bildlichen Darstellungen der blonden, uniformierten und mit Doppeläxten bewaffneten Waräger als klischeehaft dekonstruieren. Doch verweist Scheel auch darauf, dass die Runkelserie den modernen Mythos von der Tapferkeit und Treue der Warägergarde persifliert, indem sie diese beiden Tugenden ins Naive, Treuherzig-Anhängliche, bis hin zur einfältigen Gutgläubigkeit wendet. Auf diese ironisierende Weise wird eine Distanz zum skandinavisch inspirierten, heroischen Germanenbild des 19. Jahrhunderts hergestellt, das in der Zeit des »Dritten Reiches«, verstärkt durch tendenziöse Quellenübersetzungen ins Deutsche, einen Baustein für die Rassenideologie bildete. Das Bild, das die Runkelserie vom Orient, dem Ziel der Schatzsuche von Ritter Runkel und den Digedags, entwirft, unterzieht schließlich Wolfram Drews einer historisch kritischen Betrachtung. Er geht dabei nicht nur auf deren Reiseroute durch Kleinasien und das Zweistromland bis zum Persischen Golf ein, sondern auch auf die Mongolei, das Reich der Il-Khane und China, wo die Soloabenteuer von Digedag spielen, sowie Konstantinopel, das mit seinem Basar und den Eunuchen im kaiserlichen Frauengemach ebenfalls orientalische Züge trägt. Auch Drews attestiert den MOSAIK-Gestaltern eingehende Recherchen. Doch seien viele Personen im Orient anders als in Byzanz ahistorisch. Erfundenen Namen wie denen der Scheichs von Basra und Hormuz stehen historisch belegte Namen wie die des Großkhans, des Il-Khans, des Anführers der Assassinen oder von mamlukischen Sultanen gegenüber. Anachronismen wie der ins 13. Jahrhundert transferierte Gesandtschaftsbericht von Liudprand von Cremona aus der Mitte des 10. Jahrhunderts stehen neben der historisch zutreffenden Schilderung der Gesellschaft zwischen Mesopotamien und dem Persischen Golf durch Charakteristika wie Flussschifffahrt, Handel und Basar. Überall treffen die Reisenden auf das gleiche Gesellschaftsmodell, das sich am offiziellen DDR-Geschichtsbild orientierend zwischen der sympathisch dargestellten arbeitenden Bevölkerung und den sie tyrannisierenden Ausbeutern unterscheidet. Die einzigen zwei Ausnahmen bilden der türkische Emir Nureddin, der Vater Suleikas, und der Prinz Gazan im Reich des Il-Khans, der für Sicherheit auf den Straßen und Gerechtigkeit sorgt. Doch Drews vermag auch Multiperspektivität in der Erzählung auszumachen, etwa im Hinblick auf den vermeintlichen Schatz, der sich als Flüchekasse Nureddins herausstellt, in die der Emir auf Drängen seiner Frau Fatima bei jeder ausgestoßenen Verwünschung einzahlen musste, oder wenn Runkel, seine Knappen und der serbische Ritter Janos durch den Wechsel ihrer Kleidung orientalisiert werden. Mit einer faustdicken Überraschung wartet der Beitrag von Bernd Lindner auf, der die Untersuchungen der Art und Weise, mit der mittelalterliche Geschichte durch die Runkelserie vermittelt wird (B), eröffnet. Wer meinte, dass bereits alle Geheimnisse um das Leben der Digedags gelüftet seien, wird überrascht. Indem Lindner den Blickwinkel auf die Vorfahren aus der in Böhmisch Kamnitz (heute Česká Kamenice) beheimateten Familie von Johannes Hegenbarth weitet, kann er zeigen, dass die Runkel-Gestalt bereits im zeichnerischen Figurenkanon seiner beiden Großonkel angelegt ist, die als Maler, Zeichner, Grafiker und Illustratoren ebenfalls bildende Künstler waren: Emanuel Hegenbarth (1868 –1923), Professor für Tiermalerei an der Königlich Sächsischen Akademie der Bildenden Künste in Dresden, und Josef Hegenbarth (1884 –1962), Professor an der Hochschule für Bildende Künste in Zur Einf ührung

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Dresden und Mitglied mehrerer Kunstakademien im geteilten Deutschland. Die Figur des Ritter Runkel wurzelt demnach nicht nur, wie bereits bekannt, im Text des Romans über den Ritter von der traurigen Gestalt, »Don Quijote de La Mancha« (1605/15), von Miguel de Cervantes, sondern vor allem auch in der zeichnerischen Auseinandersetzung seiner beiden Künstlervorfahren mit diesem Stoff. Daraus leitet Lindner das Postulat ab, in die künftige Erforschung der Bildvorlagen für das MOSAIK von Hannes Hegen auch das bildnerische Werk von Emanuel und Josef Hegenbarth einzubeziehen. Thomas Kramer gelingt es ebenfalls, den Bild- und Textquellen der Runkelserie auf die Spur zu kommen. Exemplarisch führt er am Werk von Joseph Victor von Scheffel (1826 – 1886), einem heute beim Lesepublikum weitgehend in Vergessenheit geratenen deutschen Bestsellerautor des 19. Jahrhunderts, der in der DDR nicht zum Lektürekanon gehörte, anhand von Text- und Bildparallelen vor, auf welche Weise und aus welchen Gründen dessen Roman »Ekkehard« (1855), das »epische Gedicht« »Der Trompeter von Säckingen« (1853) und mehrere Stücke aus den Gedicht- und Liederzyklen »Gaudeamus« und »Frau Aventiure« die textliche und graphische Gestaltung der Runkelserie besonders beeinflussten. Vor allem anhand der Lektürebiografie des MOSAIK-Texters Lothar Dräger (1927–2016) kann Kramer zahlreiche Adaptionen und künstlerische Neuinterpretationen Scheffelscher Texte erklären. Unter der Prämisse, dass die fiktiven Namen von Personen, Tieren und Orten neben den hochwertigen, farbenprächtigen Zeichnungen und den phantasiereichen, spannenden Geschichten das dritte Erfolgsgeheimnis des MOSAIK von Hannes Hegen sind, geht Wolfgang Eric Wagner der Frage nach, auf welchen Wegen ihre oft mehrschichtige Bedeutung im Kopf des Lesers entsteht. Hierzu greift er auf ein Schema zurück, das Hendrik Birus und Friedhelm Debus für die Funktionen literarischer Namen entwickelt haben und das vier (Haupt-)Kategorien literarischer Namen unterscheidet: erstens redende oder sprechende Namen wie Totalo Flauti oder Peripheria, zweitens klangsymbolische Namen wie Dig, Dag und Digedag, drittens ethnisch, national, religiös, sozial oder anders klassifizierende Namen wie Conte di Marinadi oder Hadschi Muley Ben Hassan und viertens verkörperte Namen, die auf einen bereits real oder fiktional existierenden Träger dieses Namens verweisen, wie Pseudodiogenes oder Hadubrand. Als drei hauptsächliche Funktionen der fiktiven Namen lassen sich zudem Charakterisierung, Klassifizierung und Unterhaltung ermitteln. So wird an Beispielen aus der Runkelserie deutlich, wie das MOSAIK von Hannes Hegen durch die Gestaltung fiktiver Namen ein generationenübergreifendes Publikum erreicht, einen heterogenen Leserkreis mit verschiedenen Verstehensvoraussetzungen, angefangen vom kindlichen Leser, der sich bereits über den Klang angesprochen fühlt, bis hin zum erwachsenen Leser, der mehr Bezüge und weitere inhaltliche Ebenen erschließt. Als stellvertretender Beleg dafür, mit welcher Kraft das MOSAIK von Hannes Hegen die Sicht seiner Leserinnen und Leser und deren Verständnis bestimmter historischer Epochen prägte, kann ein Kommentar herangezogen werden, den ein Online-Leser auf der Seite des Mitteldeutschen Rundfunks zur Nachricht vom Tod Hannes Hegens im November 2014 postete: »andreas w.: Alles richtig! Als ich das erste Mal 1996 in Venedig war, dachte ich

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auch: ›Das kenne ich doch alles!‹ Alles dank Mosaik. Hegen ruhe sanft.«18 Reiner Grünberg ging es ähnlich. Mit dem ersten Sammelband der Runkelserie als Reiseführer begab er sich 1994 auf die Suche nach den Spuren des Ritters und der Digedags in die Lagunenstadt. Auf eine Weise, die zum Schmunzeln bringt, beschreibt er, wie er die Handlungsorte von Runkels Abenteuern im Vergleich mit den Originalschauplätzen wahrnimmt. Damit steht sein Beitrag Pars pro Toto für die Eindrücke und Erfahrungen vieler Leserinnen und Leser, deren systematische wissenschaftliche Untersuchung noch aussteht. Sven Hartig gibt der Frage nach den Wegen der Vermittlung von Geschichte durch das MOSAIK von Hannes Hegen eine andere Richtung, indem er Möglichkeiten zeigt, mittelalterliche Geschichte mithilfe der Runkelserie im Geschichtsunterricht zu vermitteln. Er stellt dafür drei Möglichkeiten vor und unterbreitet zugleich didaktische Vorschläge für deren Umsetzung: erstens für einen Vergleich von Runkels Ritterregeln aus dem »Handbuch Hadubrands des Verkalkten« mit den Idealen und Tugenden des historischen Rittertums, zweitens für eine Gegenüberstellung der Bauweise und Typen von realen und fiktionalen Burgen (Höhenburg, Wasserburg, Turmburg – »Rübenstein«, »Neurübenstein«, »Burg Möhrenfeld«, »Kuckucksburg«, »Peripheria«) und drittens für das spielerische Hineinschlüpfen in die Rollen von Ritter Runkel und anderen Figuren der Serie. Auf diese Weise können den Schülerinnen und Schülern z. B. Handlungsorientierungen, narrative Kompetenz, (Multi-) Perspektivität und Fremdverstehen vermittelt werden. Um den historischen Entstehungskontext der Runkelserie (C) zu erhellen, beleuchtet Mario Niemann die mit großem propagandistischen Aufwand und verbissen geführte Kampagne der »Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands« (SED) gegen die »Schmutz- und Schund-Literatur« in der DDR in den 1950er-Jahren. Er sieht darin ein prägnantes Beispiel für die deutsch-deutsche Verflechtungsgeschichte, denn zur gleichen Zeit fanden ähnlich ausgerichtete Aktionen in Westdeutschland statt. Im Gegensatz zu den Kampagnen in der Bundesrepublik sind die Vorgänge in Ostdeutschland allerdings weniger gut erforscht. Bei der Beseitigung dieses Defizits kann Niemann erstaunliche Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West hinsichtlich des verwendeten Vokabulars und der eingesetzten Mittel im Kampf gegen »Schmutz und Schund« feststellen, aber auch erhebliche Unterschiede. Einig war man sich hüben wie drüben darüber, dass »Schmöker« und Schmutz-Zeitschriften, vor allem Comics, schädlich für die Jugend seien, weil sie diese verdummten, deren Bereitschaft zur Gewalt förderten und dazu anleiteten, kriminell zu werden. Dahinter stand auf beiden Seiten die Angst vor einer erneuten Gefährdung der sich gerade stabilisierenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Während die SED Comics als typische Auswüchse des kapitalistischen Wirtschaftssystems und des amerikanischen Imperialismus’ geißelte, hielt man sich in Westdeutschland mit Äußerungen gegen den wichtigen Kooperationspartner USA verständlicherweise zurück. Im Osten wie im Westen erreichte die Kampagne in der Mitte der 1950erJahre ihren Höhepunkt und flaute dann ab. Ihr Ende fand sie in der DDR mit dem Mauerbau im August 1961, da die Kinder und Jugendlichen dort ab dann vom Bezug westdeutscher Comics weitestgehend abgeschnitten waren. Doch bereits seit Dezember 1955 gab es ja mit dem MOSAIK von Hannes Hegen eine hochqualitative Alternative. Zur Einf ührung

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Michael F. Scholz geht abschließend der Sonderrolle des MOSAIK von Hannes Hegen unter den Zeitschriften der DDR nach. Zahlreiche Gründe kann er zusammentragen, die es möglich machten, sich gegen Versuche der Vereinnahmung und Politisierung durch Partei (SED) und Regierung erfolgreich zu behaupten. Sie bildeten die Voraussetzungen dafür, dass die Runkelserie zum Höhepunkt in der Geschichte des MOSAIK von Hannes Hegen werden konnte. Dazu gehörte Scholz zufolge in erster Linie die hervorragende inhaltliche Qualität der Hefte, die dazu führte, dass sie bei Jung und Alt beliebt und begehrt waren, was wiederum zur wirtschaftlichen Rentabilität des Unternehmens beitrug. Hinzu kam Johannes Hegenbarths erfolgreiches Streben nach inhaltlicher Unabhängigkeit und seine Fähigkeit, in Verhandlungen zu taktieren, wodurch es ihm gelang, die Redaktion von ideologischer Gängelei frei zu halten. Eine wichtige Bedingung stellte zudem die konkrete politische Situation im Frühjahr 1963 dar, die durch kulturelle Freiheit und Offenheit gekennzeichnet war und so ein schmales Zeitfenster für Neues bot. Zugleich sah der Verlag keine Möglichkeit, die zentralen Mitglieder der Redaktion zu ersetzen: Johannes Hegenbarth als künstlerisch prägenden Leiter, seine Frau Edith als Figurinenzeichnerin und Lothar Dräger als Texter und Szenarist. Mit dem Mittelalter, wurde die Handlung der Bildergeschichten zudem in eine Epoche verlegt, die damals noch außerhalb des Interesses der SED-Ideologen lag und deren Erforschung aus marxistischer Perspektive in der DDR gerade erst begonnen hatte. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten schließlich die besonderen Arbeitsbedingungen, unter denen die »MOSAIK-Manufaktur« unter Leitung von Johannes Hegenbarth arbeiten konnte, denn auch sie sorgten dafür, dass das MOSAIK von Hannes Hegen allen alternativen Projekten überlegen war.

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7

Scholz, Comics, S. 1008. Grünewald, Kinder, S. 24. Gundermann, 50 Jahre, S. 116. Munier, Historische Themen, S. 4. Brodersen, Asterix, S. 7 f. Scholz, Mosaik; ders., Anti-Comic-Debatte. Kock, Mosaik von Hannes Hegen; Friske, ­Geschichte; Lehmstedt, Geschichte. 8 Kramer, MosaikFanBuch, Teil 1 u. 2; ders., Micky. 9 Scholz, Comics; ders. Comics als Quelle; ­Wolfinger, Karl Marx.

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10 Kramer, MosaikFanBuch, Teil 1 u. 2; ders., Micky; Kock, Mosaik von Hannes Hegen. 11 Pandel, Geschichtsbewusstsein, S. 69. 12 Pandel, Dimensionen, S. 132. 13 Gundermann, 50 Jahre. 14 Heft 90 –151. 15 Stiftung Haus der Geschichte, Museums­ magazin 01/2012. 16 Pandel, Comicliteratur, S. 20. 17 Heft 109 –129. 18 14.11.2014, 19:05 Uhr, http://www.mdr.de/ nachrichten/hannes-hegen106_zc-e9a9d57e_ zs-6c4417e7.html (letzter Zugriff: 16.2.2015).

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Ernst Münch

Historische Realität zwischen Ausblendung und Anachronismus Zum Mittelalterbild der Runkelserie im MOSAIK von Hannes Hegen

Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich einerseits inhaltlich auf eher generelle Aspekte, auf Charakteristika der mittelalterlichen Gesellschaft als – in der Sicht der marxistischen Forschung der DDR – erster Abschnitt der Gesamtepoche des Feudalismus1 und andererseits räumlich auf nordalpine, genauer deutsche Gebiete des römisch-deutschen Reiches. »Die deutschen Lande«2 heißen sie in der Runkelserie, ausnahmsweise auch »Deutschland«3. Allerdings wird es nicht ausbleiben können, an einigen Stellen namentlich aus Gründen des Vergleichs oder der Gegenüberstellung und Kontrastierung auch die eigentlichen Hauptorte des Geschehens um und mit Ritter Runkel, Oberitalien, Byzanz und den Nahen bis Mittleren Osten einzubeziehen. Übrigens entsprachen diese durchaus den drei Haupttypen in der Feudalismusdiskussion der DDR-Geschichtswissenschaft seit 1963, in der es u. a. um die Suche nach dem »klassischen« Feudalismus zwischen dem okzidentalen Feudalismus, dem Feudalismus in Byzanz und dem Feudalismus im arabischen Raum ging.4 Dass die Inhalte und Hauptregionen der Runkelserie daher im Geschichts- und Geografieunterricht der DDR kaum bis gar nicht behandelt wurden,5 gilt daher nicht, jedenfalls nicht in gleichem Maße für Geschichtsforschung und -studium in Ostdeutschland. Seit 1966/67 wurden – offenbar in Anknüpfung an die Feudalismusdiskussion in der DDR-Mediävistik – Byzanz und arabisches Kalifat fester Bestandteil der präzisierten Lehrpläne für den Geschichtsunterricht der 6. Klasse an den Polytechnischen Oberschulen der DDR .6 Den auf die DDR-Bevölkerung exotisch wirkenden, südosteuropäischen und außereuropäischen Gebieten gegenüber treten die deutschen Gefilde für die Runkelserie lediglich am Rande in Erscheinung. In erster Linie dürfte dies der Absicht geschuldet sein, den ins Auge gefassten vorwiegend jungen oder jugendlichen Leserkreis7 zu gewinnen, indem das unter ihm weit verbreitete Fernweh, das in der DDR durch den Mauerbau 1961 ungewollt, aber umso stärker befeuert wurde, zumindest durch die Lektüre bedient wurde. Unübertroffen in der gesamten Runkelserie sind in dieser Hinsicht die ersten Sätze mit einer für einen Geschichtscomic eher ungewohnt romantisch-träumerisch-poetischen Beschreibung – einer Art »Engelsgesang«8: einer Annäherung auf Schwingen eines Vogels an die Lagunenstadt Venedig voller Gold- und Silberpracht und melodischem Glockengeläut. Die damit verbundene Aufforderung an die DDR-Leserschaft, sich diesen Flug vorzustellen, musste angesichts der politischen Realität in puncto Reisefreiheit geradezu wie eine handfeste Provokation His torische Re a lität zwischen Ausblendung und A n achronismus

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wirken. Wenn auch nicht so sprachlich hochgestimmt wie an dieser Stelle, setzt die Runkelserie mit ihren Hauptschauplätzen südlich der Alpen und in der Folge weit darüber hinaus bis nach Südosteuropa und in den Nahen und Mittleren Osten bewusst auf das ExotischAnziehende dieser Räume für die in ihrer Reisefreiheit mehr als beschränkte DDR-Bevölkerung.9 Durch die auch vordergründig bediente Affinität zum Fremden und Exotischen10 blieben Aspekte der deutschen Geschichte und der mittelalterlichen deutschen Gesellschaft zwar bewusst am Rande, doch waren sie keineswegs völlig bedeutungslos für die Konzeption der Runkelserie. Sie bildeten nämlich den inhaltlichen und zeitlichen Rahmen für die Abenteuer des Ritters und seiner Knappen und damit den Ausgangs- und Endpunkt der Serie. Allerdings wurde – wohl aus Gründen der Wirksamkeit eines dramatischen Einstiegs direkt in Venedig – der Ausgangspunkt nördlich der Alpen zunächst nur ganz knapp erwähnt.11 Erst viel später12 liefern die Digedags durch eine Erzählung für die Fischer von Villamare die Erklärung und den Ausgangspunkt für ihre Abenteuer mit Ritter Runkel. Diese Erzählung umfasst lediglich anderthalb Hefte der Serie.13 Wesentlich umfangreicher fällt das Ende der Abenteuer wiederum »nördlich der Alpen«14 aus. Es umfasst die Hefte 145 (»Ritter Runkels Heimkehr«) bis 151 (»Ritter Runkels große Stunde«). Insgesamt ist dies zwar nur gut ein Zehntel der Runkelserie. Dennoch zeigt sich durchaus auch eine besondere Affinität zu den »deutschen Landen«, die stellenweise ein Heimatgefühl beinhaltet. Selbstverständlich gilt Letzteres besonders für Ritter Runkel, dessen Heimat zunächst etwas unbestimmt »im Schwabenland und in Franken«15, später dann etwas konkreter mit Franken16 angegeben wird.17 Der ziemlich zu Anfang erwähnte »Rübensteiner Streich«18 des Ritters erinnert hierbei sehr an die »Schwabenstreiche« aus dem berühmt-berüchtigten Gedicht »Schwäbische Kunde« von Ludwig Uhland über Friedrich Barbarossas Kreuzzug.19 Auch die eigentlich heimat- und zeitlosen20 Digedags haben ein positives Verhältnis zu dem Raum nördlich der Alpen und dessen Einwohnern. Das beginnt schon in den Rom-Episoden, an deren Ende sich die Digedags mit dem Koch mit dem bezeichnenden Namen Teutobold21 angefreundet haben und – so vermutet es zumindest der im Süden zurückbleibende Digedag – mit jenem »in dessen germanische Heimat gewandert«22 sind. Auch die Natur nördlich der Alpen empfindet nicht nur Ritter Runkel als sehr angenehm, sondern ausdrücklich auch seine drei kleinen Begleiter. Sie schätzen »statt Palmengesäusels das vertraute Rauschen der Eichen«23. Letztere Bemerkung ist bis zu einem gewissen Grade sicherlich eher ironisch als geringschätzig gegenüber dem Süden und Osten gemeint. Hingegen spotten die Digedags bei einem entsprechenden Vorfall über den »teutonischen Kriegstanz«24 ihres Ritters. Jedoch nicht nur den Digedags, sondern selbst Ritter Runkel ist bei aller Wertschätzung für die Heimat und aller adligen Überheblichkeit Nationalismus – entsprechend einer allgemeinen Konzeption für das MOSAIK von Hannes Hegen25 – fremd. Das war in einer DDR-Publikation auch nicht anders zu erwarten, in einem Land, in dem jedes Schulkind die bekannte »Kinderhymne« von Bertolt Brecht26 mit ihrer direkten Zurückweisung des Anfangs der ersten Strophe des »Deutschlandliedes« gelesen und oft auch auswendig gelernt hatte. Viele Ostdeutsche haben sich nicht von ungefähr nach 1989/90 diesen Brecht-Text als Nationalhymne gewünscht.

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Wie der Titel meines Beitrages bereits generalisierend andeutet, enthält die Runkelserie einerseits Aspekte, die der historischen Realität des Mittelalters mehr oder weniger entsprechen, andererseits auch offenkundige Verzerrungen, die sich insbesondere durch das Ausblenden einiger wichtiger Aspekte sowie sehr häufige Anachronismen27 ergeben. Letztere sind vor allem aus dem Bemühen um bessere Verständlichkeit für das ins Auge gefasste jugendliche Lesepublikum zu erklären. Für das Ausblenden ganzer Bereiche des mittelalterlichen Lebens hingegen spielen nicht zuletzt politische Überlegungen und Rücksichten eine Rolle. Das krasseste Beispiel stellt hierbei die geradezu krampfhafte, fast totale Nichtberücksichtigung der abendländischen christlichen Religion und Kirche, ihrer Geistlichen und ihrer Einrichtungen für das mittelalterliche Europa dar. Erstaunlicherweise ist dieses geradezu mit Händen zu greifende Faktum in der gesamten Literatur über die Runkelserie bislang mit keinem Wort erwähnt, vielmehr eher das genaue Gegenteil behauptet worden. Es trifft nämlich keineswegs zu, dass »Charaktere aus allen sozialen Schichten der bereisten Regionen«28, d. h. etwa »Bauern, Leibeigene, Mönche, Landsknechte«29 Berücksichtigung finden. Sowohl im Text als auch in der bildlichen Darstellung wird alles vermieden, was auch nur entfernt an den christlichen Grundzug des Abendlandes erinnern könnte, obwohl ganz am Ende der Serie durchaus der Gegensatz von Abend- und Morgenland betont wird. Durch diese fast totale Ausblendung tut sich eine für die ansonsten so typische »Themenfülle«30 der Runkelserie einmalige, tiefe Kluft zur Behandlung der mittelalterlichen abendländischen Geschichte in der DDR-Mediävistik sowie im DDR-Geschichtsunterricht auf, in der die christliche Kirche nicht zuletzt als ein Grundpfeiler feudaler Herrschaft ausführlich behandelt wurde.31 Das Ausblenden christlicher Symbole beginnt bereits mit dem ersten Bild der Serie sowie dem entsprechenden Text. Nur schemenhaft haben es hier die zahlreichen Kirchen Venedigs auf das Vogelschaubild geschafft. Das Läuten ihrer Glocken wird ausdrücklich nur an die zahlreich vorhandenen Türme, nicht an Kirchen und Kirchtürme gebunden.32 Und als dann im letzten(!) Band der Serie tatsächlich ein Geistlicher wenigstens in einem Heft mehrfach abgebildet und erwähnt wird, ist dies allein dadurch bedingt, dass eine Hochzeit begangen wird. Der Kaplan der Burgkapelle trägt zwar eine Art Mönchskutte und Tonsur, ihm und der Kapelle fehlt aber jegliches christliche Symbol. Seine Worte während der Hochzeit haben keinerlei religiösen Bezug, geschweige denn Inhalt. Wenigstens wird eine vorhergehende Predigt33 erwähnt. Man fragt sich auch, weshalb es überhaupt eine Kapelle auf der Burg gibt, wenn die bevorstehende Hochzeit mit den sarkastischen Worten kommentiert wird: »Nur der Kaplan ist froh, daß er endlich wieder etwas zu tun hat.«34 Ansonsten hält der beleibte Burgkaplan häufig ein Weinglas in der Hand und versucht hilf- und erfolglos, zwischen Ritter Runkel und Graf Kuckucksberg Frieden zu stiften. Außer dieser Episode auf Burg Möhrenfeld sucht man fast vergeblich in Bild und Wort in allen in der Runkelserie vorkommenden Städten und Dörfern, Ständen und Berufen des Abendlandes nach christlichen Symbolen oder Sakramenten, ausgenommen einen vereinzelten Hinweis auf Kindstaufen bei Bauersleuten.35 Und wenn – ebenfalls erst im letzten Band der Serie – in den Erzählungen der Knechte des Kuckucksberger Grafen auf dessen Burg leibhaftig der Teufel kurzzeitig die Szene betritt36 und den fluchenden, raubenden und spielsüchtigen alten Grafen Willibald His torische Re a lität zwischen Ausblendung und A n achronismus

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mit sich in die Hölle nimmt, so doch eher als Ausgeburt eines im Volk weit verbreiteten Aberglaubens denn als Antichrist. Lediglich in Verbindung mit Interjektionen werden hier und da Spuren des Christentums erkennbar, die jedoch bis auf den heutigen Tag auch im atheistischen Umfeld gang und gäbe sind. Sie zählen daher eher zu den sprachlichen Anachronismen der Serie, erstmals nach mehr als 100 Seiten: »O jemine, meine schöne Rüstung!«37 Selbst die Begriffe »Kreuzfahrer«38 oder »Kreuzritter«39 tauchen im Text selten auf, ebenso ihr Kreuzeszeichen im Bildteil.40 Nur an einer einzigen Stelle wird ihr Kampf als Auseinandersetzung mit »den Ungläubigen«41 thematisiert. Bezeichnend ist auch, dass der Papst lediglich dreimal in der gesamten Serie Erwähnung findet und zwar erst in Konstantinopel in Zusammenhang mit seinem von dort stammenden Lieblingswein.42 Weingenuss – es wurde schon erwähnt – spielte auch für den Kaplan auf der Burg Möhrenfeld eine Rolle. Immerhin erinnern die Namen der Fischer Pietro und Paolo und Pietro-Paolo Pescarini im italienischen Dorf Villamare an die beiden christlichen Apostelfürsten, an den ursprünglichen Fischer Petrus und an Paulus. Angesichts der Dominanz des Atheismus gerade unter den Jugendlichen der DDR ist jedoch fraglich, ob diese Reminiszenz von vielen Lesern der damaligen Hauptzielgruppe der Runkelserie erkannt wurde. Die sehr weit gehende Ausblendung des katholischen Christentums für das mittelalterliche Abendland wird besonders deutlich, wenn man berücksichtigt, wie präsent einerseits der Glaube an die Götter der Römer, Griechen sowie Ägypter und andererseits die byzantinische Kirche – selbstverständlich mit Abbildung der Hauptkirche Konstantinopels, der Hagia Sophia43 –, der Islam und sogar der Buddhismus für die Episoden am Bosporus sowie im Nahen und Mittleren Osten sind. Während das buddhistische Nirwana zunächst kommentarlos genannt wird,44 halten die Autoren der Serie es später wohl angesichts des diesbezüglich wahrscheinlich wenig beschlagenen jugendlichen Leserkreises für nötig, es mit den Begriffen »Reich des Nichts«45 und »Schattenreich«46 zumindest notdürftig zu erklären. Es ist typisch für die gesamte Runkelserie, dass komplizierte Begriffe mitunter erläutert, zuweilen jedoch auch ohne Erklärung verwendet werden. Dem häufigen Zitieren des Korans, mitunter sogar auswendig(!) durch die Digedags,47 steht die Nichterwähnung der Bibel diametral entgegen. Selbst die an einer Stelle zitierten »Posaunen von Jericho«48 scheinen eher dem allgemeinen Sprichwortschatz als direkt der Bibel entnommen. In der Art, wie die Runkelserie eine fast völlige religiöse Abstinenz der mittelalterlichen Bewohner des Abendlandes vermittelt (auch jüdische Bevölkerungsteile treten nicht in Erscheinung), mussten sie den Anhängern anderer Religionen tatsächlich im Wortsinne als »die Ungläubigen aus dem Abendland« vorkommen, wie es der Emir formuliert.49 Die wenigen zumindest den Hauch von Religiosität atmenden Äußerungen Ritter Runkels bestehen in den Bemerkungen, ob er bei Schmerzen etwa Halleluja singen solle,50 »Wir sind keine Muselmänner!«51 und dass der Emir wie ein Heide fluche.52 Durch die fast völlige Negierung der christlichen abendländischen Religion für das Mittelalter bleibt dem Leser allerdings auch eine gänzlich negative Figur eines christlichen Geistlichen, wie etwa für den Islam der Muezzin, erspart.53 Es wäre interessant zu erfahren, ob dieser zumindest

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indirekte Schutz der christlichen Kirche vor Kritik den politischen Vorgaben für die Autoren der Runkelserie entsprang, einer Selbstzensur oder deren individuellen Einstellungen in dieser Frage. Aufgrund der Herkunft und Erziehung der Serien-Autoren ist wohl der Interpretation als indirekter Schutz der christlichen Kirche vor Kritik der Vorzug zu geben. Allerdings ist – ähnlich wie die christliche Kirche für die Runkelserie – eigenartigerweise selbst bis in die neuesten Veröffentlichungen über die Biografie Johannes Hegenbarths die Frage nach seiner konfessionellen Gebundenheit oder Orientierung nirgends thematisiert worden, obwohl sich dies etwa anlässlich der Abbildung eines Wallfahrtsortes in seiner Heimatstadt oder der Erörterung seiner Mitgliedschaft in Organisationen geradezu aufgedrängt hätte.54 Erleichtert wird die Ausblendung der christlichen Religion durch die Nichtberücksichtigung eines Zentralproblems des menschlichen Lebens, das gerade für das Mittelalter von herausragender mentaler Bedeutung war – den Tod. Außer dem Alten vom Berge kommt niemand in der Runkel-Geschichte zu Tode, weder auf natürliche Weise noch durch Gewalt, obwohl die vielfachen Kämpfe, Leibesstrafen, Überfälle, Prügeleien, Raufereien samt Verletzungen, Unglücksfälle (Schiffsuntergänge und Stürze) und Brände hierzu hinreichend Gelegenheit geboten hätten. Selbst der Henker wird am Vollzug der Hinrichtung gehindert, und die Riesenschlange hat nur ein Schwein und nicht den Muezzin verschlungen. Fast nirgends fließt Blut.55 Es gibt zwar mehrere Monumente und Gedenksteine, aber keine Friedhöfe oder Grabsteine. Auch das massenhafte Sterben durch Hungersnöte, Seuchen und Naturkatastrophen wird nicht thematisiert. Sicherlich ist dieses Umgehen des Todes dem Charakter des Genres geschuldet. Das Mittelalterbild der Runkel-Geschichte wird dadurch jedoch – wahrscheinlich ungewollt – zwangsläufig geschönt. Ein weiterer völlig ausgeblendeter Aspekt des mittelalterlichen Lebens in der Runkelserie ist Sexualität.56 Hiermit hängt auch ihr in der Literatur sehr stark, vielleicht sogar zu stark betontes, negatives Frauenbild zusammen.57 Dass der Digedag-Kosmos prüde ist,58 ergibt sich zweifelsohne aus Rücksicht auf die Hauptzielgruppe der Serie, Kinder und Heranwachsende. Dies gilt besonders für den Textteil, während im Bildteil typisch weibliche Körperformen zumindest betont werden. Nur ein Hauch von Erotik taucht auf, als eine Dorfschöne von Villamare die Herzensflammen von Ritter Runkel durch einen heißen Tanz schüren will59 und der Bürgermeister von Freistadt durch die entzückenden Tänzerinnen abgelenkt wird.60 Selbst der in dieser Hinsicht vielversprechende Titel des Heftes 133, »Die Nacht im Serail«, bietet lediglich im Bildteil einen verschämten Hinweis, indem die Lieblingsfrau des Scheichs, die »Nachtigall aus Schiras«, als einzige Frauengestalt in der gesamten Runkelserie mit einem freizügigeren Dekolleté ausgestattet ist. Hierin unterscheidet sich diese Serie deutlich von anderen im MOSAIK von Hannes Hegen. Das für DDR-Verhältnisse tatsächlich etwas negative Frauenbild der Runkelserie hat vermutlich individuelle Gründe. Schon in der Gesamtkonzeption des MOSAIK von Hannes Hegen handelt es sich bei immerhin drei Hauptgestalten ausschließlich um männliche Personen. Auch darüber hinaus treten weibliche Gestalten zumeist nur als namenlose Staffage, BestandHis torische Re a lität zwischen Ausblendung und A n achronismus

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teil einer Bevölkerungsgruppe, höchstens als nachgeordneter Teil eines Paares auf. Dennoch halte ich die in der Literatur vertretene negative Einschätzung der Darstellung der drei – in diesen Fällen ausdrücklich auch mit eigenen Namen versehenen – weiblichen Hauptfiguren Adelaide von Möhrenfeld, Suleika und Irene von Thessalonien der Runkelserie für überzogen.61 Immerhin übertreffen und beschämen sie viele ihrer männlichen Zeitgenossen, namentlich auch ihrer adligen Standesgenossen, mitunter durch Klugheit, Mut und Entschlossenheit. Bezüglich Irenes ist dies in der Literatur mit Recht hervorgehoben worden.62 In den Abenteuern auf der Insel Pordoselene wird – allerdings ausnahmsweise und kurzzeitig, was eine Aufnahme in das »Digedag-Universum« verhinderte63 – selbst eine weibliche Gestalt aus den Unterschichten als kluge und mutige Protagonistin wirksam: Während sonst weibliche Figuren fast durchgängig ohne eigenen Namen auftreten, kämpft das Fischermädchen namens Kleo gemeinsam mit Bruder Kastor und den Digedags.64 Für das in der DDR offiziell propagierte Bild vom Mittelalter, das die Runkelserie berücksichtigen musste, war es ohne Zweifel problematisch, einen Ritter neben den Digedags als Haupthelden der Serie zumindest zum Nebenhelden zu machen, ohne ihn ausschließlich negativ darzustellen.65 Die Autoren der Serie bieten mit dem dalmatinischen oder serbischen Ritter Janos Koloda sogar einen völlig idealisierten Ritter ohne jeglichen Fehl und Tadel auf. Letzteres lässt ihn allerdings hinsichtlich seines charakterlichen Profils auch etwas blass wirken.66 Janos bildet als weiterer adliger Nebenheld jedoch ein willkommenes Gegenstück zu dem viel kritischer gesehenen Ritter Runkel. Überdies ist er, mit seiner slawischen Herkunft, vermutlich eine Reverenz an die ost- und südosteuropäischen slawischen sozialistischen »Bruderstaaten« der DDR, auch wenn die Beziehungen zu Jugoslawien lange Zeit nicht gerade ungetrübt waren. Zumindest beugt die Gestalt des Ritters Janos jeglichem deutschen Nationalismus vor. Es ist mit Recht festgestellt worden, dass die weltanschaulichen Inhalte des DDR-Comics MOSAIK von Hannes Hegen weitgehend nicht im Widerspruch zu den Grundaussagen des dialektischen und historischen Materialismus stehen.67 Von »Ideologiefreiheit«68 im MOSAIK von Hannes Hegen kann daher – wenn überhaupt – nur sehr bedingt die Rede sein. Entsprechend der marxistischen Auffassung über die Rolle der Volksmassen in der Geschichte und ihrer Kämpfe für die Durchsetzung des historischen Fortschritts zeichnet auch die Runkelserie ein durchweg positives Bild des einfachen Volkes. Immer wieder kommt es zu Widerstandsaktionen bis hin zu Aufständen der unteren Bevölkerung gegen die Herrschenden.69 Die Digedags schlagen sich regelmäßig auf die Seite des Volkes,70 aus dessen nichtprivilegierten Reihen sie »als fahrende Spielleute«71 selbst stammen, was übrigens wenig zu ihrer späteren Karriere als Knappen und schließlich sogar als Ritter passt. Das betont der alte Rübensteiner später aus seiner Sicht mit Recht.72 Gelegentlich zeigt sich in der Serie auch ein differenzierteres Bild hinsichtlich der fortschrittlichen Rolle der Volksmassen. So lässt sich im Rom der Kaiserzeit »allerlei schaulustiges Volk«73 durch blutige Gladiatorenkämpfe unterhalten. In Venedig lassen sich die Einwohner durch unterschiedliche Angehörige der Oberschichten zu jeweils unterschiedlichen Aktivitäten verleiten. Mitunter werden daher auch Elemente eines – für DDR-Verhältnisse eigentlich unvorstellbaren – Geschichtspessimismus sichtbar: »Dig und Dag sind allerdings

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der Ansicht, daß sich gewisse Zustände seit der Völkerwanderungszeit nicht geändert haben.«74 Oder in gereimter Form: »Also war sein fern’res Leben stets bedroht von böser List, die, das hat’s schon oft gegeben, vielleicht doch die Sieg’rin ist.«75 Dass Politik den Charakter zu verderben oder politische Macht den Charakter zu korrumpieren vermag, konstatieren Dig und Dag später ansatzweise selbst an ihrem dritten, lange Zeit von ihnen so schmerzlich vermissten und intensiv gesuchten Gefährten Digedag, als er in Fernost als hoher Würdenträger fungierte und – nach der Einschätzung seiner beiden Gefährten – dadurch zur Überheblichkeit zu neigen begann.76 Betont die Runkelserie für ihre Hauptschauplätze durchaus im Sinne der marxistischen Geschichtstheorie den Antagonismus der Klassengegensätze und der daraus resultierenden Klassenkämpfe, so tritt dieser Aspekt für die Heimat von Ritter Runkel in Franken nach dessen Rückkehr deutlich zurück, ja es kommt sogar zu einer gewissen Harmonisierung und Nivellierung der gesellschaftlichen Gegensätze. Wahrscheinlich ist dies nicht zuletzt auf das Bemühen zurückzuführen, den Abenteuern um den Ritter und seine Knappen wie im Märchen ein gutes Ende zu ermöglichen. Der Ritter, auf dessen Burg Rübenstein das Essen zeitweilig nicht besser ist als bei seinen durch Raubritter ausgeplünderten Bauern,77 wird – veranlasst durch die Digedags – zum »Wohltäter«78 nicht nur seiner Bauern, sondern auch zum Beschützer der Kaufleute der Umgebung. Nicht von ungefähr endet hier die Runkelserie, nicht zuletzt wohl, weil sie mit diesem märchenhaften Ausgang sich sehr weit von jenem Streben nach Darstellung der historischen Wahrheit entfernt, das sie an anderer Stelle, wenn auch dort etwas augenzwinkernd an Leopold von Ranke angelehnt, formuliert hat: »Damit aber die Geschichte endlich steht im rechten Lichte, zeigen wir, wie es geschah.«79 Dieses Streben nach Erkenntnis der historischen Realität und ihrer Darstellung ist durchaus ein, jedoch eben nur ein Grundzug der Runkelserie. Bewusste Abstriche daran wurden einerseits aus politischer Rücksichtnahme, andererseits mittels des Einbaus häufiger Anachronismen sowie des Karikierens von Personen, Verhältnissen und Vorgängen sowie der Betonung des Humoristischen aus Gründen der leichteren Verständlichkeit und der größeren Wirkung auf das Lesepublikum gemacht.80 Der zeitliche Einstieg in die Runkelserie mit dem konkreten Jahr 128481 und damit auch nach marxistischer Periodisierung in die Epoche des Spätmittelalters82 bewahrte die Autoren der Serie vor dem Vorwurf einer Glorifizierung des Mittelalters. Denn immer wieder werden Krisenerscheinungen und Missstände des ausgehenden Mittelalters thematisiert, etwa der politische Machtverfall von Venedig oder Byzanz, das Raubritterunwesen oder die wachsende Unzufriedenheit der unteren Bevölkerungsschichten. Der vorhergehende Zeitraum, die eigentliche »Ritterzeit«83 bis zum Ausgang der Staufer, entspricht daher in marxistischer Auffassung dem voll entfalteten Feudalismus. Vor diesen Hintergrund wird auch die Gestalt des Ritter Runkel gestellt, der mit seinem allmählich immer überlebter werdenden Rittertum in der Literatur mit Recht in die Nähe des Don Quijote einerseits und des in der DDR sehr bekannten Ritters Kuno Wimmerzahn des Karikaturisten Erich Schmitt andererseits gerückt worden ist.84Der Bezug der Familie des Runkel auf Rübenstein und ihrer Herkunft auf eine namengebende Burg im tatsächlich burgenreichen Franken ist historisch nachvollziehbar. Gleiches gilt His torische Re a lität zwischen Ausblendung und A n achronismus

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für den Namen Runkel auf Rübenstein sowie das sprechende oder »redende« Wappenbild und die Helmzier nach dem realen Typus »Finck auf Finckenstein«. Völlig anders sieht es mit der Rübe als profaner, alles andere als edler Viehfutterfrucht selbst aus. Hier schimmert eher der Spottbegriff des ostelbischen Krautjunkers – dem aus Pommern stammenden Lothar Dräger gut bekannt85 – mit seinem Gutsbetrieb86 aus dem 19. Jahrhundert durch: »Kraut und Rüben« ist ja noch heute eine beliebte und allgemein verständliche Wendung. Für das ausgehende 13. Jahrhundert sind sowohl die Runkelrübe selbst als auch besonders ihr Anbau als Monokultur auf riesigen ebenen Feldern (und das angeblich in Franken!) nicht nur angesichts der dazu notwendigen sehr hohen Arbeitsintensität völlig anachronistisch.87 Mutatis mutandis gilt dies ebenso für die Monokultur der Möhren auf den Feldern des Möhrenfelders. Der damaligen historischen Realität entsprechend – und dieses häufig unmittelbare Nebeneinander von Authentizität und Anachronismus88 ist hingegen ein Grundzug nicht nur, aber besonders auch der Runkelserie im MOSAIK von Hannes Hegen – ist wiederum die Erwähnung eines wilden Forstes als Grenze zwischen den Kuckucksberger und den Rübensteiner Ländereien.89 Um nochmals auf die bewusste Karikierung der adligen Familiennamen zurückzukommen: Wie weder die Runkelrübe noch die Möhre bei den Pflanzen, so zählt auch der Kuckuck unter den Vögeln keineswegs zu den edlen Geschöpfen (wie etwa besonders der Adler oder andere Greifvögel) und taugt daher eigentlich auch nicht als adliger Namensgeber. Zwar haben es neben dem Hahn sogar relativ profane Vögel, wie der Sperling und die Gans in diese Reihe geschafft, doch war dies für den mit einem besonders schlechten Ruf ausgestatteten Kuckuck in der historischen Realität nahezu undenkbar. Daher zählt der Graf von Kuckucksberg wohl nicht von ungefähr zu den negativsten Adelsgestalten der Runkelserie. Agrargeschichtlich passen die primär Rüben hackenden Bauern auf den Feldern des Adels nicht in einen Zeitraum, der eher durch den Rückgang der bäuerlichen Frondienste gekennzeichnet war.90 Zutreffend hingegen ist wiederum die Erwähnung des Dorfschulzen91 als Reflex der hochentwickelten Dorfgemeindestrukturen im süd- und südwestdeutschen Raum. Allerdings passt die Bezeichnung des bäuerlichen Dorfvorstehers als »Schulze« erneut eher zu ost- als westelbischen Verhältnissen.92 Das Zurückführen der Genealogie der Rübensteiner in ihrer Ahnengalerie bis auf die Zeit Karls des Großen oder möglichst noch weiter zurück war tatsächlich typisch für das Selbstverständnis des Hoch- und Niederadels, wenn auch die Quellenbelege hierfür selbstverständlich oft sehr dürftig ausfielen oder gänzlich fehlten. Dass bei der Grafung eines Adligen wie Ritter Runkel durch den Landesherrn eine Krone in das entsprechende Wappen hinzugefügt wurde, ist ebenfalls eine richtige Beobachtung. Dass insbesondere das gesamte ritterliche Dasein im Idealfall einem mehr oder weniger festen Kanon von Verhaltensmustern unterworfen war, karikiert die Runkelserie mit einer schier endlosen Reihe sogenannter und zumeist als alt bezeichneter Ritterregeln, von denen mehr als 6093 in gereimter Form sämtliche Bände der Serie durchziehen. Ihre übergroße Zahl sowie ihr häufig banaler Charakter sollen auf den ersten Blick sicherlich komisch auf die Leser wirken. Auf einen zweiten Blick hin bestehen sie dennoch zumindest teilweise

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aus Grundpfeilern des hochmittelalterlichen ritterlichen Tugendkanons, wie etwa Tapferkeit und Mut, Ausdauer und Zielstrebigkeit, Treue, Ehrenhaftigkeit und Aufrichtigkeit sowie Frauenverehrung. Man beachte auch, wie ernst es selbst den ansonsten stets so unbeschwert und lustig daherkommenden Digedags mit ihrem Knappeneid ist.94 Allerdings bleibt auch in diesem Zusammenhang im Widerspruch zur historischen Realität die christliche Grundierung völlig ausgeblendet. Oft gehen die in der Runkelserie angeführten Ritterregeln, wenn sie denn überhaupt einen Sinngehalt haben, über das eigentliche ritterliche Leben weit hinaus und überschreiten die Grenze zu allgemeinen Lebensregeln in Form von Sprichwörtern. Die letzte dieser »Ritterregeln« auf der letzten Seite der ganzen Serie fasst nochmals als Quintessenz zusammen, weshalb Ritter Runkel überhaupt als halbwegs positive Gestalt für ein DDR-Publikum auch offiziell vermittelbar war: seine bei aller Kritik an ihm im Laufe und besonders gegen Ende seiner Abenteuer unverkennbaren menschlichen Qualitäten. Und das nicht weil, sondern obwohl er Ritter war. So rufen die Digedags bei ihrem endgültigen Abschied den auf Burg Rübenstein Zurückbleibenden zu: »Wenn wir euch Rübensteiner auch verflachsen, Ihr seid uns doch ans Herz gewachsen!«95 Im Prinzip nämlich lehnen die Digedags – in dieser Hinsicht als Sprachrohr der in der DDR offiziellen Sicht – sowohl das Ritterwesen als auch »Militarismus« generell ab.96 So wird konstatiert, dass Ritter für »eine nützliche Sache« keinen Sinn hätten,97 eine Burg erst als Ruine schön aussehe.98 An die in der DDR sehr bekannten Brechtschen »Fragen eines lesenden Arbeiters«99 erinnert folgende Feststellung über den Burgenbau – angeblich durch die Kreuzritter selbst – im Orient: »In Wahrheit waren es die Bewohner des Landes, die diese Zwingburgen im Schweiße ihres Angesichts unter Aufsicht der fremden Herren errichten mußten.«100 Der auf die ritterliche fränkische Stammburg »Rübenstein« bezogene Name »Neu Rübenstein« für eine dieser Zwingburgen ist übrigens ein Reflex der tatsächlichen Ortsnamensbildungen etwa im Landesausbau und der Ostsiedlung im hohen Mittelalter. An einer anderen Stelle werden alle Generäle als negativ eingestuft.101 Dem Helden- oder Heroenkult begegnen die Digedags mehrfach mit großer Skepsis. Zu oft lagen ihm Geschichtsfälschungen zugrunde. Bezogen die Leser solche Aussagen nur auf mittelalterliche Verhältnisse? Viele der alten und neuen »Ritterregeln« der Runkelserie sind bezeichnende Beispiele für die ausgesprochene Unbekümmertheit, mit der die Serie sich gerade in sprachlicher Hinsicht fast durchgängig über den gewählten historischen Zeitraum am Ende des 13. Jahrhunderts hinwegsetzt. Einerseits wurde das sicherlich bedingt durch das notwendige Bestreben, eine dem vorwiegend jugendlichen Leserpublikum verständliche und zugängliche Sprache zu finden. Andererseits geht dieses Bemühen jedoch weit über den wahrschein­ lichen Bildungs- und Kenntnisstand gerade dieses Leserkreises hinaus. Das betrifft nicht so sehr gelegentliche, abgewandelte oder parodierte Zitate aus der Weltliteratur, wie z. B. »Ein Beil, ein Beil! Ein Inselreich für ein Beil«102 frei nach Shakespeare oder das Schillersche »Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp«103, sondern hauptsächlich das »Liedgut« der Serie. Dieses spielt vermutlich auch deshalb eine relativ große Rolle, weil der Texter Lothar Dräger ausgebildeter Opernsänger und in einem sehr musikalischen Elternhaus aufgewachsen war.104 Lediglich ein einziges Mal wird mit dem »Tandaradei« aus »Unter der Linde« des Walther His torische Re a lität zwischen Ausblendung und A n achronismus

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von der Vogelweide ein tatsächlich mittelalterliches Lied oder Gedicht zitiert.105 Ansonsten gibt es eine geschmacklich gefährliche Ansammlung kitschiger musikalischer Rührseligkeit, die von dem »Das ist im Leben hässlich eingerichtet«106 aus der heute mit Recht fast vergessenen Oper »Der Trompeter von Säckingen«107 nach dem Text von Viktor von Scheffel108 bis zu den ebenso unseligen »Volksliedern« »Alle Tage ist kein Sonntag«109 oder »Warum weinst du, schöne (oder holde) Gärtnersfrau«110 reicht. Letzteres wird dabei sehr wahrscheinlich wider besseres Wissen ausdrücklich als uraltes Minnelied ausgegeben.111 Das erinnert sehr daran, dass es im MOSAIK von Hannes Hegen statt historischer Faktizität oftmals eher um suggerierte Authentizität geht, wie Thomas Kramer mit Recht gegen Petra Kock feststellte.112 Fehlen darf auch nicht das sentimentale »Immer nur lächeln und immer vergnügt«, hier dem byzantinischen Chor der Schmeichler in den Mund gelegt.113 Der Titel dieser Operette von Lehar – »Land des Lächelns« – muss später auch noch für die Charakterisierung des entsprechenden Landes herhalten.114 Stücke wie »Ach du lieber Augustin«115 oder »Muß i denn, muß i denn«116 sind zwar schon etwas älter, jedoch ebenfalls alles andere als mittelalterlich. Wesentlich anspruchsvoller gewählt ist hingegen der Name des Krokodils Mutawakkel117 des byzantinischen Kaisers. Er erinnert sehr an den Namen eines der Diener in dem »Barbier von Bagdad« von Peter Cornelius,118 einer der wertvollsten komischen deutschen Opern aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine ihrer Hauptgestalten heißt überdies Nureddin:119 Diesen Namen trägt in der Runkelserie ein Emir. Der Wachhund Nero120 wiederum erinnert an den gleichnamigen Kettenhund aus Carl Maria von Webers Oper »Der Freischütz«.121 Es gilt daher wohl auch für das Gebiet der Musik, dass die Einstellung Lothar Drägers »im Kunst- und Literaturgeschmack des 19. Jahrhunderts verhaftet bleibt«122. Ein weiteres Beispiel hierfür ist etwa, wenn Runkel von »meines Fußes Eisentritt«123 spricht. Bei Gustav Schwab hieß es im 1853 von Carl Loewe vertonten Gedicht »Die Waffenweihe Kaiser Heinrichs IV.« – einem Lieblingsstück von Kaiser Wilhelm II. – ganz ähnlich: »Man höret nur der Füße Tritt, und schwerer Männer Eisenschritt.«124 Auch in Bereichen des alltäglichen Lebens ist die Serie nicht zimperlich, wenn es darum geht, Erscheinungen, um nicht zu sagen »Errungenschaften« der Moderne oder zumindest späterer Jahrhunderte, bereits in der Zeit Ritter Runkels anzusiedeln, etwa Konservenbüchsen125, die Bockwurst126, den Rückwärtsgang127, den Badeanzug128. Auch der Taler129, der Zentner130, eine Schießbudenfigur131 oder selbst eine Ahnengalerie132 zählen hierzu. Vermutlich ist es demgegenüber ein Reflex der besonderen Betonung wirtschaftlicher und sozialer Aspekte in der DDR-Geschichtswissenschaft auch gerade für das Mittelalter, dass in der Runkelserie das Gefüge von Klassen, Ständen und Schichten vergleichsweise differenziert dargestellt wird. So kontrastiert die »Agrargesellschaft« in Runkels Heimat nördlich der Alpen auffällig mit der deutlich komplizierteren Stadtgesellschaft etwa Oberitaliens. Landesherrschaft und Territorienbildung scheinen als Entwicklung des Spätmittelalters namentlich in deutschen Landen auf. Auch wenn der Name des für Runkels Heimat zuständigen Landesfürsten und Lehnsherrn Herzog Eberhard der Beleibte von Schnorrershausen in erster Linie Karikatur ist, so enthalten die einzelnen Bestandteile dieser primär auf komische

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Wirkung, zugleich aber auch auf negative Wertung bedachten Namensschöpfung doch auch historisch durchaus zutreffenden Momente: Eberhard ist ein in süd(west)deutschen Dynastien häufig belegter Vorname. Die Körperfülle als Anlass für den Beinamen eines Herrschers (der Dicke, der Fette) findet sich spätestens seit den Karolingern immer wieder, wenn nicht schon bei den jeweiligen Zeitgenossen, dann doch bei den nachfolgenden Generationen. Das Grundwort »-hausen« für Ortsnamen Südwestdeutschlands ist geradezu typisch. Und der umgangssprachliche Begriff »Schnorrer« hebt bewusst auf die notorische Finanznot der Territorialherren ab. Diese Not erklärt daher auch das ambivalente Verhalten des Herzogs Eberhard gegenüber dem Raubritterwesen. Einerseits muss er wegen seiner Stellung und seines Prestiges auf den Landfrieden achten, der explizit angesprochen wird.133 Auf der anderen Seite duldet er jedoch das Treiben der Raubritter, da er bei ihnen verschuldet ist.134 Hier deutet sich die beginnende, besonders finanzielle Abhängigkeit der Landesherrschaft von den Landständen und ihrem Steuerbewilligungsrecht als wichtiger Waffe in der politischen Auseinandersetzung an. Dass der Landesherr dem niederen Adel in seinem Raubritterunwesen bewusst durch die Finger sieht, entspricht allerdings auch deutlich der marxistischen Interpretation der Zugehörigkeit sowohl des Landesherrn als auch des niederen Adels zur Feudalherrenklasse mit gemeinsamen Klasseninteressen. Nicht nur die Territorialherren in ihrer Finanznot, sondern auch der niedere Adel beginnt seit dem Spätmittelalter, einen Anpassungszwang zu spüren. Bereits ein Urahn des Rübensteiners äußert die bemerkenswerte Einsicht: »Wir müssen uns umstellen (…). Bald werden die Krämer mehr sein als wir.«135 Und selbst seinem intellektuell wesentlich schlichter gestrickten Nachkommen Ritter Runkel schwant es gegen Ende der Serie, als sein Vater die geplanten »Rübensteiner Festspiele« für unter der Würde eines Ritters erachtet: »Man muß doch mal etwas Neues wagen!«136 Doch ist das Verhalten Runkels gegenüber dem aufkommenden Städtebürgertum ambivalent und unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht so sehr von dem der Autoren der Serie, die ihrerseits das in der DDR-Geschichtswissenschaft durchaus umstrittene Bild des mittelalterlichen Bürgertums reflektieren.137 Einerseits wird das revolutionäre Element etwa der kommunalen Bewegung in den städtischen Autonomiebestrebungen hervorgehoben. Nicht von ungefähr trägt die der Burg Rübenstein nächste Stadt den programmatischen Namen »Freistadt«. Übrigens fehlt auf allen Darstellungen dieser Stadt wiederum jeglicher Hinweis auf ein Kirchengebäude. Wenigstens beim Panorama des Ortes138 und beim Rathaus samt Marktplatz139 hätte ein solches bei Berücksichtigung der historischen Realität unabdingbar sichtbar werden müssen. Andererseits dünkt sich Runkel etwas Besseres zu sein als ein Krämer.140 Seine Anprangerung des Geizes der Krämer und ihrer Geldgier als Pfeffersäcke141 findet ihr Gegenstück in der Rolle der Raubritter als Unglück für die Kaufleute. Dieser – aus der Sicht der DDR-Geschichtswissenschaft klassenmäßige – Widerspruch zwischen Adel und Stadtbürgertum142 wird wie oben bereits angedeutet für Runkel erst am Ende der Serie im Sinne einer wenig glaubhaften, eher märchenhaften Harmonisierung aufgelöst. Freilich ließe sich das komplizierte Wechselverhältnis von Widerspiegelung der historischen Realität, von Ausblendung und Anachronismen in der Runkelserie noch an etlichen His torische Re a lität zwischen Ausblendung und A n achronismus

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anderen Beispielen zeigen, etwa für das Militär- und Turnierwesen143, die Kleidung144, die Haartracht, die Ernährung etc. Die Feststellung, dass die Runkelserie »ein einzigartiges Mosaik des Lebens am Ende des 13. Jahrhunderts«145 darstellt, ist daher gleichermaßen richtig wie falsch. Gestatten Sie mir zum Abschluss noch ein persönliches Fazit: Nach einem halben Jahrhundert habe ich mich aus gegebenem Anlass nochmals und erstmals wieder intensiv mit der Runkelserie befasst. Der besondere Zauber jener ersten Begegnung mit ihr wollte, sollte und konnte sich wohl nicht wieder einstellen. Damals gehörte ich vermutlich zu der – wie es heute heißen würde – Hauptzielgruppe der Serie. Tatsächlich bin auch ich nach Möglichkeit Monat für Monat zum Zeitungskiosk gegangen, gespannt auf die druckfrisch neuen Abenteuer Runkels und seiner kleinen Begleiter. Erst auf unserer Tagung habe ich übrigens erfahren, dass man diesen DDR-Comic damals abonnieren konnte, wenn man denn Glück oder Beziehungen hatte. 50 Jahre später, nach Studium und jahrzehntelanger eigener wissenschaftlicher Beschäftigung zumindest mit einigen Aspekten des historischen Hintergrundes der Runkelserie kann meine heutige Haltung ihr gegenüber naturgemäß nicht mehr die der 1960er-Jahre sein. Geblieben ist jedoch der Eindruck ihrer nachhaltigen und exzeptionellen Wirkung, die sich nicht zuletzt aus ihrer Komplexität, Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit ergibt. Anmerkungen  1  2  3  4  5  6

Münch, Feudalismus. Heft 98, S. 2. Heft 141, S. 24. Müller-Mertens, Feudalismus. Kramer, Micky, S. 29. Kramer, MosaikFanBuch, S. 29, 37, 47, 52–54, 61, 77; Lehmstedt, Geschichte, S. 244.  7 Steinlein/Strobel/Kramer, Handbuch, S. 951.  8 Kramer, MosaikFanBuch, S. 28.  9 Kramer, Geschichte, S. 326. 10 Steinlein/ Strobel/Kramer, Handbuch, S. 951. 11 Heft 90, S. 9. 12 Heft 97, S. 15. 13 Heft 97, S. 16 –24, u. Heft 98, S. 2–22. 14 Heft 145, S. 2. 15 Heft 97, S. 15. 16 Heft 128, S. 17. 17 Kramer, MosaikFanBuch, S. 21; Grünberg/Hebestreit, Handbuch, S. 14 und 329. 18 Heft 90, S. 7. 19 Uhland, Gedichte, S. 209. 20 Lindner, Die drei Leben, S. 59. 21 Pfeiffer, Digedag-Universum, S. 97.

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22 Heft 100, S. 24. 23 Heft 145, S. 2. 24 Heft 92, S. 8. 25 Lehmstedt, Geschichte, S. 210 –211. 26 Brecht, Werke, S. 294 f. u. 303. 27 Kramer, Micky, S. 308, 309. 28 Kramer, Micky, S. 76. 29 Kramer, Micky, S. 268. 30 Steinlein/Strobel/Kramer, Handbuch, S. 950. 31 Werner/Matschke, Einleitung, S. 9 –57. 32 Heft 90, S. 6 f. 33 Heft 146, S. 13. 34 Heft, S. 10. 35 Heft 97, S. 14. 36 Heft 150, S. 9 –11. 37 Heft 95, S. 11. 38 Heft 98, S. 8. 39 Heft 90, S. 7, u. Heft 128, S. 10. 40 Heft 128, S. 11 f. 41 Heft 128, S. 17. 42 Heft 114, S. 12 u. 15. 43 Kramer, MosaikFanBuch, S. 61. 44 Heft 118, S. 16. Erns t Münch

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