Käthe Kollwitz (Leseprobe)

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Ernst Freiberger-Stiftung

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Käthe Kollwitz

Gudrun Fritsch Josephine Gabler Helmut Engel

be.bra wissenschaft

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Inhalt

Ernst Freiberger Ein Denkmal für Käthe Kollwitz Helmut Kohl Grußwort

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Gudrun Fritsch Lebensbilder – Käthe Kollwitz in ihrer Zeit

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Helmut Engel Die Weißenburger Straße 25

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Josephine Gabler Von der »Rinnsteinkunst« zum »Nationaldenkmal«

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Josephine Gabler Käthe Kollwitz und ihr Werk (Mit einem Beitrag von Helmut Engel)

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Dokumentenanhang

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Literatur Bildnachweis Personenregister Die Autoren

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Ernst Freiberger Ein Denkmal für Käthe Kollwitz

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Die Kunst von Käthe Kollwitz erkennt man auf den ersten Blick. Wer einmal einer Skulptur, einer Figurengruppe oder einer Graphik von ihr begegnet ist, der wird es nie vergessen. Man muss kein kunsthistorisches Wissen haben, ja, man muss nicht einmal ihren Namen kennen, um sofort zu spüren, dass hier eine große Persönlichkeit am Werk ist, dass es hier ums Ganze geht, um das menschliche Schicksal in allen seinen Ausdrucksformen. Die ewigen, alle Menschen ergreifenden Lebenszyklen sind der Stoff dieser Kunst: Zärtlichkeit und Liebe, Mutterschaft und Familie, Krankheit, Leiden und Tod, Ergebung ins Schicksal und Rebellion. Um diese unsterblichen Fragen hat diese große Ausnahmekünstlerin gerungen – von ihren Anfängen in der wilhelminischen Epoche bis zu ihrem einsamen Tod weitab von ihrer Heimatstadt Berlin im Schicksalsjahr 1945. Käthe Kollwitz hat vor allem die Lebensthemen Schmerz, Abschied und Sorge in vielen berührenden Bildern und Skulpturen variiert. Dass es die dunklen Seiten des Lebens mehr als die hellen waren, die sie behandelte, lag an der seelischen Disposition der Künstlerin, ganz sicher aber auch am Schicksal ihrer Generation: Das Leben der Kollwitz ist ein deutsches Leben gewesen, mit all dem unsagbaren Leid, das den Menschen durch zwei mörderische Kriege, durch Notzeiten und durch die deutsche Diktatur des Nationalsozialismus aufgeladen worden ist. Käthe Kollwitz, eine deutsche Jahrhundertfigur, hat daraus eine klare Konsequenz gezogen. Als Künstlerin wollte sie öffentlich, mitten in der Gesellschaft für das Gute wirken. Sie hat sich in unmissverständlicher Deutlichkeit zur Weimarer Republik bekannt, zum Sozialstaat und zur internationalen Versöhnung nach dem Desaster des Ersten Weltkriegs. Käthe Kollwitz war eine aufrechte Demokratin, vor ­allem aber eine unermüdliche Mahnerin für den Frieden. Ihr »Nie wieder Krieg!«-Plakat wurde zur Ikone der Friedensbewegung der 1920er Jahre. Die Zeitgenossen erlebten die Kollwitz als Anklägerin gegen jeden verlogenen Heroismus, gegen jede Kriegsverherrlichung. Sie zog damit auch die Summe aus ihrem eigenen Familienschicksal: Im Sommer 1914 hatte sie ihren noch minderjährigen Sohn Peter als Kriegsfreiwilligen an die Front gehen lassen, gegen den erklärten Willen ihres Mannes. In Flandern war er am 30. Oktober gefallen. Ein Leben lang hat sich Käthe Kollwitz mit dieser persönlichen Katastrophe ausein­ andergesetzt – bis hin zu ihrer letzten Skulptur von 1944, den »Wartenden Soldatenfrauen«. Da war inzwischen auch ihr ­Enkel Peter gefallen. Käthe Kollwitz hatte nach 1933 das Scheitern 8

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i­hres Kampfes für Humanität und Frieden und eine zweite, noch schlimmere Kriegskatastrophe erleben müssen. Nach 1945 ist die Künstlerin dann zur Symbolfigur für das andere, dem Friedensgedanken verpflichtete Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworden. Ihre Werke und ihr pazifistisches Vermächtnis gingen ins öffentliche Gedächtnis ein. Viele Schulen und Straßen sind nach ihr benannt worden. Die deutsche Einigung machte es dann möglich, dass sich posthum ihr Wunsch nach politisch-moralischer Wirkung erfüllen konnte: Ihre Skulptur »Mutter mit dem toten Sohn« ist auf Initiative von Helmut Kohl seit 1993 in der Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft (Neue Wache, Berlin) zur Symbolfigur geworden. Zwischen den Gesichtern unserer »Straße der Erinnerung« darf das gütige, sorgenvolle der Käthe Kollwitz nicht fehlen. Sie gehört in die Mitte jenes »anderen Deutschland«, das fast ein halbes Jahrhundert lang vergeblich mahnte, die Deutschen sollten statt sinnloser Großmachtträume lieber praktische Humanität einüben. Die Ideale der Kollwitz von Demokratie, Sozialstaat und einem friedensstiftenden Deutschland sind heute Wirklichkeit. Umso mehr tun wir gut daran, die große Frau zu ehren, die als Künstlerin dafür gekämpft hat.

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Dr. Helmut Kohl Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland 1982–1998

Grußwort

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Es ist mir eine Freude und Ehre, anlässlich der Aufnahme von ­Käthe Kollwitz in die »Straße der Erinnerung« der Ernst Freiberger-­ Stiftung am Spreeufer in Berlin ein Grußwort für den vorliegenden Begleitband zu schreiben. Mit meinem Grußwort möchte ich zunächst die Initiative der Ernst Freiberger-Stiftung würdigen, am Spreeufer in Berlin für jedermann zugänglich eine »Straße der Erinnerung« mit Denkmälern herausragender Persönlichkeiten unseres Landes geschaffen zu haben und zu gestalten. Gewissermaßen im Vorbeigehen werden hier Menschen und ihr Lebenswerk in Erinnerung gerufen, die auf ganz unterschiedliche Weise für uns über den Tag hinaus Bedeutung erlangt haben. Es ist eine interessante Auswahl der »Helden ohne Degen«, die hier getroffen wurde, und es ist in unserer Hauptstadt Berlin zugleich ein weiterer, eigenständiger Beitrag für die deutsche Erinnerungskultur. Darüber hinaus freue ich mich auch ganz persönlich über die diesjährige Wahl. Nach Edith Stein hat jetzt als zweite Frau die berühmteste deutsche Bildhauerin des 20. Jahrhunderts, Käthe Kollwitz, Aufnahme in die »Straße der Erinnerung« gefunden. Wie wenige Künstler verkörpert Käthe Kollwitz mit ihrem Werk bis zum heutigen Tage die zentrale Erkenntnis: Nie wieder Krieg! Es sind zwei Skulpturen, die dies in besonderer Weise ausstrahlen. Da ist zum einen »Die trauernden Eltern« – das Mahnmal für die im Krieg gefallene Jugend, das Käthe Kollwitz ausgelöst durch den Kriegstod ihres jüngeren Sohnes Peter im Ersten Weltkrieg beginnt und an dessen Fertigstellung sie bis Anfang der 30er ­Jahre arbeitet. Das Denkmal steht seit 1932 auf einem Soldatenfriedhof in Belgien – dort, wo ihr Sohn 1914 gefallen ist und begraben liegt. Da ist zum anderen die »Mutter mit totem Sohn«, die auf meine Initiative hin nach heftigen Diskussionen 1993 etwa lebensgroß in der zur Zentralen Gedenkstätte unseres Landes zur Erinnerung an die Toten von Krieg und Gewalt­herrschaft umgestalteten Neuen Wache von Karl Friedrich Schinkel am östlichen Ende der Straße Unter den Linden aufgestellt wurde. Für mich war es wichtig, dass die zu schaffende Zentrale Gedenkstätte unseres Landes zur Erinnerung an die Toten von Krieg und Gewaltherrschaft auch die Mutter, die Witwe, die Hinterbliebenen umfasste und also über ein Mahnmal für den gefallenenen Soldaten hinausging. Es sollte ein Ort des Gedenkens, der Mahnung, des Nachdenkens und der Besinnung entstehen mit Schmerz und Trauer als Ausgangspunkt. Ich war damals und bin bis heute zutiefst überzeugt, dass die Skulptur »Mutter mit totem Sohn« von 12

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GruSSwort

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Käthe Kollwitz genau das ausdrückt und umfasst, was wir mit der Zentralen Gedenkstätte zum Ausdruck bringen wollten. Die »Mutter mit totem Sohn« ist von großer Ausdruckskraft. Sie gibt mit großer Eindringlichkeit Nachricht von einer menschlichen Grundsituation, ohne sentimental zu wirken. Die Trauer der Mutter drückt auch mehr aus als Schmerz. Sie erinnert daran, dass wir gerade angesichts der Unmenschlichkeit und der syste­ matischen Menschenvernichtung im 20. Jahrhundert, in dem gerade auch im deutschen Namen soviel Leid und Unrecht über die Menschen gebracht wurde, die Pflicht haben, uns die personale Würde des einzelnen zu vergegenwärtigen. Der Glaube an das Unzerstörbare des Individuums ist der Kern aller religiösen und philosophischen Traditionen, auf die sich unsere abendländische Kultur beruft. Und so vergewissern wir uns auch eines Erbes, das Menschlichkeit stiftet. Und so drückt die »Mutter mit totem Sohn« – hier zugleich stellvertretend für das Lebenswerk von Käthe Kollwitz – auch Hoffnung aus auf die unzerstörbare Humanität. Mit der Botschaft ihres Lebenswerks »Nie wieder Krieg« ist ­Käthe Kollwitz zeitlos aktuell. Ich sage dies einmal mehr mit Blick auf die andauernden Diskussionen in und über Europa. Auch wenn mancher heute Frieden in der Mitte Europas leichtfertig als abgesichert ansieht, gilt doch in Wahrheit: Frieden ist nie eine Selbstverständlichkeit. Die bösen Geister der Vergangenheit können immer wieder zurück­kommen. Das heißt: »Nie wieder Krieg« bleibt zentrale Aufgabe. Und das heißt auch: Europa bleibt eine Frage von Krieg und Frieden. Nutzen wir also die Krise als Chance, weiter voranzukommen, und machen wir, alle, unsere Hausaufgaben. Denn nur das geeinte Europa gibt uns die Chance auf dauerhaften Frieden und Freiheit und stärkt uns im globalen Wettbewerb sowie als Partner in der Welt. All dies unterstreicht eindrucksvoll, warum das Denkmal von Käthe Kollwitz für die »Straße der Erinnerung« eine hervorragende Wahl ist. Ich gratuliere der Ernst Freiberger-Stiftung zu dieser Entscheidung und wünsche für die nunmehr fast vollständige »Straße der Erinnerung« der Stiftung und allen Mitwirkenden vor allem viele Besucher und Passanten. Mit freundlichen Grüßen und allen guten Wünschen

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Gudrun Fritsch Lebensbilder – Käthe Kollwitz in ihrer Zeit

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Die Ostpreußin Käthe Kollwitz, die als Achtzehnjährige in die kaiserliche Hauptstadt Berlin gekommen war, um hier in einer »Malweiber«-Ausbildungsstätte die Techniken der modernen Grafik zu studieren, entwickelte sich zu einer der herausragenden Künstlerpersönlichkeiten, deren Werk bis heute nichts von seiner Wirkungsmacht auf die Menschen eingebüßt hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchte sie gemeinsam mit ihrem Künstlerkollegen Ernst Barlach außerhalb des Hauptstroms Expressionismus die Wirklichkeit ihrer Zeit in offener und unverhüllter Stellungnahme darzustellen. Vor genau 100 Jahren – die Künstlerin stand im Zenit ihres grafischen Könnens – empfand sie ihren Lebensweg »glimpflich und wenig schmerzlich«, wie sie es in ihren autobiografischen Aufzeichnungen benennt. In diesem Zusammenhang erwähnt sie auch ihre bescheidenen, jedoch auskömmlichen Jahreseinkünfte mit ihrer Kunst. Von entscheidender Bedeutung wird für sie die fast ausschließliche Arbeit am plastischen Gestalten, dem sie sich mit großer Leidenschaft zuwendet. Und das mit allen künstlerischen Selbstzweifeln und illusionslos, wie sie in ihrem Tagebuch Ende September 1913 anmerkt: »Mitunter kommt es mir vor, als ob es glücklich für mich träfe, daß mein Beginn des plastischen Arbeitens in eine Zeit der Aufhebung der alten Werte fällt.«1 Wenig später sollte die Aufhebung aller Werte mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges Wirklichkeit werden. Den biografischen Entwicklungsphasen der Künstlerin folgend, soll hier ihre Lebensmaxime nachgezeichnet werden, die auf einen Ausspruch ihres Großvaters rekurriert und lautet: »Eine Gabe ist eine Aufgabe« und: »Ihr Talent ist ihr Schicksal«. Darüber hinaus werden Gedanken weiterer auf die Künstlerin einwirkender Förderer reflektiert, die kurioserweise alle den Vornamen Max tragen: Max Klinger (1857–1920), Max Lehrs (1855–1939), Max Liebermann (1847–1935) und Max Osborn (1870–1946). Ging es schon dem Großvater, Julius Rupp (1809–1884) und den Eltern, Carl Schmidt (1825–1898) und Catharina Schmidt, geb. Rupp (1837–1925) darum, das Talent des Mädchens Käthe – Kosename Katuschchen – mit allen ideellen und materiellen Mitteln zu fördern, zeigt sich im Verlauf der Vita, dass die angebotenen Möglichkeiten optimal genutzt wurden: Die Lebensbilder der Künstlerin stehen exemplarisch für Schicksal und Wirkung des aufgeklärten, liberal und fortschrittlich denkenden Teils des deutschen Bürgertums: »Der Künstler ist meist ein Kind seiner Zeit,

Käthe Kollwitz, Selbstbildnis, 1912, Radierung

Käthe Kollwitz, 1910

1  Käthe Kollwitz: Die Tagebücher, hrsg. v. Jutta Bohnke Kollwitz, Berlin 1989, (September 1913), S. 129.

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besonders, wenn seine eigene Entwicklungsperiode in die Zeit des frühen Sozialismus fällt. Meine Entwicklungszeit fiel in die Zeit des frühen Sozialismus«2, so fasste es Käthe Kollwitz selbst auf, als sie 1943 von einem nationalsozialistischen Verächter ihrer Kunst zu einer Stellungnahme aufgefordert wurde.

Jugend in Königsberg – heute Kaliningrad

Julius Rupp, etwa 1840

Carl und Catharina Schmidt, geb. Rupp, etwa 1860

2  Beate Bonus-Jeep, Sechzig Jahre Freundschaft mit Käthe Kollwitz, ­Boppard 1948, S. 308–310. 3  Kollwitz, Tagebücher (wie Anm. 1), S. 735. 4  Ebd., S. 750.

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Aufgewachsen als Käthe Schmidt ist sie in Königsberg in einer Umgebung, die freiheitlich gesonnen ist und in der man unbeirrt von staatlichen und kirchlichen Autoritäten nach den eigenen Überzeugungen lebt. Es wäre verfehlt, diese ungebrochene Eigenwilligkeit als lautstark verkündete Widerständigkeit und aufrührerische Renitenz misszuverstehen. Die Künstlerin selbst schildert 1923 die Umstände ihrer Kindheit und Jugend detailliert in ihren für den Sohn Hans (1892–1971) niedergeschriebenen Erinnerungen mit dem Resümee: »Wir wuchsen wohl still auf, aber in fruchtbarer und gehaltvoller Stille.«3 Ein Blick auf das Leben und Werk der für Kollwitz signifikanten Persönlichkeiten vermittelt eine Vorstellung von der Konstellation jener »fruchtbaren und gehaltvollen Stille«, von der aus sich ihr Werdegang entfaltet. Ihr Großvater, Friedrich Julius Rupp, hatte Philosophie und Theologie studiert. Als Lehrer, Privatdozent und Divisionspfarrer tätig, war er 1862/63 Abgeordneter der Fortschrittspartei im Preußischen Abgeordnetenhaus. Nach seiner Amtsenthebung 1845, aufgrund nicht staats- und kirchenkonformer Äußerungen in der Öffentlichkeit, trat er mit etwa zweitausend solidarischen Anhängern aus der Landeskirche aus und gründete Anfang 1846 die Freie (evangelisch-katholische) Gemeinde in Königsberg. Die Versammlungen waren bis 1858 illegal, so dass sowohl Rupp als auch die einzelnen Mitglieder des Öfteren mit Geld- und Haftstrafen belegt wurden. Käthe Kollwitz umreißt 1942 in ihren Aufzeichnungen deren Credo so: »Die […] Gemeinde stand auf dem Boden des Urchristentums. Die Lehre von Jesus war das Fundament […] Philosophisch schloss sie sich an Kant an.«4 Zu Rupps Vorstellungen von der urchristlichen Gemeinde gehörten auch »das brüderliche Du, der gemeinsame Besitz«. Neben Rupps Überzeugung von der moralischen Notwendigkeit der Bruderschaft aller Menschen, die folgerichtig mit dem Gedanken von sozialer

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Gerechtigkeit und der Gleichstellung von Mann und Frau einherging, war der Gedanke des Völkerfriedens ein wichtiges Element seines religiös-philosophischen Systems. Der Vater von Käthe Kollwitz, Carl Schmidt, fügte der religiös motivierten Ethik seines Schwiegervaters, dem er freundschaftlich eng verbunden war, eine politische Komponente hinzu. Er hatte ursprünglich Jura studiert und 1853 nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst wegen seiner Zugehörigkeit zur Freien Gemeinde das Maurerhandwerk erlernt. Nach bestandener Meisterprüfung ab 1859 erfolgreicher Bauunternehmer, begann er 1875 ein Studium der Philosophie und Religionsgeschichte, um dann das Predigeramt in der Königsberger Freien Gemeinde und in Tilsit von Julius Rupp zu übernehmen. Carl Schmidt hatte sich bereits 1848, noch als Jura-Student, des Öfteren als Redner in öffentlichen Versammlungen hervorgetan. 1849 war er nach Ungarn gegangen, um sich den dortigen Freiheitskämpfern anzuschließen, wurde jedoch bald nach dem Grenzübertritt in Österreich festgenommen und erst nach längeren Verhandlungen in die Heimat abgeschoben. Neben seiner aktiven Teilnahme am Leben der Freien Gemeinde, war er Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, engagierte sich in dem von ihm mitbegründeten Handwerkerverein und – als Mitglied der Forschrittspartei – in politischen Versammlungen. Seine Beschäftigung mit sozialen Problemen intensivierte sich, so dass es nur konsequent erscheint, dass er 1887 gemeinsam mit seinem Sohn der Sozialdemokratischen Partei beitrat.5 Die folgenreichste Auswirkung der liberalen und unkonventionellen Geisteshaltung des Vaters auf den Lebensweg der Tochter besteht in der Tatsache, dass er nicht nur ihre künstlerische Begabung erkennt, sondern auch alles dafür tut, ihr eine professionelle Ausbildung zu ermöglichen. Sein Engagement ist vor dem Hintergrund, dass jungen Frauen bis dato der Zugang zu Kunstakademien verwehrt ist, nicht hoch genug zu schätzen. Zur Mutter, Catharina Schmidt, älteste Tochter von Julius Rupp, gab es ein ungewöhnlich »entrücktes Verhältnis«: »Auf die Mutter besinne ich mich aus jener Zeit gar nicht. Sie war da, und das war gut. [….] Aber das schwere Leid ihrer frühen Mutterzeit, dem sie sich nie hemmungslos hingegeben hat, hat wohl bewirkt, daß sie etwas von der Entferntheit der Madonna an sich gehabt hat. Vertraute, Kameradin, Genossin ist unsere Mutter nie gewesen.«6

Käthe Kollwitz als Kind, um 1872/73

Käthe Kollwitz, um 1917

5 Zur Biografie von Carl Schmidt vgl. Sozialistische Monatshefte 1898, 244ff., sowie Kollwitz, Tagebücher (wie Anm. 1), S. 758 (Anm. d. Hrsg).

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Carl Schmidt, verschollenes Gemälde von Käthe Kollwitz, um 1890

6  Kollwitz, Tagebücher (wie Anm. 1), S. 721. 7  Ebd., S.725. 8  Ebd., S.722.

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»Da ich Lüge der Mutter gegenüber nicht kannte, auch nicht Ungehorsam, meinte ich, wenn ich täglich der Mutter Bericht über meinen Tag erstattete, würde ich an ihrem Mitwissen eine Stütze haben. Aber sie schwieg, und so schwieg ich auch.«7 Käthe spricht von ihr mit Respekt, und in ihren frühkindlichen Entwicklungsjahren empfindet sie große Trennungsangst: »Meine Liebe für die Mutter war in jenen Jahren besorgt und zärtlich. Immer fürchtete ich, sie könnte verunglücken. Badete sie, auch nur in der Wanne, so fürchtete ich, sie könnte ertrinken. Einmal stand ich am Fenster, es war die Zeit, als die Mutter zurückkommen sollte, ich sah sie auf jener Seite der Straße kommen, aber ohne nach unserem Haus hinzusehen, mit dem ferngerichteten Blick, den sie hatte, ruhig weitergehen die Königstraße herunter. Wieder diese schwere Angst im Innern, sie könnte sich verirrt haben und nicht mehr zurückfinden! – Dann Angst davor, die Mutter könnte wahnsinnig werden.«8 Ab 1919 lebt die Mutter im Hause der Kollwitz-Familie in Berlin, und die Erwähnungen über die alternde Dame sind liebevoll bis hin zur Schilderung ihrer geistigen Verwirrung. In deutlichem Gegensatz zur Mutter-Tochter-Beziehung stellt sich das Zusammenspiel zwischen der jüngeren Schwester Lise (Lisbeth Schmidt, verheiratete Stern, 1870–1963) und Katuschchen dar. Den Erinnerungen von 1923 ist zu entnehmen: »Ich weiß noch, wie ich einmal aus der Nebenstube ganz beglückt den Vater zur Mutter sagen hörte, wir seien alle beanlagt, am meisten aber wohl der Konrad. Ein andermal sagte er etwas, woran ich sehr lange zu fressen hatte. Er hatte eine Zeichnung von Lise gesehen, die ihn erstaunte, da sagte er zur Mutter: die Lisuschen wird die Katuschchen bald eingeholt haben. Damals empfand ich vielleicht zuerst in meinem Leben, was Neid und Eifersucht heißt. Ich liebte die Lise sehr. Wir hingen engstens zusammen, ich gönnte ihr auch ein Vorwärtskommen bis an die Grenze, wo ich anfing, darüber hinaus wehrte sich in mir alles. Ich mußte immer einen Vorsprung haben. Diese Eifersucht verließ mich durch Jahre nicht. Als ich in München studierte, war davon die Rede, daß Lise hinziehen sollte. Ich hatte widerstrebendstes Empfinden, Freude auf sie und zugleich die Befürchtung, sie könnte mein Talent durch das ihre und meine Person durch die ihre in Schatten stellen, gingen in mir hin und her. Es wurde aus ihrem Hinkommen übrigens nichts, sie verlobte sich damals und hat eine gründliche Ausbildung nie erfahren. Wenn ich mich jetzt

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